Diese Geschichte birgt einen Schrecken, der nicht schwächer wird. Sie erzählt von einer Mordserie an Kindern, von medial verstärkter Massenpanik und Lynchstimmung. Schon vor mehr als 75 Jahren haben Regisseur Fritz Lang und Drehbuchautorin Thea von Harbou diesen düsteren Stoff auf der Leinwand meisterhaft verdichtet.
Ihr Film M – Eine Stadt sucht einen Mörder von 1931 sagt bereits so viel zu diesem Thema, dass dem kaum etwas hinzuzufügen ist.
Eindringlich schildert er die Hilflosigkeit einer Stadtgesellschaft, die ihre Kinder nicht vor dem unbekannten Mörder schützen kann. Er beschreibt, wie die Ohnmacht in Wut umschlägt und hinter dem Zorn Interessen manifest werden. Bei seinen Geschäften gestört, eignet sich ausgerechnet das Verbrecher-Syndikat die Rolle von Polizei und Justiz an. Der Mörder wird gejagt, gestellt und vor einen schaurig-grotesken Gerichtshof der Schuldbeladenen gezerrt, mit einem mehrfachen Totschläger als Chefankläger.
In der improvisierten Verhandlung offenbart der Serientäter – im Film grandios verkörpert von Peter Lorre – sein inneres Drama und weist die Verantwortung für sein Handeln von sich. Der anschließende Disput zwischen Verteidiger und Ankläger enthält in verdichteter Form alle Elemente der heutigen Debatte: Wie weit darf die Gesellschaft gehen, um ihrem Anspruch auf Schutz zu genügen? Wie kann sie trotz allem die Persönlichkeitsrechte selbst des gefährlichen Mörders bewahren? Die Unterweltversammlung plädiert für die „Auslöschung“ und „Ausrottung“ des Angeklagten; erst die im letzten Moment eintreffende Polizei verhindert Schlimmeres.
Ein Werk von derart zeitloser Kraft adaptieren zu wollen, ist ein Wagnis. Der amerikanische Comiczeichner und Illustrator Jon J. Muth ist das Risiko eingegangen – und hat eine eindrucksvolle Graphic Novel vorgelegt. Muths Neufassung besticht durch eine Gratwanderung: Er will die eindrucksvolle Bildsprache des Films für die Comicfassung bewahren und das vorhandene Material zugleich interpretieren.
Das löst er technisch anspruchsvoll. Muth hat die Szenen des Films mit Statisten nachgestellt und abfotografiert. Die Fotos dienten ihm als Vorlage für seine Bilder, die er mit Silberstift, Graphit, Kohlestaub und schließlich mit Pastellfarben Schritt für Schritt entstehen ließ. Dieses aufwändige Vorgehen ist den Bildern anzusehen. Sie haben eine oft dunkle Tiefe, sind kontraststark und dabei auf eine reizvolle Weise unscharf.
Zuweilen wirken sie wie Gemälde, an anderen Stellen wie alte Fotografien. Gerade die bekannten Momente des filmischen Originals erscheinen in Muths Comicfassung vertraut: Der erschreckte Schulterblick des Mörders, als auf seinem Mantel schon das stigmatisierende Kreide-M prangt und er seine Verfolger bemerkt oder das Gangster-Tribunal im Halbdunkel des Kellerraumes, das den Betrachter ebenso anzuvisieren scheint wie den aufgespürten Täter.
Universeller Charakter der Geschichte
Diese Anmutung von Authentizität durchbricht Muth durch Stilmittel des heutigen Kinos. Seiner schwarz-weißen Optik fügt er gezielt Farbe bei. Mal werden Äpfel oder Luftballons koloriert und so mit Bedeutung versehen, mal spielen die zahlreichen Grauschattierungen des Bandes ins Bläuliche, Rötliche oder Grünliche, um die bedrohliche Stimmung zu verstärken. Geschickt verwendet Muth typische Comicstilmittel, wenn er etwa grafisches Material wie Karten, Noten oder Stadtpläne integriert. Dynamik erzeugt Muth, indem er die Bilder zuweilen unregelmäßig und mit viel Weißraum wie in einem Fotoalbum anordnet. Unruhe oder schnelle Bewegungen zeigt er durch abstrakte Muster, die über dem eigentlichen Bild liegen.
Nicht nur augrund des cross-medialen Zugangs erweist sich der Band als Interpretation. Muth ist deutlich postmodern geprägt und versucht bei der Wahl seiner Requisiten gar nicht erst, historisch authentisch zu arbeiten. Das Telefon auf der Polizeiwache ist deutlich kein Vorkriegsmodell, und die Mitglieder der Bettler-Organisation ähneln augenfällig US-Rentnern mit Sonnenhütchen und kurzärmeligen Hemden. Das kann als Hinweis auf den universellen Charakter der Geschichte gelesen werden: keine Gesellschaft, die durch Serienmorde an Kindern nicht erschüttert würde. Keine Gesellschaft, in der politische oder geschäftliche Interessen nicht mit falscher Moral getarnt würden.
Muths Bildsprache jedenfalls ist überaus gelungen. Auch ohne Farbeinsatz entlockt er den Stadtlandschaften viel Symbolisches. Da wirken etwa Strommasten wie aufgereihte Grabkreuze, als klar wird, dass ein weiteres Kind zum Opfer geworden ist. Stimmig umgesetzt sind auch die Massenszenen, in denen zehrende Verunsicherung und angestaute Wut deutlich hervortreten. Gewalt zeigt Muth allenfalls andeutungsweise; seine Effekte bezieht der Band aus der Interaktion der handelnden Personen. Gerade in seiner Neufassung der Schlussszene arbeitet Muth kunstvoll die Parallelen zum Theater heraus. Auf Einzelbildern gebannt, erscheinen Gestik und Mimik des Mörders wie Momentaufnahmen einer Bühnenaufführung.
Stimmungsverstärker
Muths Variationen der filmischen Vorlage mögen im Detail behutsam sein, zusammengenommen markieren sie eine Akzentverschiebung. Auf Symbolik, wie sie in Muths Perspektiv- und Farbwahl zum Ausdruck kommt, hat Fritz Lang bewusst verzichtet. Im Stil der Neuen Sachlichkeit gehalten, liefert sein Film auch ein oft schonungsloses Porträt der Weimarer Gesellschaft und ihrer Bedrohung durch die Nazis.
Muth geht es bei seiner Wiedervorlage erkennbar weder um das Berlin der dreißiger Jahre, noch um das heutige Cincinnati, Ohio, in dem die Aufnahmen für den Band entstanden sind. Ästhetisch stark an den Film angelehnt, beschreitet seine Graphic Novel doch einen eigenen Weg. Muth arbeitet Stimmung und Emotionen des Stoffs stärker heraus, nicht zuletzt durch die dosierte Beigabe von Farbe und die Perspektivenwahl. Dabei will Muth die Emotionen seiner Leser keineswegs in Bahnen lenken, wie er im Nachwort schreibt. Vielmehr habe sich der von „Trauer, Verlust und Sehnsucht“ geprägte Grundton während der Arbeit an dem Band herauskristallisiert.
Das schon in der Vorlage interpretationsoffene Ende, bei dem angesichts des drohenden Lynchmordes sogar Empathie mit dem Täter möglich ist, verstärkt Muth durch eine Ergänzung. Im Comic stößt die Polizei bei ihren Ermittlungen auf einen an den Mörder adressierten Brief einer Arbeitskollegin. Das kurze Schreiben deutet einen vorsichtigen Versuch des Täters an, seine Gewissensqualen zu offenbaren. Es lässt sogar eine beginnende Romanze durchschimmern. Diese Facette erhöht die schon im Film angelegte Ambivalenz noch. Für einen Augenblick wird aus dem Mörder, dessen Ergreifung die Betrachter wünschen, ein unglücklicher Mensch.
Er ist nicht nur die Bestie, die außerhalb steht. Er ist auch Teil einer schlecht eingerichteten Gesellschaft. Moral, schreibt Muth im Nachwort, bilde und wandle sich prozesshaft. Die Kunst beleuchte diesen Vorgang, und daher habe er M adaptieren wollen. Darin besteht die Qualität seiner opulenten und spannend zu lesenden Graphic Novel: Sie wirft schwere Fragen auf und gestattet dem Leser keine zu einfachen Antworten.
Jon J Muth: M Eine Stadt sucht einen Mörderist bei Crosscult erschienen und kostet 25 Euro.
Am 14. September endete unser Wettbewerb zu M - Eine Stadt sucht einen Mörder. Wir haben nach dem deutschen Schauspieler gefragt, der in Fritz Langs Film die Rolle des Unterwelt-Chefs Schränker spielte. Die richtige Antwort lautete Gustaf Gründgens. Wir danken den zahlreichen Teilnehmern. Die Gewinner eines Buchs werden von uns per E-mail informiert.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.