Die CDU hat sich nicht vom Führungs- und Geführtenprinzip gelöst, sie hat nur eine neue Vorsitzende. Auf dem Parteitag in Essen fand man ein Gefühl nicht: befreiende Wut auf Kohl, der die Partei - nur zu ihrem Besten - betrogen und an den Abgrund geführt hat. Oft dagegen dachte man an Brechts Satz: die Zukunft werde abhängen von der Bewältigung der Vergangenheit. Damals drückte sich die Adenauerzeit um die Trauerarbeit. Erst von Weizsäcker offenbarte 1985 in seiner 8.-Mai-Rede die "Niederlage" und den "Zusammenbruch" als "Befreiung". Die Ära Kohl war keine Unrechtsdiktatur, aber auch er täuschte die Geführten, die ihm blind vertrauten und sich ihm unterordneten, er manipulierte sie mit seiner Kriegskasse, die ihm Macht gab, und f&
Die Freiheit, geduckt zu gehen
CDU-PARTEITAG IN ESSEN Angela Merkel spricht eine erfrischende Sprache, aber sie sagt nichts Neues
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gab, und fügte der Partei mehrfachen Schaden zu. An dem sie noch lange tragen wird, und für den sie auch "Reparationen" zahlen muss. Wut auf Kohl wäre ein natürliches Gefühl, Mittel und Ausdruck von Befreiung. Stattdessen wurde die miefige fünfziger, sechziger Jahre-Kultur gepflegt: Was innerhalb der Familie geschieht, darüber redet man nicht. Auf jeden Fall ehrt man die Eltern.Die neue CDU-Vorsitzende Angela Merkel hat das begriffen, deshalb trieb sie die unverdrossenen Kohl-Anhänger mit einer expliziten Gruß- und Lobadresse an ihren Vorvorgänger in ihr eigenes Lager und stärkte geradezu mütterlich dem geprügelten Parteikind den Rücken. Kraftmeierisch baute sie die CDU vor Schröder auf: "Wir lassen nicht zu, dass die Linken sich die Deutungshoheit über Kohl anmaßen", "Die CDU lässt sich nichts über Stasiakten sagen", "wir müssen uns von niemand etwas sagen lassen, schon gar nicht von Herrn Ströbele", "das werden wir Schröder nicht durchgehen lassen" - mit solchen Anmaßungen, die der Basis das Gefühl gaben, geeint mit der Führung wieder der "Starke Mann" zu sein, erntete sie am meisten Beifall. Gezielt streichelte sie, Primo Levi verballhornend, das Elitebewusstsein der CDU: "Wer, wenn nicht wir! Wann, wenn nicht jetzt?"Kaum ein Redner, kaum ein Delegierter ließ Wut erkennen, forderte Aufklärung und Streit. Unter ihnen Rita Süssmuth und die sächsische Landtagsabgeordnete Veronika Bellmann. Die Delegierten, größtenteils Funktionsträger der Kommunal-, Landes- und Bundesebene, sahen kein Problem darin, dass Kohl sein Mandat behalten will, um sich vor dem Untersuchungsausschuss zu schützen: Es sei sogar seine Pflicht, schließlich hätten die Bürger ihn gewählt (Maria Liebek, Stadträtin in Salzkotten bei Paderborn); das sei sein Recht, außerdem sei es legal (ein Jurist, seit 1976 im Stuttgarter Landtag), Kohl habe die Vergehen ja nicht als Mandatsträger begangen, sondern als Parteipolitiker; noch sei seine Schuld nicht bewiesen... Unter 20 in diesem Punkt befragten Delegierten fand sich schließlich einer, Norbert Liermann, Geschäftsführer des Kreisverbands Mönchengladbach, der gestand, zwei Herzen in einer Brust zu haben. Nach dem Ende des Untersuchungsausschusses werde es problematisch für Kohl, schließlich sei er auch Teil des Gesetzgebers. Friedrich Merz, der neue Fraktionsvorsitzende, erklärte am Dienstag sogar vom Podium, der Abgeordnete Kohl solle sein Mandat behalten.Die CDU war in den neunziger Jahren so spitzfindig, Menschen, die ihr Recht auf Asyl oder Sozialhilfe zu bekommen versuchten, als "Missbraucher" des Grundgesetzes oder des Sozialstaats der Gewalt der Straße und der Gewalt des Gesetzgebers preiszugeben. Aber in Kohls eigennützigem Festhalten an seinem Mandat sieht die CDU keinen Missbrauch. Ganz zu schweigen von der verweigerten Wahrnehmung, dass Kohl die CDU missbrauchte, um selbst an der Macht zu bleiben. Empfinden die Mitglieder es, im tiefsten Winkel ihrer Seele, doch als schade, dass ihr Führer einen Schönheitsfleck hat und dass man das Führerbild nicht mehr aus vollem Herzen übers Sofa hängen kann?Kein Thema ist nach wie vor das vielfache Schweigen wider besseres Wissen bei Empfängern und Mittelsmännern. Die Frage wird, wenn überhaupt gestellt, auf die Spender verkürzt. - Heiner Geißler wusste 1989 von zwei schwarzen Zahlungen Kohls, sprach ihn darauf an und wurde deshalb auf dem Bremer Parteitag geschasst. Sein Wissen behielt er für sich, Kohl habe versprochen, dies käme nicht wieder vor, erklärte Geißler auf Anfrage am Rande des Essener Parteitags. Rita Süssmuth, die mit Geißler und Lothar Späth auf dem 89er Parteitag den CDU-Vorsitz Kohls beenden wollte (der sog. "Putsch"), war nicht eingeweiht. Das bestätigte sie selbst in Essen ebenso wie Geißler. Der frühere Generalsekretär nutzte also seine Chancen nicht, sondern ließ sich als Untertan von Kohl aus dem Amt werfen. Geißlers Nibelungentreue fällt bis heute niemand auf.Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller erklärte, Schäuble sei Unrecht geschehen. Er nannte ihn einen "politischen Sisyphus" - Sisyphus verbüßte eine Strafe für eine Tat, die die Götter als Frevel einstuften. Die Loyalitäten kreuzten sich, wenn man nach Schäuble fragte, der seinem einstigen Chef kriminelle Intrigen unterstellt. Alle meinten, jemand, der sich so verletzt fühle wie Schäuble, müsse das auch "mal rauslassen" können. Empörung über die "kriminellen Intrigen" wurde nicht geäußert. Die Macht Kohls über die CDU ist nach wie vor so groß, dass die Partei lieber ihren amtierenden Vorsitzenden opferte als ihren ruhenden Ehrenvorsitzenden - ein Opfer wurde zur Reinigung und zur Wiederherstellung des positiven Selbstbildes gebraucht. Sie schenkten ihm ein Laptop mit Homepage, auf dessen Foto er im Hemd, ohne Jackett, zu sehen ist, also als Pensionär.Schäuble, selbst alles andere als ein Unschuldslamm, war in der Partei immer Schäuble, vor dem man sich in Acht nehmen musste und in Acht nehmen muss. Peter Altmaier, MdB, erklärte so gar nicht wild, über Schäuble rede man besser in Ruhe auf dem Gang, da müsse man schließlich jedes Wort abwägen. Schäuble war nie "Wolfgang" - Kohl aber "der Dicke", "Kohl" und auch "Helmut". Die CDU hat ihr Untertanenverhältnis mit Kohl noch nicht aufgekündigt. Sie reflektiert die parteiinterne Herrschaftsbeziehung nicht einmal. Sondern sie hat es auf die neue Führung übertragen. Man "vertraue" ihr, sie habe aufgeklärt, was aufzuklären war, aber nun müsse man sich der Zukunft widmen.In Bezug auf den Spendenskandal und auf (blinde - aber dieses Adjektiv wurde nicht ausgesprochen) Loyalität hatte das Perfekt Hochkonjunktur auf diesem Parteitag. Es ging nicht "Zur Sache! CDU", wie das Motto hieß, sondern "die Sache" wurde mit Worten weit weg von möglicher Mitschuld gerückt - "ein Blitz aus heiterem Himmel" (Schäuble) - und sollte abgeschlossen werden. Die strittigen Punkte des Parteitags, Erhöhung des Mitgliedsbeitrags und Entlastung des Vorstands, wurden vom Tagungspräsidium alles andere als souverän, dafür aber umso autoritärer über die Bühne gebracht. Die kleinen Einwürfe der Basis waren so handzahm-unterwürfig wie dieser eines höchstens 30-jährigen Delegierten: "Es ist zu fragen, ob darüber nachgedacht werden sollte, eine Kommission zu beauftragen, eine Amtszeitbegrenzung für den Parteivorsitz zu prüfen. Das widerspricht dem Antrag des Bundesvorstands nicht, aber mir würden Sie eine große Freude damit machen." Als von Weizsäcker diese Forderung kürzlich in der FAZ vorbrachte, klang sie kerniger.Inhaltlich-konzeptionell ging es auch nicht "zur Sache": Was Schäuble, Merkel und Merz in ihren Reden sagten, der Inhalt der Essener Erklärung - das alles haben sie früher auch schon gesagt, Ähnlichkeiten mit Schäubles Tutzinger Rede zur Abschaffung des Sozialstaats (1996) sind sicher nicht zufällig. Die konzeptionelle Saft- und Kraftlosigkeit versuchte man mit Floskeln wie "Brücken bauen", "neue Wege suchen", "Verantwortung für spätere Generationen" und mit abstrusen Diffamierungen (was nicht mehrheitsfähig sei, sei unausgegoren - Angela Merkel) zu überspielen. Vom expliziten Bezug zum Christentum abgesehen hat Gerhard Schröder all das auf seinem Weg nach rechts auch schon gesagt - mit oft gleichen Wendungen. Er kann nicht die Urheberschaft behaupten, aber, da er nun die Regierung stellt, sehr viel besser den Platz. Für die CDU wird es eng. Falls sie weiter nach rechts rückt, was die Rede von Friedrich Merz, die Essener Erklärung und die auf dem Parteitag betonte Nähe zwischen Merz und Stoiber vermuten lassen, wird Schröder erneut nachrücken, in seinem Gefolge auch die Grünen und, irgendwann, die PDS.Merkel lullte die verstörte Basis während ihrer Rede geschickt immer wieder ein. Zwar ändere sich vieles rasant, absehbar seien lebenslanges Lernen und, weniger explizit: lebenslanges Arbeiten, aber eigentlich bleibe auch vieles immer gleich: Den ersten Zahn bekomme ein Kind erst nach sechs Monaten, der Mensch gehe pro Stunde nicht mehr als fünf Kilometer. Den Jargon der Eigentlichkeit und die Attitüde des Wurzelechten vertrat in der CDU bisher Schäuble. Nun tut es Merkel. Im dunklen Kostüm vor dunklem Hintergrund leuchtete ihr Gesicht jung und hell von der Leinwand, aber die Ähnlichkeiten mit Schäubles Tutzinger Rede sind unübersehbar.Der Neuanfang war nur personeller Art, und ob er in dieser Form von Dauer sein wird, wurde unterschiedlich bewertet. Die Frauen und Delegierten der Kommunal- und Landesebene bewerteten Merkels Fähigkeit, sich in der "Schlangengrube" (Zitat) zu halten, weit optimistischer als die Männer, die in irgendeiner Weise bei der erhofften nächsten Regierung dabei sein wollen. Peter Altmaier, ursprünglich für einen Übergangsvorsitzenden Biedenkopf, antwortete nach Konzept und Durchsetzungsfähigkeit Merkels befragt: "Man glaubt an den lieben Gott. Sie ist unvoreingenommen und offen, bereit, Risiken einzugehen, sie hat sich in der Spendenaffäre früh von Kohl abgewandt." Häufig hörte man die Antwort, in der Krise greife man auf eine Frau zurück, aber bis es "ernst" werde, sei sie verbrannt. Setzt sie die Arbeitsteilung des Parteitags fort - Merkel als Identifikationsfigur und Merz für die Sachfragen - wird sie bald entbehrlich.Wolfgang Schäuble sprach den frauenpolitischen Parteitag von Essen (1985) an, aber niemand die Urheberin dieser neuen CDU-Politik: Rita Süssmuth. Ihr fehlt die Hausmacht, die Kohl nach wie vor hat und die die Würdigung in einer Untertanenpartei erzwingt. Aber ohne Rita Süssmuths mutigen und beharrlichen Einsatz über viele Jahre wäre eine Frau als Vorsitzende bei der CDU nach wie vor undenkbar. Letztlich verdankt Merkel ihr neues Amt nicht ihren männlichen Gönnern Kohl und Schäuble, auch nicht nur der Gunst der Stunde, die eine Unbefleckte suchte, sondern dem Engagement Rita Süssmuths.Interessant ist ein Vergleich der Wegbereiterin und der Ankommenden: Merkel kann das brave Mädchen spielen, sie ist keine Feministin, war es auch nicht als Frauenministerin, sondern sie spielt die Rolle, bei gleicher Kompetenz den gleichen Anteil am Kuchen beanspruchen zu können wie ein Mann. Süssmuth dagegen verweigerte sich der Rolle des braven Mädchens, sie bekämpfte offensiv die Privilegien der Männer in der CDU, machte es sich daher in der Schlangengrube sehr viel schwerer. Aber sie veränderte den Horizont des Denkens innerhalb der CDU - nicht zuletzt durch das Quorum, über dessen Fortsetzung der Parteitag im kommenden Jahr beschließen wird. Die jüngsten Wahlen zum Fraktionsvorstand, aber auch die Aufstellung der Reserveliste für die Landtagswahl NRW, haben wieder vor Augen geführt, wie nötig der Anspruch dieser Mindestquotierung ist. Claudia Heber vom Bundesvorstand der Jungen Union fordert, das Quorum abzuschaffen. Frauen, die den Alltag in Land- und Bundestag aus eigenem Erleben kennen, wollen daran festhalten. Einige, wie Inge Gräßle (MdL), möchten die Quote auf 50 Prozent heben, andere wie Gabriele Wahle, Vorsitzende des Kreisverbands Borken (Westfalen), halten 30 Prozent für "ausreichend" und 50 Prozent für "fundamentalistisch". Wenn Angela Merkel sich auf Dauer behaupten will, muss sie das Quorum erhalten oder besser noch ausbauen. Verschleudert sie das politische Erbe Süssmuths, wird sie sich nicht halten können.
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