Als zu niedrig kalkuliert wurde die Höhe der Hartz-IV-Regelleistungen dieser Tage wieder einmal kritisiert. Die 416 Euro pro Monat für einen Alleinstehenden sind angeblich abgeleitet worden aus den statistisch ermittelten Ausgaben der untersten 20 Prozent der Bevölkerung. Sagt die Regierung. Stimmt aber nur teilweise, denn hätte man das richtig gemacht, dann müsste man eigentlich auf einen Betrag von 571 Euro kommen. Die erhebliche Differenz von 155 Euro ergibt sich aus einer Verkleinerung der angeblichen 20 Prozent, aus willkürlich daherkommenden Kürzungen an zahlreichen Ausgabenposten sowie durch die Nicht-Ausklammerung der „verdeckt“ Armen – also von Menschen, die eigentlich Anspruch auf Grundsicherungsleistungen hätten, diese aber gar nicht beziehen. Dazu zählen etwa 40 Prozent der Bedürftigen. Im Ergebnis bekommt man schlussendlich die politisch gewünschten Beträge.
Also müsste man Hartz IV erhöhen. Eigentlich. Aber dagegen sprechen im bestehenden System mehrere Gründe, die den Widerstand gegen eine Erhöhung zu einer uneinnehmbar wirkenden Burg werden lassen. Das wichtigste Motiv für die Abwinker sei hier gleich genannt – legt es doch auch den Finger auf eine offene Wunde, die von vielen Menschen, die an sich nicht von Hartz IV betroffen sind, noch nicht einmal wahrgenommen wird. Denn eigentlich müssten alle mehr Geld in der Tasche haben, wenn Hartz IV richtig berechnet werden würde – weil die Höhe der Grundsicherungsleistungen nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts als Maßstab für das Existenzminimum den steuerfreien Grundfreibetrag in der Einkommenssteuer bestimmt, von dem alle Steuerzahler profitieren. Mehr als 15 Milliarden Euro Steuerausfälle würde eine eigentlich notwendige Erhöhung der Hartz-IV-Sätze kosten. Mindestens. Zudem wären natürlich die Mehrausgaben bei Hartz IV selbst in Rechnung zu stellen – in einem System, das bereits heute mehr als 42 Milliarden Euro umfasst. Wenn sich ansonsten nichts ändert, dann wären zahlreiche Arbeitnehmer, die heute im Niedriglohnsektor arbeiten, neue und zusätzliche Kunden des Systems: als Aufstocker, weil ihre Einkommen dann unterhalb der Bedarfsschwellen lägen.
Da wären wir bei einem zweiten zentralen Verteidigungswall der Hartz-IV-Befürworter, für die es nicht nur um potenzielle Einnahmeausfälle geht: Die Nicht-Anhebung ist eine zwingende Notwendigkeit, wenn man den „schönsten Niedriglohnsektor der Welt“ (so einst Gerhard Schröder in Davos) in seinem Gefüge nicht erschüttern will. Denn sollte Hartz IV so steigen wie eigentlich angezeigt, dann würde es einen ganz erheblichen Lohndruck nach oben im Niedriglohnsektor geben müssen. Vor allem dann, wenn man gleichzeitig dem Bestreben vieler Kritiker des Hartz-IV-Systems nachkommen würde, die Sanktionen weitgehend abzuschaffen, die ja als Kürzung eines Existenzminimums an sich fragwürdig sind, die aber im bestehenden System eine zentrale Disziplinierungsfunktion haben. Und sei es als Damoklesschwert über den Köpfen der Betroffenen.
Eine richtig bemessene Anhebung der Grundsicherung hätte also nicht nur den wichtigen individuellen Effekt einer unmittelbaren Verbesserung der Lebenslagen der Betroffenen. Aber man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass nur „die da oben“ ein multiples Interesse daran haben, diesen Schritt zu blockieren. Die Widerstände sind auch im unteren und mittleren Einkommensbereich ausgeprägt. Nicht nur, aber eben auch, weil man hier darauf sozialisiert wurde, die eigenen Frustrationen weniger nach oben als nach unten zu lenken. Das wird deutlich erkennbar an der aktuell wieder hervorgehobenen Debatte über die Frage, ob es sich überhaupt „lohnt“, arbeiten zu gehen, wenn die Differenz zum „leistungslosen“ Einkommen nur gering ist.
Das höchst problematische Element in diesem Narrativ besteht zum einen darin, dass hier Äpfel mit Birnen verglichen werden. Denn wenn Niedriglöhne keine Existenzsicherung ermöglichen, vor allem in Bedarfsgemeinschaften, dann ist das erst einmal ein Problem der Löhne und nicht der Leistung zur Sicherung des Existenzminimums. Nicht ohne Grund ist das frühere „Lohnabstandsgebot“ zwischen Sozialhilfe und unteren Löhnen schon vor Jahren abgeschafft worden, gleichsam als logische Konsequenz des „besten Niedriglohnsektors“. Aber natürlich würde bei höheren Regelleistungen das Anreizproblem für schlecht bezahlte Jobs vergrößert werden – was man ja umgekehrt als Argument für eine Erhöhung verwenden könnte.
Mitten im Verteilungskampf
Zum anderen sind die vielen erwerbstätigen Betroffenen, die bereits heute nur knapp oberhalb der Bedarfe im Grundsicherungssystem liegen, tatsächlich von unter Gerechtigkeitsaspekten schwierigen Folgen der „Sprungstellen“-Problematik betroffen, also der Tatsache, dass zahlreiche Vergünstigungen wie Gebührenbefreiungen oder Sozialtickets an den Status SGB-II-Leistungsbezieher gebunden sind und mit einem Schritt aus dem Hartz-IV-System vollständig wegfallen.
Die Blockierer einer an sich notwendigen Erhöhung der Leistungen instrumentalisieren geschickt die weit verbreiteten Vorbehalte gegen Zuwanderung für ihre Absichten – mit entsprechender Resonanz bei denjenigen, die sich tatsächlich in einem harten Verteilungskampf mit den Zuwanderern befinden, nicht nur um Sozialleistungen, sondern auch um Wohnraum und Niedriglohnjobs. Man muss die Tatsachen zur Kenntnis nehmen: Im Januar 2018 befanden sich 968.012 Regelleistungsberechtigte im SGB II, die aus einem der nicht europäischen Asylherkunftsländer kamen. Das waren mehr als 16 Prozent der Hartz-IV-Empfänger. Auch wenn es einem nicht gefällt: Nicht einfach vom Tisch zu wischen wäre der Hinweis auf einen möglichen „Sog-Effekt“ höherer Leistungen im Grundsicherungssystem innerhalb der EU angesichts der massiven Wohlstandsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten. Das kann man bereits heute in vielen Großstädten besichtigen.
Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, dass wir bei aller Kritik über die Existenzsicherung von Millionen Menschen reden, erscheint die derzeit immer wieder vorgetragene Forderung nach einer „Abschaffung von Hartz IV“ illusionär. Auch wenn es defensiv erscheint – kein Weg führt derzeit an möglichst konkreten und damit auch bei politischem Willen durchsetzbaren Verbesserungen innerhalb des bestehenden Systems vorbei. Dazu gehören: eine endlich fachlich halbwegs korrekte Bemessung der Regelbedarfe im Hartz-IV-System. Die offensive Bearbeitung der beklagenswerten Tatsache, dass viele Leistungsempfänger aus ihrem kleingeschredderten Existenzminimum auch noch nicht gedeckte Unterkunftskosten übernehmen müssen (mehr als 600 Millionen Euro pro Jahr!). Die Abschaffung oder zumindest massive Einschränkung der Sanktionen. Eine großzügigere Pauschalierung der Leistungen mit einer entsprechenden positiven Deregulierung des hyperkomplexen Leistungsrechts im SGB II, das enorme Personalkapazitäten in den Jobcentern bindet. Ein Förderrecht, das auf freiwilliger Basis den Hartz-IV-Empfängern helfen kann, die wieder Fuß fassen wollen in der Erwerbstätigkeit. Das sind konkret adressierbare Verbesserungen, deren Ablehnung dann den schwarzen Peter dahin schiebt, wo er hingehört – zu den politischen Entscheidungsträgern.
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