Mit 21 träumte Jamie Johnson aus der indischen Hauptstadt von einer Karriere als Nachrichtensprecher, vorzugsweise bei einem englischsprachigen Fernsehsender. Um diesem Ziel einen Schritt näher zu kommen, heuerte er bei einem Call-Center an. Dort wollte er sein Englisch aufpolieren und obendrein britische und amerikanische Akzente einüben. Mittlerweile arbeitet er vier Jahre in der Telefon-Branche, hat fünf Mal den Arbeitgeber gewechselt und sein Monatsgehalt von 7.000 auf 40.000 Rupien (also von umgerechnet rund 130 auf rund 750 Euro) gesteigert. Die Medienlaufbahn kann nun noch ein wenig warten, mehr noch: Jamie versucht, auch seinen arbeitslosen Vater, einen ehemaligen Handelsvertreter, für die Call-Center-Industrie zu gewinnen.
Die Berufsbiografien von Jamie Johnson und seinem Vater finden sich in der Studie "The remote agent". Taha Mehmood und Iram Ghufran vom Sarai-Medienzentrum in Dehli zeichnen darin ein erstes Panorama der in Indien rasant wachsenden Call-Center-Industrie.
Das erste Telefonstudio dieser Art errichtete Ford während der sechziger Jahre in den USA; ein Gerichtsurteil zwang das Unternehmen, den Rückruf fehlerhafter Autos über eine gebührenfreie Verbindung zu ermöglichen. In den Neunzigern trug dann die avancierte Informationstechnologie erheblich zur Verbreitung von Call-Centern bei.
Die dort Beschäftigten verfügen oft über akademische Abschlüsse und beste Fremdsprachenkenntnisse. Darüber hinaus verlangt man ihnen ab, in kurzen - oft von Computertaktungen diktierten - Abständen stark standardisierte Gespräche zu führen: im Kundendienst, in der Marktforschung oder bei Verkaufshotlines. Die Tätigkeit gilt als monoton, anstrengend und verschleißend.
Zählen die deutschen Beschäftigten der Branche zu den arbeitenden Armen, verspricht der Job in Indien den schnellen Aufstieg in die urbane Mittelschicht. Der dortige Arbeitsmarkt wandelt sich derzeit stark - von "tektonischen Verschiebungen" sprechen die Forscher Mehmood und Ghufran. Am augenfälligsten zeigt sich diese Entwicklung, nimmt man zwei Generationen in den Blick. So verfügt Jamie Johnson über einen niedrigeren Universitätsabschluss als sein Vater, verdient aber nach nur vier Jahren Berufserfahrung, was der Senior erst nach 23 Jahren erreichte.
Jamie Johnson und seine Kollegen arbeiten in der Regel nicht für den indischen Markt, denn seit Jahren schon lagern westeuropäische oder US-Unternehmen ihre Telefondienstleistungen aus, so dass sich Call-Center verstärkt außerhalb der traditionellen Industrieländer ansiedeln (für eine Ausnahme sorgt die "Call-Center-Hochburg" Irland). Unter den bevorzugten Zielländern dieses Outsourcings stellt Indien das kostengünstigste dar, resümieren der örtliche Branchenverband NASSCOM und die Unternehmensberatung McKinsey in einer jüngst veröffentlichten Studie - dort profitiere man von einer Vielzahl junger, gut ausgebildeter Arbeitskräfte. Arbeiten augenblicklich in Deutschland etwa 376.000 Menschen im Bereich der Computer gestützten Dienstleistungen (wozu auch Call-Center zählen), sind es in Indien 700.000. Ein Sprung auf annähernd anderthalb Millionen wird für Ende 2007 prognostiziert. Die indischen Angestellten verdingen sich für einen Bruchteil der in den USA oder Westeuropa üblichen Löhne. Zum Outsourcing entschlossene Firmen kalkulieren mit Ersparnissen zwischen 20 und 40 Prozent.
Da Englisch auf dem Subkontinent als lingua franca dient, brauchen britische oder amerikanische Unternehmen ihre künftigen Mitarbeiter nur noch einer kurzen Akzent-Schulung zu unterziehen: Der Kunde soll glauben, das Call-Center sei nur ein paar Häuserblocks weiter untergebracht. Um die Scharade perfekt zu machen, lernen die indischen Angestellten nicht nur, nötigenfalls in breitem Texanisch zu parlieren, sondern informieren sich vor Schichtbeginn auch über das lokale Wetter in Houston und die letzten Baseball-Ergebnisse.
Wird ein ganzer Unternehmensprozess - wie die Bilanzbuchhaltung oder eben der Telefonservice - komplett in fremde Hände gegeben, spricht man vom Business Process Outsourcing (BPO). Indiens expandierendes Wirtschaftswachstum (s. Übersicht) beruht neben dem IT-Geschäft ganz wesentlich auf BPO. Der globale BPO-Markt umfasst derzeit rund 40 Milliarden Dollar, wovon laut dem Branchenverband NASSCOM allein 44 Prozent auf Indien entfallen. Die Call-Center sind Teil eines Wachstumssektors, der dort spätestens seit Ende der achtziger Jahre auch politisch eine vorzügliche Lobby hat. Mit dem Beistand der Regierung in Delhi entstanden so genannte Software Technology Parks, die interessierten in- und ausländischen Investoren neben einer qualitativ überdurchschnittlichen technischen Infrastruktur Steuerbefreiungen in Größenordnungen bieten. Kein Wunder, dass sich nur bis Ende 2004 4.644 Firmen in 40 solcher Parks niederließen.
Dieses großzügig und erfolgreich stimulierte Wachstum zeitigt nicht nur angenehme Wirkungen, wie John Baker bezeugen kann. Er arbeitet im Call-Center von Glocall Services in Delhi. Den erwähnten Wissenschaftlern Mehmood und Ghufran beschreibt er seinen rundum vermessenen Arbeitsalltag: Egal, was Baker tut, die Uhr läuft mit. Automatisch wird registriert, wann er sich in den Computer ein- und ausloggt, wann und wie lange er zur Toilette oder in die Kantine geht. 200 Anrufe tätigt er pro Schicht, alle nach dem selben vorgegebenen Skript, dabei läuft eine Überwachungskamera mit, und am Ende des Tages präsentiert der Computer routinemäßig eine statistische Aufstellung und Bewertung der geführten Gespräche. Im Schulungshandbuch seines Centers kann Baker bei Misserfolgen Trost finden: "Verwandeln Sie negative Gedanken in positive", heißt es dort etwa. Der Satz "Wenn der Computer wieder abstürzt, schreie ich" ließe sich, so das Handbuch, schließlich auch so schreiben: "Ich habe keinen Einfluss darauf, wann der Computer sich ausschaltet, es lohnt also nicht, sich darüber aufzuregen. Überdies bin ich vorbereitet. Ich habe einen Schreibblock und meine Notizen griffbereit, technische Schwierigkeiten werden meine Anrufe also kaum stören".
Arbeitskämpfe kennt die Branche kaum, eher stellen die hohe Fluktuationsrate - pro Jahr über 50 Prozent - und ein absehbarer Arbeitskraftmangel die größten Probleme dar. Seit kurzem allerdings lässt sich in Indiens Hightech-Metropolen ein neues Phänomen beobachten: Gastarbeiter aus Europa bieten sich an. Bisher kamen 30.000, um zeitweilig auf dem Subkontinent zu arbeiten, nicht zuletzt in einem Call-Center.
Indiens Ökonomie
2004/2005
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