Zwei Schritte in den Raum, und man weiß nicht mehr, wo man die Luft zum Atmen herholen soll. Wohin man gucken könnte, um das Grauen nicht zu sehen. Vielleicht auf Schwester Betty, den einzigen Menschen hier, der Speck auf den Rippen hat. Speck unter dem blütenweißen Kittel und Speck im sorgfältig geschminkten braunen Gesicht unter den glatt zurückgekämmten schwarzen Haaren, die aussehen, als seien sie gebügelt. Stehende Hitze, Fliegen, Gestank. Die offenen Räume übervoll mit Menschen und doch fast lautlos. Die meisten Angehörigen sitzen draußen, im kurzen Schatten des Krankenhausdachs. Sie sind keine Besucher, sondern leben für Wochen hier, pflegen und versorgen, kochen und füttern ihre Kranken. Wer sich zu Hause um ihre
hre Kinder und Felder kümmert - wer weiß ...Unausweichlich ist der Gang durch das Krankenhaus auf der kenianischen Seite des Viktoriasees, bei Homa Bay. Unvermeidbar damit der Blick auf die Betten. Betten: Einen Meter breite Metallgestelle, kein Lattenrost, keine Matratze, sondern eine Art Sprungrahmen aus gedrehten Metallsträngen, die in großen Rauten zu einem Netz verbunden sind. Darauf liegen - Kopf an Fuß - je zwei ausgemergelte Gestalten - Menschen, deren Knochen so aus dem Körper staken, dass man fürchtet, sie würden die Haut durchbohren. So liegen sie, nur ein Tuch um die Hüften, den Oberkörper und den größten Teil der Beine nackt auf dem Metallnetz. Wunde Stellen, in denen sich Fliegen tummeln, überall am Körper, aber keine Kraft, die Fliegen zu vertreiben. Auch keine Verbände. Die Münder unter den erschöpften, fast leblosen Augen sind offen. "Lungenentzündung", sagt Schwester Betty, "Pilze. Die Familien bringen sie hierher, aber wir können ihnen nicht helfen. Wir haben keine Medikamente. Alle hier haben die Krankheit. Gegen die Krankheit kann man nicht helfen. Sie müssen sterben." Trotzdem gehen wir durch alle Räume, die Männer-, die Frauenabteilung, die Bilder sind gleich. Manchmal hat jemand ein 40 Quadratzentimeter großes Stück Schaumstoff unterm Steiß oder unter der Schulter. "Matratzen müssen sich die Patienten selbst mitbringen", erklärt Schwester Betty, "aber wer hat so viel Geld." Manchmal hängen kleine Waschbecken an den Wänden, doch niemand benutzt sie. Erstaunlicherweise sieht man nur die Porzellanbecken, darunter aber keinen Abfluss. Wie selbstverständlich folgt auf meinen Blick die aufmerksame Erklärung Schwester Bettys: "Wir haben im Krankenhaus gar kein fließendes Wasser. Die Frauen holen das Wasser vom Fluss."Hier, am Viktoriasee, nahe der Grenze zu Uganda und Tansania, ist die HIV- und Aids-Rate schon so lange hoch, dass man die sozialen und ökologischen Folgen sieht: Zerfallende Hütten, Felder, die wieder verwildern, Kinder und ganz Alte in den Dörfern. Wirtschaftliches Leben findet nicht mehr statt, es geht nur noch ums Überleben. Wer hier einen Mitarbeiter einstellt oder einen jungen Menschen ausbildet, hat eine Chance von zwei zu eins, dass er tatsächlich dauerhaft mit ihm zusammenarbeiten wird. Häufige Krankheiten und vor allem Gewichtsverlust werden sofort als Anzeichen der Krankheit gedeutet. Deshalb wird man nicht entlassen, aber beobachtet.Es gibt Entwicklungshilfeprojekte zur Vorbeugung gegen HIV-Infektionen. Im Zentrum eines Projekts der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) stehen Krankenschwestern, die ehrenamtliche Helfer aus den Dörfern ausbilden und - besonders wichtig: - bei der Stange halten, damit sie als Community Based Distributers (CBD) die Menschen beraten und neben der Pille auch Kondome verteilen. Theater- und Musikgruppen stellen bei Dorffesten in Anwesentheit des Chiefs die Gefahren von Promiskuität dar, den Zerfall der Familie durch Aids. Die Menschen applaudieren. Die Krankheit wird am Viktoriasee nicht tabuisiert.Aber die Entwicklungshilfe löst die Probleme nicht. Die Geburtenrate hier lag vor ein paar Jahren bei 6,8; inzwischen bei 4,1, immer noch viel zu hoch, obwohl der Boden gut ist und viele Menschen ernähren kann. Viele sind arm, und groß ist die Verlockung für die Männer, in Uganda, Tansania oder in Nairobi mehr Geld zu verdienen, um geweckte Konsumwünsche befriedigen zu können.Die südafrikanische Pharmaindustrie hat das know how, selbst Medikamente gegen Aids herzustellen, aber die amerikanische Regierung droht Südafrika mit Finanzsanktionen, wenn es die Produktion erlaube. Produkte amerikanischer Pharmakonzerne, die ihre Patentrechte verletzt sehen, sind aber ohnehin für kaum jemand der 22,5 Millionen HIV-Infizierten in Afrika erschwinglich. Insofern ist hier de facto nicht einmal ein Absatzmarkt in Gefahr. Die WTO-Regeln würden die Produktion der no-name-Produkte erlauben. Unabhängig davon, so der demokratische Abgeordnete Jesse Jackson, müsse Amerika afrikanischen Regierungen die Möglichkeit einräumen, selbst Medikamente herzustellen und zu vertreiben, um das Leben ihrer infizierten Bürger zu verlängern. Jackson und verschiedene Nichtregierungsorganisationen in den USA organisieren Proteste und versuchen gesetzlich gegen die Politik der Clinton-Regierung vorzugehen.Arbeitsmigration in Städte und in der Konsequenz Prostitution fördern die Ausbreitung von HIV. Werden diese resoluten Krankenschwestern aus Kakamega und all den anderen Orten, die mit den CBDs so offen über Sexualität reden und jedem Fremden zeigen können, wie man ein Kondom überzieht, werden sie ihren eigenen Männern gegenüber genauso resolut darauf bestehen, wenn sie nach einem halben Jahr aus Tansania oder Uganda zu einem Besuch nach Hause kommen? Arbeitsmigration und die wirtschaftlich und soziokulturell untergeordnete Rolle der Frau sind die Faktoren, auf deren Beseitigung sich Entwicklungsbemühungen konzentrieren müssten. Aber der Peripherieferne der einheimischen Eliten folgt im neoliberalen Zeitalter die Entwicklungspolitik immer mehr nach: Sie verliert den ländlichen Raum zunehmend aus dem Blick und fördert verstärkt die wirtschaftliche Entwicklung in den Zentren, entsandte Ingenieure treten an die Stelle von Landwirtschaftsexperten.Zwei Wochen später, nördlich von Isiolo, an der Grenze zwischen Savanne und Wüste. Hier leben Samburu und Turkana. Ununterbrochen weht der Wind Sand durch die Luft. Aids-Aufklärung mit einer DED-Entwicklungshelferin und ihren beiden kenianischen Mitarbeiterinnen: Unter einer Akazie wartet das Dorf, Alte, Frauen, Kinder. Einige Frauen sind völlig abgemagert, die Haut von der Krankheit gezeichnet. Als Petra Almendinger die Anzeichen der tödlichen Krankheit beschreibt, tritt blankes Entsetzen in ein paar Gesichter. Es ist anders, ob man vom "Räuber" weiß oder ob ihn eine Weiße beschreibt. Armut regiert in diesem Dorf. Viele Männer sind Arbeitsmigranten, Prostitution ist Überlebensmittel etlicher Dorffrauen, Alkohol verbreitet - eine für viele tödliche Mischung.In Afrika südlich der Sahara lebt ein Zehntel der Weltbevölkerung, aber 70 Prozent aller Neuinfektionen und 80 Prozent der Aids-Todesfälle entfielen 1998 auf diese Region. Pro Tag starben 5.500 AfrikanerInnen an Aids. 90 Prozent aller Aids-Waisen leben in Afrika südlich der Sahara. 34 Millionen Menschen wurden hier bisher infiziert, 11,5 Millionen starben bereits. Besonders betroffen sind der Osten und der Süden Afrikas, vor allem Botswana, Namibia, Swasiland, Simbabwe und die Republik Südafrika, also Länder mit starker Arbeitsmigra tion. 20 bis 26 Prozent der 15-49 jährigen, also der wirtschaftlich Aktiven, der Elterngeneration, sind hier HIV-infiziert.Schließlich werden große weiße Styroporpenisse und Kondome ausgepackt, die Benutzung der Gummis demonstriert und eingeübt. Zu mir kommt ein hochgewachsener, sehr alter und würdiger Mann. Mit einem Tuch und vielen Halsketten bekleidet. Da sitze ich unter der Akazie im Sand und umweht mit Sand, diesen Riesenphallus in der Hand, und er versucht, ein Kondom darüberzuziehen. Was wegen seiner zitternden Hände nie klappt. Aber er will es unbedingt lernen und nachher am liebsten die ganze Kiste mitnehmen. Aber mehr als vier oder fünf pro Person sind nicht da.Ob sie die Präservative benutzen? Selbst welche kaufen? Petra Almendinger zuckt die Schultern. Rose, ihre kenianische Mitarbeiterin, ebenfalls, aber dann begehrt sie auf: "Sie müssen. Hier in Kenia kannst du deinem Mann niemals trauen. Niemals." Rose will Ende der Woche zum ersten Mal nach Tansania fahren, dort arbeitet seit einem Jahr ihr Mann. Rose will irgendwann noch ein Kind.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.