Auf den Kopf stellen

Kompendium "Rebellisches Barcelona" ist alternativer Reiseführer und Lesebuch zur Sozialgeschichte der Stadt mit dem Beinamen Feuerrose

"Europas coolste Städte" kürte vor einigen Wochen ein deutsches Nachrichtenmagazin. Mit von der Partie war erwartungsgemäß Barcelona. Die katalanische Metropole, schreibt der Spiegel, lockt nicht nur jährlich Millionen von Touristen, sondern eine "junge professionelle Elite" aus Kunst und Wissenschaft. Für sie errichtet die Stadt eigens ein Viertel im Poble Nou, dem ehemaligen Arbeiterbezirk. 22@ heißt das neue Areal; es wird "ein großes Biotop für die kreative Klasse", meint das Magazin.

Aber Poble Nou bietet mehr als den malerischen Rahmen eines Trendquartiers, wie ein neu erschienener Band Rebellisches Barcelona zeigt. Die Arbeit eines Herausgeberkollektivs dient als alternativer Reiseführer wie als Lesebuch einer Sozialgeschichte von unten: In Poble Nou prägten Jahrzehnte lang "utopische und internationalistische Bewegungen" das Bild, deren kulturelles Leben weit über die Grenzen des Viertels hinaus strahlte. Ab 1936 kämpften seine Bewohner besonders engagiert gegen die Putschisten unter Franco, als Revanche ließ der spätere Diktator das Viertel "in Schmutz und Vergessen" untergehen, wie die Herausgeber schreiben. Während der Stadtsanierung der achtziger Jahre wurde schließlich ein Großteil der ursprünglichen Bewohner verdrängt, die Mieten stiegen und die begüterten Kreativen zogen nach.

Der Band wirft einen Blick hinter die sprichwörtliche Fassade, indem er die Leidtragenden solcher Aufwertungen sichtbar macht. Nicht nur in Barcelona geraten die Bewohner innerstädtischer Viertel zusehends unter Druck. Die oft weitgehend de-industrialisierten europäischen Städte versuchen einander als attraktive Standorte für profitable Dienstleistungsunternehmen zu übertrumpfen. Den gut verdienenden, polyglotten Angestellten - und den Touristen - soll etwas geboten werden: Herausragende Architektur, vertraute Handelsketten, Wohnungen in City-Lage, eine vielfältige Kulturszene. Die darf ein paar chaotische Tupfer im Stadtbild setzen, ansonsten muss dem Hochglanzbild eines sicheren und aufgeräumten Zentrums entsprochen werden. Unordnung, Armut oder dissidente Subkulturen gelten in diesem Szenario schnell als bedrohlich. Dem begegnen die Planer, indem sie den Raum neu ordnen und ihn rund um die Uhr mit Kameras überwachen lassen.

Erfreulicherweise bleibt Rebellisches Barcelona nicht beim resignierten Lamento stehen. Der Band erzählt in durchweg gut lesbaren Kurztexten Geschichten über Menschen, Gruppen und Ereignisse, die die Stadt auf ihre Weise geprägt haben. Etwa die des Lebemanns Arthur Cravan, ein Neffe Oscar Wildes, der 1916 in der Stadt Station macht, bei einem fingierten Boxkampf antritt - dessen astronomische Prämie er mit seinem vermeintlichen Gegner teilt - und wenig später auf dem selben Schiff wie Trotzki nach Mexiko fährt. Auch erfährt man von der Tradition des Berges Montjuïc, der gleichzeitig als Picknickplatz und Versteck für politisch Verfolgte diente und auf dem noch heute illegale Migranten und Obdachlose leben. Ein paar Seiten weiter wird an den 1919 erfolgreich von Anarchisten initiierten Streik gegen ein kanadisches Stromunternehmen berichtet.

Die Besonderheit des Bandes besteht darin, dass all dies Orten auf dem Stadtplan zugeordnet wird - wer will, kann sowohl die vorübergehende Wohnung des Hochstaplers Cravan aufsuchen als auch den damaligen Sitz der kanadischen Firma. Eingeleitet wird dies mit historischen Abrissen über die Besonderheiten des jeweiligen Viertels.

Historiker mögen den parteiischen Blick bemängeln, doch eine vermeintliche wissenschaftliche Neutralität interessiert die Herausgeber nicht. Sie wollten ein engagiertes Kompendium über das Barcelona von unten schreiben und den in jeder Hinsicht glatten Flyern der Tourismusbehörden ein ungeschöntes Bild über die alltägliche Not, die kreativ macht, und die großen Revolten entgegen setzen. Das ist ihnen mit diesem optisch sehr ansprechenden Band gut gelungen. Dazu trägt maßgeblich die für ein Sachbuch oft sehr lebendige Sprache bei, was nicht zuletzt ein Verdienst des Übersetzers Horst Rosenberger ist. Über gelegentliches Pathos kann man daher hinwegsehen, etwa wenn ein Mitherausgeber "Kapital, Staat, Kirche und Armee" als "Parteigänger des Todes" bezeichnet.

Dieser Furor klingt nicht bloß anarchistisch, die Herausgeber gehören zur libertären Linken. Eingangs würdigen sie fünf prägende Aufstände zwischen 1835 und 1951, wobei sie aus ihrer Sympathie für den revolutionären Umsturz und die Selbstverwaltung keinen Hehl machen. Erfreulicherweise vermeiden sie dabei eine hagiografische Geschichtsschreibung. Weder werden alle Proteste oder Aufstände allein aus dem Wirken anarchistischer Organisationen abgeleitet, noch werden andere Strömungen pauschal abqualifiziert.

Die Anarchisten verhalfen Barcelona Anfang des 20. Jahrhunderts zu ihrem Beinamen "rosa de foc" (Feuerrose), eine quasi literarische Umschreibung der häufigen Bombenanschläge. Die sind Geschichte, aber - schreibt der Philosoph Manuel Delgado im Vorwort - noch immer kann die Stadt nicht zur Gänze kontrolliert werden: "Die Machthaber und ihre Stadtplaner betrachten (zuweilen) ... ungläubig und entsetzt ihr Scheitern gegenüber einer reinen kollektiven Energie, die jederzeit alles auf den Kopf stellen kann. Unten eine Kraft ohne Macht. Oben eine kraftlose Macht."

M. Aisa, P. Madrid, D. Marin und andere: Rebellisches Barcelona. Vorwort von Manuel Delgado. Aus dem Spanischen von Horst Rosenberger. Edition Nautilus, Hamburg 2007, 288 S., 100 S-W-Fotos. 19,90 EUR


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