Volker Rühe war der erfolgreichste deutsche Politiker der neunziger Jahre. Beruhigend ist das nicht. Aber keine schlechte Voraussetzung, um bis zum 20. März vielleicht noch zum besten Kandidaten der CDU für den Parteivorsitz gemacht zu werden. Schon am Sonntag zwischen 18 und 20 Uhr redete sich Rühe als Stabilisierer des CDU-Wählerpotenzials warm für den Endspurt, der zugleich die Positionen für den Kampf um die nächste Kanzlerkandidatur zuweist.
Anders als Angela Merkel machte dieser Kohl-Zögling seinen Aufstieg vor allem damit, dass er den Geist des Parlamentarischen Rates mit Füßen trat. Neben dem weitgehenden Verzicht auf den sozialen Charakter der Marktwirtschaft, der die zweite Hälfte der Ära Kohl kennzeichnet, gibt es v
gibt es vier Bereiche, in denen die Union mit den Lehren der Nachkriegszeit brach: individuelles Asylrecht, reine Verteidigungsarmee, Rechtsstaatlichkeit und Achtung vor dem Grundgesetz sowie, viertens, der Anspruch, zu einer würdigen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit zu gelangen. Stratege und Rammbock in einer Person war in diesen vier Bereichen jeweils Volker Rühe.Als Rühe Generalsekretär der CDU war ('89-'92) wurde in Deutschland »aufgeräumt«. Am 12.9.1991 verschickte er einen Rundbrief an alle CDU-Fraktionen, Orts- und Kreisverbände. Mit umfangreichen Anlagen: vorformulierte Beschwerdebriefe, Muster-Presseerklärungen und Muster-Anträge wegen angeblich unzumutbarer Belastung der jeweiligen Gemeinde mit Asylbewerbern. Gepünktelt waren die Stellen, wo der Name der Kommune und aktuelle Zahlen eingefügt werden mussten. Rühe forderte dazu auf, Kosten, die Asylbewerber der Kommune verursachten, zu recherchieren, oder ob etwa das Gemeindeleben beeinträchtigt werde, weil Flüchtlinge in einer Turnhalle untergebracht seien. Die CDU wollte die SPD auf allen politischen Ebenen für die Änderung des Asylartikels weichklopfen.Die Kampagne stärkte rechtsextremen Brandstiftern den Rücken: Rühe rüstete Skins und Neonazis geistig auf, so dass sie sich zu Verteidigern der Deutschen vor »Asylantenfluten« stilisieren konnten. In der Folge wurden junge deutsche Männer zu Mördern, Brandstiftern und begingen zu Tausenden Körperverletzung, wurden also Schwerkriminelle. Rühe agierte in dieser Kampagne wie ein computergesteuerter Bulldozer, dessen Programmierer den Befehl vergessen hat: »Anhalten, wenn ein Mensch im Weg steht«.Die flächendeckende Aktion erreichte ihr Ziel. Damit erhielten wesentliche Forderungen des Rosenheimer Programms der Republikaner (1990) am 26. Mai 1993 im Bundestag eine Zweidrittel-Mehrheit: Drittstaatenregelung, Beschleunigung der Asylverfahrens auf Kosten der Rechtstaatlichkeit, Umstellung von Geld- auf Sachleistungen (im den Rassismus outenden Volksmund: »Fresspakete«).Dabei ist Rühe kein dumpfer Ausländerhass oder gar Rassismus zu unterstellen. Ausländer waren ihm lediglich Verschiebemasse, Objekte seiner macht- und karriereorientierten Politik. Bei Rühe Überzeugungen zu identifizieren, die nicht pragmatischen Ursprungs sind, ist nicht einfach.Seit Ende 1992 Verteidigungsminister, setzte Rühe nun alles daran, seine Startposition im Kreis der potenziellen Kronprinzen zu verbessern. Zu diesem Zweck verband er Außen- und Militärpolitik. Dabei kam ihm gelegen, dass zu Beginn der neunziger Jahre, in einer Zeit der Entwurzelung großer Teile der Gesellschaft, der Politikertyp des Machers, des Manns, der Pfähle einrammt, gefragt war. »Decisions are taken by political players, not by political observers«, erklärte Rühe 1993 in Bezug auf die künftige außenpolitisch/militärische Rolle Deutschlands - und charakterisierte damit zugleich sich selbst. Weil Rühe das Militär für seine Karriere brauchte, war Friedensdividende für ihn kein Thema. Bereits am 26.3.1993 stellte er in London in einer Grundsatzrede eine Grundgesetzänderung in Aussicht, damit Deutschland im Rahmen von NATO, UNO und Europäischer Verteidigungsgemeinschaft an militärischen Einsätzen in Krisengebieten teilnehmen könne. Die Unterdrückung von Minderheiten und die Missachtung der Menschenrechte würden künftig nicht länger als innere Angelegenheiten angesehen. Der Unterschied zwischen »in and out of area« sei »artificial« geworden. Streitkräfte hätten eine »catalyst function«, die Vorstufen von Friede und Freiheit zu schaffen. Rühe forderte in dieser Rede eine globale und auf Militär gestützte Großmachtpolitik der westlichen Industriestaaten, wobei Deutschland in diesem Kreis ein wichtiges Mitspracherecht haben solle. Militärische Handlungsfähigkeit ist sein Leitwort: »The new multipolar world requires players capable of taking action.« Der Verteidigungsminister des Landes jahrzehntelanger vernunftorientierter Selbstbeschränkung stellte sich begeistert hinter die Fahnen der neuen NATO-Strategie.Einen Politiker zu fördern, der deutschen Militäreinsätzen so viel Gewicht beimisst, liegt im Interesse all der Ministerpräsidenten, für deren Länder Rüstungsproduktion wirtschaftlich eine wichtige Rolle spielt. Die Achse Stoiber-Rühe ist nicht nur in Gemeinsamkeiten bei der Ausländerpolitik begründet.In Bezug auf Europa forderte Rühe auf, alte koloniale Beziehungen für eine kreative Rolle Europas in einem globalen politischen Konzept zu nutzen: Großbritannien seine Beziehungen zum Commonwealth, Frankreich, Italien und Spanien zu den ehemaligen Kolonien in Afrika, Mittel- und Südamerika. »Germany as the central continental power but also bordering on the Baltic Sea promotes old and new ties with the countries of Northern, Central and Eastern Europe. We Europeans must take advantage of this unique constellation.« Während Angela Merkel Menschen und Ökosystem eher Handlungsfelder der Fürsorge sind, ist Rühe der Globus das Feld, auf dem er mit Konflikte nicht scheuenden Taten »Bewährung« sucht. Egoismus und Nationalismus gehen dabei Hand in Hand.Mit Rückhalt bei Wolfgang Schäuble, der das Grundgesetz während der neunziger Jahre zunehmend aggressiv zum Störer erklärte, wagte der Haudegen von der Hardthöhe es mehrfach, trotz rechtlich nicht gesicherter Grundlage, Soldaten in Krisengebiete zu schicken: Im Sommer 1993 hockten 240 deutsche Soldaten in Somalia, während in Karlsruhe über einen Eilantrag der SPD verhandelt wurde, sie sofort zurückzuholen. Rühe hatte das Parlament nicht beteiligt. Der Verteidigungsminister kam mit einem blauen Auge davon: Die Richter erklärten, der Bundestag müsse zustimmen, sie verordneten aber keine Rückholaktion. Die hätte der Regierung Kohl den Rücktritt wohl unvermeidbar gemacht. Die 240 Soldaten, die sich in einen unrechtmäßigen Einsatz schicken ließen, hätten mit Anklagen rechnen können. Ein Jahr später spielte Rühe wieder mit Soldaten Poker: Diesmal ging es um Awacs-Aufklärungsflugzeuge im Rahmen der NATO-Luftraumüberwachung in Bosnien-Herzegowina.Rühe baute auf solchen Aktionen sein Image als starker Mann auf. Dass er damit, wie zuvor in der Ausländer/Asylkampagne, den demokratischen Konsens, den der Respekt vor der Verfassung darstellt, brach und durch sein Vorbild andere zu Rechtsbrüchen geradezu ermunterte, nahm er nicht nur hin, sondern es war positiver Bestandteil des von ihm gepflegten Images, das er sehr konträr zum vermeintlichen Paragraphenfuchser, Außenminister Klaus Kinkel, baute.Das Image der Bundeswehr veränderte Rühe maßgeblich dadurch, dass er ihr neue unbefleckte Väter suchte. Im Einklang mit Kohl und Schäuble versuchte Rühe Anfang der neunziger Jahre den Widerstand gegen Hitler soweit wie möglich auf die preußischen Generäle um Stauffenberg zu reduzieren. Das entsprach dem politischen Ziel der Union, kritischen Geistern aus dem Volk auf keinen Fall historische Vorbilder zu lassen (Georg Elser, kommunistischer und kirchlicher Widerstand), sondern Politik als Spielfeld nur für die politische Klasse zu reservieren. Während die Sichtweise »Soldaten sind Mörder« vom Bundesverfassungsgericht und durch die Wehrmachtsausstellung bestärkt wurde, schuf Rühe eine Kontinuität vom auf Stauffenberg fokussierten Widerstand zur Bundeswehr - und zwar unmittelbar. Dass die Wehrmacht von den Alliierten besiegt wurde, verschweigt Rühe gern in seinen Reden. Zur »Wahrheit über die Wehrmacht« gehöre der militärische Widerstand gegen Hitler, erklärte er im März 1997 in der Wehrmachtsdebatte im Bundestag, er sei bewusst in Berlin in den Bendlerblock gezogen. Verbrechen habe der Nationalsozialismus begangen. Hilfe erhielt er bei der Suche nach unbefleckten Vätern von Waigel. Auch in dieser Hinsicht steht die Achse Rühe-CSU.Die Instrumentalisierung Stauffenbergs war das wichtigste Element des neuen Images. Das Geschenk des Himmels, das Hochwasser im Oderbruch, kam hinzu: Dort, wo Kanther vermeintliche Fluten illegaler Einwanderer abwehrte, schützte die Bundeswehr die Deutschen in Not und wurde so - just als durch Tour-de-France-Gewinner Jan Ullrich Nationalstolz Konjunktur hatte - ebenfalls zum nationalen Helden.Aufklärung liegt dem Macher nicht. Den zahlreichen rechtsextremen Vorfällen in der Bundeswehr - die Einladung des Neonazis Manfred Roeder in die Hamburger Führungsakademie, rechtsextreme Gewaltvideos in den Kasernen Schneeberg und Hammelburg, das Bild des hakenkreuzgeschmückten Wehrmachtsgenerals Heinz Guderian, der die Widerstandskämpfer des 20. Juli an den Volksgerichtshof auslieferte, im Büro des Verbindungsoffiziers in den USA - solchen Problemen widmete sich Rühe höchst widerwillig. Hartmut Olboeter, für die Einladung Roeders mitverantwortlich, stieg unter Rühe sogar zum Personalchef der Hardthöhe auf. Falsche Traditionspflege war für ihn kein Redenthema, nicht mal am Rande. Er ärgerte sich über die Skandale, die er »Dummheit« nannte, war aber zu wenig kämpferischer Demokrat, dagegen anzugehen.Der Hamburger Rühe macht seinen Weg ohne starken Landesverband im Rücken. Er kalkuliert ohne Skrupel - und seine Rechnungen gehen oft auf. Er wagt viel, weiß aber ein blaues Auge rasch zum Sieg umzumünzen. Er hat Talent, glückliche Umstände beim Schopf zu packen. All dies begründet seinen Erfolg. Mit Volker Rühe als CDU-Chef würde der Rechtsruck nicht nur innerhalb der CDU ein atemberaubendes Tempo annehmen.
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