Alle Räume sind schon da

Film „Der Wert des Menschen“ zeigt die Kälte des Arbeitsmarkts. Allein die Kamera macht keine Hoffnung auf Veränderung
Ausgabe 11/2016

Sitzt ein Mann beim Arbeitsamt. Oder im Bewerbungstraining. Oder im Büro der Bankangestellten oder beim Bewerbungsgespräch auf Skype oder im Personalraum. Der Film Der Wert des Menschen besteht aus solchen Szenen. Situationen, die bereits hergestellt sind, wenn die Kamera sich zuschaltet; Interaktionen, deren Ausgang von Anfang an klar ist, weshalb sie selten bis zum Ende gezeigt werden müssen. Stattdessen hält man sich eine Weile in ihnen auf: zwei, drei, vier Minuten, die mitunter sehr lang werden können, auch weil Einstellungswechsel nicht zum ästhetischen Repertoire dieses Films gehören.

Modellierte Zeitordnung

Der französischen Filmkritik ist zu Der Wert des Menschen, im Original eigentlich: Das Gesetz des Marktes (La loi du marché), kaum mehr eingefallen als ein paar freundliche Worte über Vincent Lindon, der hier den Arbeitssuchenden Thierry Taugourdeau spielt. Und ein paar unfreundliche über die allgemeine Entwicklung des Arbeitsmarkts, der in Frankreich mit der Lex El Khomri gerade einigen weiteren Reformen unterzogen wird. Laurence Parisot, ehemalige Präsidentin der französischen Arbeitgeber, nannte den Film eine Karikatur. Und Vincent Lindon, der auf einen großen Preis als Hauptdarsteller zehn Jahre länger gewartet hatte als Leonardo DiCaprio, gab in Cannes ein paar etwas wirre Interviews, in denen viel von Solidarität und Engagement die Rede war.

Tatsächlich ist Der Wert des Menschen von Stéphane Brizé ein Film, der auf wenigstens drei Weisen betrachtet werden kann. Als Themenfilm, mit einem empathiewürdigen Protagonisten, zwei oder drei generischen Hassfiguren und einigen sehr einfach gestrickten Botschaften. Als Realismusprogramm, das mit Laiendarstellern aus Gewerkschafts- und Arbeitsalltag, einem Dokumentaristen als Kameramann (Eric Dumont), schlechten Licht- und Sichtverhältnissen und einem fragwürdigen Konzept von Authentizität operiert. Und als ein Programm der Modellierung von Zeit- und Raumordnungen, dessen Qualität genau darin liegt, dass es sich im Verlauf des Films nicht groß verändert.

Keine Arbeit haben. Und auf einmal doch eine Arbeit haben. Die Pointe besteht diesmal nicht darin, dass zwischen dem einen und dem anderen Zustand nur ein Schnitt liegt. (Ellipsen sind durchaus eine Stärke dieses Films.) Sie besteht in der Tatsache, dass die Welt, in die Lindons Figur sich als Arbeitnehmer gestellt sieht, nach denselben Parametern eingerichtet ist wie die Welt des Arbeitslosen. Dass beide Welten eng, fahl, unwirtlich erscheinen, ist dabei letztlich weniger wichtig als die Beobachtung, dass sie von der Kamera konsequent als vorfindlich behandelt werden, das heißt: weder durch Fahrten oder Montagen konstruiert noch durch den Blick einer Figur organisiert noch so gestaltet, dass an ihre Veränderbarkeit zu denken wäre.

Die Kulisse wird ausgewechselt, etwa in der Mitte des Films. Aber das heißt nicht, dass der Status des Protagonisten ein anderer wäre oder seine Handlungsmacht oder die sogenannten Spielräume, die den Blick auf eine Figur bestimmen.

In den Innenräumen, in denen sich das Geschehen in Der Wert des Menschen vor allem abspielt, sind die Grenzen nicht mit der Kadrierung kongruent. Vielmehr etabliert die Kadrierung in fast jeder Szene ein Off; dies aber auf eine Weise, die keinen Zweifel daran lässt, dass die nächste Trenn- oder Zimmerwand, die nächste Absperrung, die nächste Tür oder das nächste Regal nur einen halben Schritt entfernt ist.

Die Sequenz, in der dieses Raumprogramm noch einmal profiliert wird, ist jene, in der ein Mitarbeiter der Security dem neuen Kollegen das Überwachungssystem erklärt. „Im Haus sind ungefähr 80 Kameras installiert“, sagt er, und es wird gleich darauf erkennbar, dass jede dieser Kameras den Blick wieder zurück in die Gänge führt, in die Regale, in die Abteilung, die auf dieselbe Weise aufgeteilt ist wie die Abteilungen, die sich neben ihr befinden. Der Regisseur Brizé hat diese Szene als ein Exempel der déformation professionelle angelegt, die davon handeln soll, wie die berufliche Aufgabe die Wahrnehmung des Menschen modelliert („jeder kann ein Ladendieb sein“). Indes modelliert sie ebenso ein Blickregime, in dem das, was sich gerade außerhalb des Sichtfelds befindet („auf den anderen Monitoren“) nicht mehr als Außerhalb existiert, das Ausblicke oder etwas wie einen Ausweg eröffnet.

Was danach noch drin ist

Die Entsolidarisierung hingegen, von anderen als das zentrale Thema des Films identifiziert, hat ihr bestes Exempel andernorts, im Bewerbungstraining. Im Kino der Gegenwart, das mit der Darstellung von Arbeitswelten nach wie vor gewisse Schwierigkeiten hat, ist die horrible Qualität von dergleichen Trainings dankbar erkannt worden. Entsprechend figurieren sie in so verschiedenen Filmen wie Falscher Bekenner von Christoph Hochhäusler (2005), Andreas Dresens Sommer vorm Balkon (2006) oder dem französischen Dokumentarfilm Die Regeln des Spiels (2014) als Szene der vorauseilenden Anpassung an einen Diskurs der Selbstkontrolle, der Evaluation aller durch alle und der Demontage von potenziellen Konkurrenten unter wohlwollendem Blick der Arbeitsmarktexperten.

In Der Wert des Menschen ist die Auswertung des Auftritts, den Brizés Protagonist vor einer Videokamera absolviert hat, derjenige Moment, in dem der Film dem etwas verrutschten deutschen Titel am besten entspricht. Die Kleidung, die Haltung, die Antworten; die Mimik, die Stimme, der Blick: Bis der Rest der Bewerbergruppe mit ihm fertig ist, vergehen viereinhalb Minuten; auch diesmal eine lange Zeit, und was danach noch für den Arbeitssuchenden Taugourdeau drin sein könnte, ist in bestimmtem Sinne ziemlich egal.

Info

Der Wert des Menschen Stéphane Brizé Frankreich 2015, 93 Minuten

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