Schröder geht nach Neukölln. Keine Top-Adresse, sondern ein traditionelles Arbeiterviertel Berlins. Sollte das Teil der Botschaft sein? Kann eine Inszenierung etwas klären - oder kann sie nur verschleiern? Dass dieser dreitägige Parteitag Gefahr lief, eine Scheinwelt zu inszenieren, war seit Monaten absehbar: Berlin müsse die Wende markieren, den Aufbruch nach einem Jahr voller Wahlniederlagen, hatte Franz Müntefering im Sommer erklärt. Begonnen hat der Aufbruch der SPD noch nicht: Als blindes Huhn beim Holzmann ein (zweifelhaftes) Korn zu finden und sich zu freuen, dass derweil die CDU bis über beide Augen in den Moorlöchern von Kohls schwarzen Konten zu versinken droht, zeugt nicht von Substanzgewinn der SPD. "Konkrete Utopien", die sich Thier
ierse erhoffte, blieb Schröder schuldig.Zur intendierten Signalwirkung der Inszenierung gehört, dass Schröder ein deutlich besseres Wahlergebnis erreichte als die 75 Prozent vom April. Im Vorfeld war massiv Druck auf die Linken ausgeübt worden, die "Erfolgsmeldung" von 86 Prozent überraschte daher nicht. Die Linken sollten auch ihre Anträge zur Vermögenssteuer niedrig hängen, damit die Partei "geschlossen" wirke. So wie der Fraktionszwang das Parlament weitgehend zur Statthalterversammlung gemacht hat, wird auch die Lebendigkeit der Partei dem Machterhalt geopfert.Da Diskussion und Meinungswettstreit weitgehend draußen bleiben sollten, hatte der Beginn des Parteitags, die Reden Thierses, Schröders und die erste Aussprache, den etwas seltsamen Charakter einer Totembeschwörung. Einer kultischen, identitätsstiftenden Handlung - vor dem Gang in die entscheidenden Länderwahlkämpfe. Nur: Um welchen ideellen Kern scharte sich die SPD vor der überdimensionalen Wanddekoration einer wehenden Nationalflagge, die wohl auch den Republikanern gefallen hätte? Schröder ist die personifizierte Anpassung an Alltagszwänge - und damit, anders als Willy Brandt, Egon Bahr, Oskar Lafontaine oder Hermann Scheer, nicht die Verkörperung eines politischen Programms. Das Wahlergebnis für Franz Müntefering (94 Prozent) offenbart dagegen, welche Politik die Partei wirklich will.Schröders Rede bot sein übliches Allerlei: seine Sicht des ersten Regierungsjahres gewürzt mit der Hoffnung auf Arbeitsplätze durch neue Technologien. "Gerechtigkeit" war eins seiner Schlagworte. Den wesentlichsten Aspekt der Generationengerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, vergaß er jedoch, obwohl im nächsten Jahrhundert Ressourcenverknappung die Politik bestimmen wird. Kein Wort zur Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern. Deshalb war die von Schröder vielbeschworene Chancengleichheit bei Bildung und Ausbildung für ihn nur eine Frage von Ausbildungsplätzen. Aber wer Chancengleichheit für Jugendliche will, muss Mütter, Kinder und Jugendliche vor einem Leben auf Sozialhilfeniveau bewahren, reproduktive Arbeit als Leistung anerkennen. Eine Kindergelderhöhung reicht dazu nicht aus. Des Kanzlers Rede belegte wieder einmal, dass - wer nur die heute Erwerbstätigen im Blick hat - sich selbst die Möglichkeit nimmt, gerechte Politik zu gestalten. Der Chefmodernisierer ist de facto Traditionalist: Er kann sich den Erfordernissen der Zeit zum Trotz nicht aus der Fixierung auf die Erwerbstätigen lösen.Das Motto in Neukölln lautete "Verantwortung für Deutschland - Zukunft braucht Mut". Schon der Kriegsparteitag am 12. April - "Verantwortung, SPD" - hatte offenbart, dass Schröder sich vom Wort "Verantwortung" nur den magischen Klang leiht, die Verantwortung aber anderen (damals: Milosevic) zuweist. "Verantwortung für Deutschland" war ein Zugeständnis an die traditionelle SPD-Klientel, die sich von der neoliberalen Gestaltung der Globalisierung bedroht fühlt, die Betonung des umhegten Nationalen sollte die Furcht vor zu viel Modernisierern nehmen. Aber die Formulierung ist hohl, denn seit Lafontaines Weggang liegt Politik im Bereich der Makroökonomie brach: Die von Michael Müller, Ottmar Schreiner, Heide Simonis und anderen angemahnte Verantwortung, die Globalisierung zu zivilisieren, wird von der jetzigen Koalition nicht wahrgenommen. Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul steht mit gekürzten Mitteln, aber dem Anspruch globaler Strukturpolitik allein auf weiter Flur. So entblößt sich das Motto als reaktionäre Chiffre, wird die Nation zum heimelig Wurzelechten, für das Schröder "Verantwortung" zu übernehmen vorgibt.Die Antwort auf die Globalisierung kann nicht die Rückkehr zu nationaler Politik sein, sondern die Gestaltung einer Politischen Union Europa. Nationale Souveränität erodiert viel schneller als der Aufbau von Regelungskompetenz internationaler Regimes vorankommt, sie ist per Parteitagspostulat nicht zurückzugewinnen. "Verantwortung für Deutschland" ist ein Motto für Stammtische, die sich einlullen lassen wollen. Der bloße, dafür aber um so häufigere Appell an Eigenverantwortung, Eigeninitiative, Selbständigkeit und des Mottos dümmlicher zweiter Teil "Zukunft braucht Mut", als Antwort auf die Veränderungen der Globalisierung, sind für eine sozialdemokratische Partei ein intellektuelles Armutszeugnis.Das Berliner Programm vom Dezember 1989, das nun durch ein neues ersetzt werden soll, forderte immerhin resolut, "ökologisch und sozial verantwortbares Wirtschaften", also gesellschaftliche Ziele müssten Vorrang haben vor den Zielen privatwirtschaftlicher Kapitalverwertung: "Nicht wirtschaftliche Macht oder marktbeherrschende Unternehmen dürfen der Politik den Handlungsrahmen vorgeben, sondern demokratisch legitimierte Entscheidungen müssen im Interesse des Gemeinwohls Rahmen und Ziele für wirtschaftliches Handeln setzen."-Welche Konzepte es für solche Politik international gäbe, wie man sie realisieren könnte, das blieb die Inszenierung "Verantwortung für Deutschland" schuldig.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.