Sprengstoff

BUNDESWEHRSTRUKTURREFORM Die Empfehlungen der Kommission unterwerfen sich dem unzeitgemäßen Sicherheitsbegriff der NATO

Widerspruch entzündet sich fatalerweise fast nur am Abschied von der Wehrpflicht. Der 30.000-Mann-Appendix an einer Berufsarmee erspart Verteidigungsminister Scharping kaum die Blamage und wird nicht verhindern, dass die Truppe immer mehr zum Sammelbecken Rechter wird. Die Entschlossenheit der Kommission zu Strukturveränderungen, die sogenannte militärische Weltinnenpolitik ermöglichen, kontrastiert die jahrelangen Grabenkämpfe um Zentimeter bei Atomausstieg und Einwanderungsrecht. Politik bekommt Würze. Ein Grund zur Freude?

Mit Angelika Beer lachen können die Rüstungsindustrie, die Hardthöhe, die NATO. Und Politiker, die gern den starken Max spielen, Joseph Fischer, der im gewalttätigen Straßenkampf der 70er Jahre nach dem gleichen Muster agierte wie beim Überfall auf Jugoslawien: als Aufräumer in höherer Mission. Wieder Land in Sicht für den Griesgram im Diplomatenschiff? Brisanz hat weniger die Frage der Wehrpflicht, als vielmehr die fast verdreifachte Zahl der Krisenreaktionskräfte. 140.000 Mann als schnelle Einsatztruppe braucht man nur, wenn man sie oft zur Verfügung stellen will, und nur dann kann man die hohen Kosten rechtfertigen.

Will die Bevölkerung eine Interventionsarmee? Wenn sie diesmal mehr mitentscheiden will als bei der gemeinsamen Verfassung, muß sie jetzt intelligent mobil machen. Rühes Kambodscha- und Somalia-, Fischers Osttimor-Einsatz offenbaren die Ziele der "Großen Männer". Der Koalitionsvertrag sieht eine Umwandlung der Bundeswehr explizit nicht vor: "Die Bundeswehr dient der Stabilität und dem Frieden in Europa". Die Vorschläge implizieren Politikwechsel - auf den die deutsche Gesellschaft und die Politik nicht vorbereitet sind: Das Recht zur Gehorsamsverweigerung, die Rehabilitierung von Wehrmachtsdeserteuren und der Satz "Soldaten sind Mörder" empören noch, das Verhältnis der Deutschen zu Militär ist unreflektiert. Selbstverständlich macht die Kommission nur Vorschläge, und die Koalition entscheidet - aber ist ein solcher Richtungswechsel ohne Beteiligung der Bevölkerung in einem Plebiszit demokratisch vertretbar?

Bis zum Mauerfall bestand außerhalb der CDU immerhin der Konsens, nicht über eine Verteidigungsarmee hinauszugehen. Hunderttausende wehrten sich gegen den NATO-Doppelbeschluss und den Golfkrieg, für sie war Militär nicht mehr geeignetes Mittel, um Sicherheit und Frieden zu erreichen. 1989 wurde es erstrebenswert für das Image im eigenen Land, global player in der Militärpolitik zu sein. Rühe schaffte über den Aufbau der Krisenreaktionskräfte und seine Auslandseinsätze den Aufstieg in den Kreis von Kohls Kronprinzen. Der ambitionierte und karriereorientierte Scharping ordnete schon vor seiner Vereidigung die Entwicklung einer zukunftsfähigen Sicherheitspolitik seinem Interesse unter. Bereits seine Bedingung, der Militärhaushalt dürfe nicht angetastet werden, war ein Rückfall von zielorientiertem auf dominanzorientiertes Denken. Um trotz der Halsstarrigkeit des Ministers Veränderungen zu ermöglichen, wurde eine unabhängige Kommission notwendig. Mit 140.000 Mann starken Krisenreaktionskräften in petto wird die innen- und parteipolitische Profilierung künftig noch mehr über Militäreinsätze geschehen als bisher. Deutschland kann sich nach unten nivellieren: Clinton bombardierte in der Dritten Welt, wenn Skandale ihn in die Enge trieben, die Israelis lenken so von Kabinettskrisen ab. Und was tut Schröder, wenn sich 2002 herausstellt, dass er sein Versprechen an die Erwerbslosen nicht gehalten hat?

Der Überfall auf Jugoslawien hat den feigen Opportunismus und die Bereitschaft zur pragmatischen Willkür beim überwiegenden Teil der Politiker offenbart. Das Völkerrecht ist Regierung und Opposition antastbar. 1989 setzte eine erschreckende Erosion der Verbindlichkeit des Rechts ein, Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht wurden zum Störer einer modernen, vernünftigen Politik erklärt. Die infantilen Begründungen für die Beteiligung am NATO-Krieg - MilosŠevic´ trage die alleinige Verantwortung, man selbst sei zum Handeln gezwungenes Opfer seiner Politik; man tue nur, was die anderen sozialdemokratisch geführten Länder Europas auch täten (Schröder, 16.10.98) - und die gezielten Lügen - zivile Opfer, Hufeisenplan, Schwarz-Weiß-Malerei - offenbarten, dass den politischen Repräsentanten die Reife fehlt, die Verantwortung für eine Entscheidung über Krieg und Frieden zu übernehmen. Einer ethisch und moralisch derart mickrigen politischen Klasse darf man keine 140.000 Soldaten als Krisenreaktionskräfte anvertrauen.

Vor allem spricht jedoch der Rückgriff auf einen militärischen Sicherheitsbegriff gegen die Vorschläge der Weizsäcker-Kommission. Dabei hatte von Weizsäcker selbst noch 1993 gefordert, globale Sicherheit neu zu definieren: Trotz immer ausgefeilterer Waffensysteme "erkennen wir ihre völlige Machtlosigkeit gegenüber den Hauptgefahren der Menschheit, nämlich der zentralen und universalen Bedrohung der Lebensbedingungen und der Natur". 1993 wollte von Weizsäcker "Erdpolitik", den Kampf gegen mangelnde Ausbildung, Bevölkerungswachstum, Armut, Hunger, Migration, Waldsterben etc. Selbst im Koalitionsvertrag ist festgehalten, dass die Kommission ihren Vorschlägen einen "erweiterten Sicherheitsbegriff" zugrunde legen solle. In der Konsequenz hieße das, statt 140.000 Mann starke militärische Krisenreaktionskräfte und Aufrüstung zu fordern, diese Mittel zur Krisenprävention einzusetzen: Friedensforschung, globale Strukturpolitik (Entschuldung, Finanzierung des Einstiegs in die Solarwirtschaft im Süden), vorbeugende Mediation von Konflikten. Konsequent wäre, den Verteidigungshaushalt zugunsten des derzeit "Entwicklungshilfeministerium" genannten Ressorts zu verringern. Die Vorschläge der Kommission sind dem Denken des vergangenen Jahrhunderts verhaftet, zur Schaffung globaler Sicherheit im 21. Jahrhundert sind sie nicht tauglich. Oder können High-Tech-Tornados Süßwasser, Wälder und fruchtbare Erdkrume herbeibomben?

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