Ein atemloser Roman, wie geschaffen zur Dramatisierung für ein Zimmertheater. Auf der Bühne stünden nur die Mutter, diese Wahnsinns-Frau, ihre Tochter und der Eindringling: der Gerichtsvollzieher. Um so überfüllter wäre die Kulisse, abgestellt wären dort, Schaufensterpuppen gleich, der gemordete Bruder, die mutige, unschuldig-mitschuldige Großmutter, die mordlustigen Juel-Zwillinge, aus Gewinngier denunzierende Dorfhonoratioren, Marschall Pétain und seine Chargen. Lauter Akteure, inzwischen Tote, doch stets bereit und fähig, aus der Kulisse herauszutreten und die beiden Frauen in Trauer und Verzweiflung, Wut und Wahnsinn zu stürzen, ihren Geist zu okkupieren.
Vergangenheit ist Gegenwart in diesem Text, und deshalb braucht Lydie Salvayre
e Salvayres Roman "Das Gewicht der Erinnerung" nicht mehr lebendes Personal als nur diese drei Figuren, die sich in fortwährenden Monolog, Dialog und inneren Monolog ergießen, das heisst: Eigentlich reden nur zwei Personen. Der Gerichtsvollzieher, der zu Beginn den Pfändungsbeschluss verliest und dann nacheinander das armselige Inventar von Wohnraum, Schlafzimmern, Küche und Bad auflistet, ist eine nahezu stumme Person. Sie gibt vor, die intimen Geständnisse der Tochter nicht zu hören und den Wahnsinn der Mutter angesichts des Wahnsinns der Geschichte nicht wahrzunehmen. Er ist so seelenlos und kontaktabweisend wie "Herr Doktor Donque", der über die Wahnsinns-Frau sagt, sie sei ein "Fall", und ins Krankenblatt der Mutter schreibt: "Unmotiviertes Lachen, begleitet von aggressiven Interjektionen, die sich von einer psychotischen Persönlichkeitsstruktur herleiten." Beide Vertreter der etablierten Öffentlichkeit, der in der Kulisse stehende Arzt und der sich nahezu wortlos durch die Wohnung bewegende Gerichtsvollzieher, sind angesichts der Vitalität der Ver-rückten und ihrer lebensgierigen Tochter dröge Mickerlinge. Beide verstehen nicht, was sie sehen, und wirken wie kantige geruchslose Gegenstände in der stinkenden prölligen Wohnung, die die hochkomplexe Gedanken- und Lebenswelt der beiden Frauen kontrastiert.Der Gerichtsvollzieher personifiziert und aktualisiert durch sein Kommen die Gefahr, erneut Gewalt ausgesetzt zu werden, und bringt so die Frauen zum Reden. Der Mutter erscheint er als einer von Pétains Leuten. Sein Eindringen in die Wohnung eröffnet den Spannungsbogen: Wie wird er die Wohnung verlassen? Wird er gehen oder wird er die Frauen in die Flucht schlagen, wird er in den Zweikampf zwischen den Frauen und in ihre Monologe eingreifen und wie wird das alles ausgehen?Die Behausung der beiden Frauen, die gemeinsam von der Invalidenrente der Mutter - 3000 Francs monatlich - leben, ist noch grotesker als die bisher unübertroffene Wohnung der Frau Regula Amrain in Gottfried Kellers gleichnamiger Novelle (in: Die Leute von Seldwyla). Penibel listet der Gerichtsvollzieher auf: die Dichtungen des Kalimachos, kaputtes und zerschlissenes Mobiliar, Senecas Briefe an Lucilius über Ethik, ein Wandthermometer made in Italy, Texte von Cicero, Plutarch und Epiktet, "in Kupfer ziseliertes Blätterwerk mit springendem Reh im Hintergrund, wahrscheinlich wertlos; Fächer mit Rosenstiel, schwarzer mit Rosen bestickter Stoff, ovaler Holzbilderrahmen ...". Ohne auf die erschütternden Berichte der Frauen, ohne auf die irrwitzige Erscheinung der Mutter auch nur mit einem Wimpernzucken zu reagieren, fragt er ungerührt nach Kaufquittungen und dem Alter von Gegenständen. Nur zweimal zeigt er (menschliche) Reaktionen: Er setzt, auch mangels verbindlicher Vorschrift, das im Backrohr lebende Kaninchen nicht als Einrichtungsgegenstand auf die Inventarliste, und er läßt sich durch die sprachgewaltige Empörung der Mutter, die beiden Frauen hätten nicht mal genug zu essen, hinreißen zum Wort "Madame". Auf der drittletzten Seite des Romans. Diese erste Anrede leitet sofort die Katharsis ein.Doch zurück zu den Frauen, die sich so nah und zugleich verhasst sind, die sich gegenseitig subtil und offen peinigen, Angst voreinander haben und sich beschützen, die jede der andern mal Mutter mal Tochter sind, die beide an der Entschlossenheit der Großmutter schwer tragen und brüchig werden, die beide durch die Familiengeschichte und den Toten gehindert werden, ihr eigenes Leben zu leben, die beide die Klassiker der Antike zitieren und in wissenschaftlichen Termini abgeklärt-unbeteiligt über die eigene Psyche und die der anderen parlieren. Zwei Frauen, die zugleich so unterschiedlich sind, wie eine knapp 60jährige Mutter und eine 18jährige Tochter nur sein können.Die Mutter, in ihrem Wahnsinn klarsichtig und nicht zu irritieren, dreist und fordernd, provozierend und zart liebevoll, ist mit einem archaischen Überlebenswillen begabt, der in seiner Realitätstüchtigkeit am Schluß die Tochter und den Gerichtsvollzieher überrascht.Die Tochter dagegen ist vor allem ängstlich besorgt, den Fernseher vor der Pfändung zu retten. Von Filmen erhofft sie sich Auskünfte über das sie enorm interessierende, aber gänzlich weiße Feld "Sex und Liebe". Abends bietet er eine Traumwelt, nachdem sie wieder einen Tag mit der traumatisierten Mutter im Armuts- und Schamgefängnis der kleinen Wohnung durchgestanden hat. Konfrontiert mit der Schmach, dass der Gerichtsvollzieher Zeuge des Drecks und der Armut ihrer Wohnung wird, ihres eigenen Daseins und vor allem der stinkenden und unbeeinflußbar ver-rückten Mutter, sieht die Tochter für sich drei Möglichkeiten: die Mutter umzubringen, den Gerichtsvollzieher mit Höflichkeiten zu umgarnen oder aber wegzulaufen und die Tür hinter sich zuzuschlagen. Sie entscheidet sich für "Lösung Nummer zwei. Mit anderen Worten für die Vernunft. Mit anderen Worten für die Feigheit." Anders als Mutter und Großmutter fehlen ihr das unbedingte Beharren auf dem Recht zur Eigeninterpretation der Realität und der Mut, die eigene Sichtweise auf aussichtslosem Posten und mit vollem Risiko hinauszuposaunen. Die Tochter ähnelt in ihrer Hoffnung auf die magische Macht guter Manieren dem toten Bruder der Mutter, der glaubte, die rohen Juel-Zwillinge, die ihn schlugen, traten, beschimpften und bepinkelten, mit Sanftmut aufhalten zu können - während sie ihn langsam ermordeten. Spontan interpretiert zwar auch die Tochter das Kommen des Gerichtsvollziehers als "Hausfriedensbruch" zum Zwecke des "Diebstahls", aber zugleich erschrickt sie vor ihrer eigenen Radikalität, die sie vielleicht den Fernseher kosten könnte.Anders Mutter und Großmutter. Die Großmutter nimmt 1939 bis Kriegsende die aus Spanien geflüchtete Oppositionelle Filo bei sich auf. Als die Großmutter, eine Schneiderin, in der Dorfgaststätte Zeugin wird, wie die Honoratioren ein Denunziationsschreiben verfassen, reist sie in die Provinzhauptstadt, will bei Marshall Pétain persönlich gegen die Verleumdung intervenieren. Schon am Tor abgewiesen erfährt sie am eigenen Leibe die Brutalität der französischen NS-Sicherheitsleute. Nach dem ernüchternden Unternehmen nimmt sie kein Blatt vor den Mund, isoliert sich selbst, indem sie die Regierung Pétain immer wieder öffentlich verspottet. So rückt die Familie ins Blickfeld derer, die Macht gewinnen wollen, indem sie sich der Macht dienstbar erweisen: Die Juel-Zwillinge, Dorftölpel, die, um anerkannt zu werden, den Mord an einem Juden oder Widerständler glauben vorweisen zu müssen, quälen den Sohn der Großmutter - vor den Augen seiner sechsjährigen Schwester zu Tode.Die gibt ihrer renitenten Mutter die Schuld am Tod des Bruders. Die Großmutter zerbricht an diesem Mord, das Mädchen findet hernach "in diesem Totenhaus keinen Winkel, wo ich meine Träume hätte hinlegen können". Sie wird bald zur Erwachsenen, die Rücksicht gegen die eigene Mutter übt. Die Verbrechen der Vichy-Regierung aufzuklären, den Versuch der Mutter fortzusetzen, wird ihr Lebensprogramm - in einer Zeit, in der die Franzosen vergessen wollen. Dadurch wird sie in ihrem aufklärerischen Impetus zur Ver-rückten. Der Tod des Brudes am 13. März 1943 ist ihr Gegenwart, sie verliert ihre Arbeit, wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, in der ihre Tochter gezeugt wird, die ihrerseits ebenso verloren aufwächst wie sei selbst und auch erst eine Rolle findet, als sie die betreuende Mutter der eigenen Mutter wird. Die Familiengeschichte wiederholt sich.Die Tochter erlebt, dass sie selbst die gleichen Ängste entwickelt wie ihre Mutter, sie fürchtet, "allmählich" vom "Irrsinn" der Mutter heimgesucht zu werden - und kann sie doch nicht verlassen, um sich dem eigenen Leben zuzuwenden. Stattdessen versucht sie, die Mutter mit Tablettenüberdosen für Stunden "kaltzustellen", sie "unschädlich" zu machen, indem sie sie in ihr "Gemach" abschiebt, sie seelisch und körperlich zu quälen, um sich wenigstens für die Art ihres Lebens zu rächen.Die Monologe der beiden Frauen, ihre Gedanken und Dialoge sind nicht durch Absätze, Anführungszeichen oder Einführungen voneinander getrennt. Jede der Frauen hat die gesamte Geschichte in sich, wenn auch die Sichtweise verschieden ist. So wie Erdschichten sich bei einem Beben heben und ineinanderschieben, alle aus den gleichen Grundstoffen, unterschieden nur durch unterschiedliche Anteile der einzelnen Bestandteile, verschieden hart oder porös, so wälzt Lydie Salvayre den Roman voran, unaufhaltsam durch die Macht der Erinnerung. Nur manchmal unterbrechen eruptive Momente das Tempo und verändern die Richtung. Stilistisch ist so das sich qualitativ verändernde Kontinuum überzeugend dargestellt.Für die meisten deutschen Leser wird dieser Roman Neuland sein. Die Belastungen der folgenden Generationen auf der Opferseite sind in deutscher Literatur kaum thematisiert. Anders in israelischer, wo insbesondere Yoram Kaniuk mit seinem Roman Der letzte Jude einen Maßstab setzte. In Deutschland fragte die väter- und später müttersuchende Literatur der 68er nach den Erziehungsmustern, die die früheren Täter und Mitläufer an ihre Kinder weitergaben. Der Romanessay Kindheitsmuster von Christa Wolf ist nach wie vor der komplexeste Text dieses Genres. Der Hass der Kinder von Widerständigen auf ihre Eltern, die für Fremde das Leben der Familie riskierten, ist im Land der Täter tabu, der Stolz auf jeden, der sich dem NS-Regime widersetzte, patriotische Pflicht. Der in Frankreich preisgekrönte Roman von Lydie Salvayre macht vieles erlebbar, worüber vor allem in Deutschland zu wenig nachgedacht wird.Lydie Salvayre, Das Gewicht der Erinnerung. Aus dem Französischen übersetzt von Renate Nentwig. Klett-Cotta Verlag 1999. 205 S., 32,- DM
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