Wahlkampf Karlsruhe hat entschieden: Priorität hat nicht die Wirtschaft, sondern das Klima. Die Union ist unfähig, das umzusetzen. Grün-Rot-Rot könnte es
Kapitalismus ist auch nicht mehr das, was er mal war. Im Geburtsland des Ottomotors breitet sich eine neue Antriebs-Generation aus, und was tut die Automobilindustrie? Sie ruft nach dem Staat. Nicht dass sie mit dem Finger auf andere zeigen wolle, sagt die Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA), Hildegard Müller – um im selben Atemzug doch genau das zu tun: Es fehle nun einmal an Ladesäulen für die vielen schönen Elektroautos. „Gerade im öffentlichen Raum ist noch viel Luft nach oben. (…) Die Umsetzung muss sich jetzt jeder Bürgermeister und Landrat ganz oben auf die Agenda für die nächsten Jahre schreiben. Diese Aufgabe kann man nicht wegdelegieren.“
Hildegard Müller ist den Älteren noch als CDU-P
als CDU-Politikerin und Staatsministerin im Kanzleramt von Angela Merkel in Erinnerung (2005 bis 2008). Ihr Parteifreund und Vorvorgänger an der VDA-Spitze, Matthias Wissmann, war von 1993 bis 1998 Verkehrsminister unter Helmut Kohl.Das muss nicht heißen, dass die Politik der Union mit den Wünschen und Interessen der Branche immer hundertprozentig übereinstimmt. Aber die klimapolitischen Bremsmanöver der Regierung Merkel, etwa bei der Verschärfung europäischer Abgas-Grenzwerte, sprechen eine deutliche Sprache. Wer sie nicht vergessen hat, muss sich schon Mühe geben, um zu übersehen, dass die Industrie die Vertretung ihrer Interessen hier und da erfolgreich „wegdelegiert“ hat. Und zwar an die Regierung.So ging es Jahr für Jahr, Monat für Monat, und Armin Laschet qualifizierte sich für den CDU-Vorsitz mit dem alten Scheinwiderspruch zwischen Klimaschutz und Wohlstand: „Ja, wir wollen die Klimaschutzziele einhalten, aber wir müssen auch über Industriearbeitsplätze in Deutschland reden.“ Womit, geschickt „veredelt“ durch das Arbeitsplatz-Argument, nichts anderes gemeint war als dies: Die Priorität für das Klima findet ihre Grenzen an den alten, klimaschädlichen Wirtschafts- und Arbeitsstrukturen.Wobei, um das vorwegzunehmen, gerade der Missbrauch des Arbeitsplatz-Arguments den vielleicht zynischsten Aspekt darstellt: Den Menschen, die heute Verbrennungsmotoren zusammenbauen, ist gerade nicht geholfen, wenn ihnen das leere Versprechen gemacht wird, es könne noch länger so weitergehen. Das lenkt nur ab von der schwierigen, aber unumgänglichen Aufgabe, für auskömmliche Arbeit in einer klimafreundlichen Wirtschaft zu sorgen. Diese Aufgabe erfordert sicher mehr an Selbstbestimmung der Beschäftigten, gewerkschaftlicher Macht und Umverteilung von Reichtum, als ein Armin Laschet jemals freiwillig zulassen würde.Vergesst die fossile IndustrieWährend also die CDU und ihr Kandidat wie gewohnt auf der Bremse standen, schossen die Grünen mit ihrem wesentlich eindeutigeren Bekenntnis zum Klimaschutz durch die Decke. Die Konstellation im Wahlkampf war damit einigermaßen klar: Schwarz gegen Grün, Industriestandort gegen klimafreundlich modernisierten Kapitalismus, „marktwirtschaftliche Instrumente“ gegen staatliche Eingriffe bis hin zu – Annalena Baerbock wagte das Wort sogar auszusprechen – „Verboten“.Aber nun geschah Unfassbares: Das Bundesverfassungsgericht nahm die politische Praxis, die aus dem hinhaltenden Widerstand der fossilen Fraktion entstand, nach allen Regeln der Kunst auseinander. Der Ende April gefasste Beschluss zum Klimaschutzgesetz lässt sich in seinem grundsätzlichen Gehalt nur als höchstrichterliches Bekenntnis zum entgegengesetzten Ansatz lesen: Die Rettung des Weltklimas und der Erhalt fossiler Industrien sind nicht etwa zwei gleichwertige Ziele, die miteinander austariert werden müssen. Nein, der Klimaschutz und mit ihm die Verhinderung einer globalen Katastrophe hat eindeutig Priorität. Und zwar auch dann, wenn der gute alte „Industriestandort“ dafür schneller und radikaler umgewandelt werden muss, als die mehr oder weniger faulen Kompromisse einer großen Koalition das bisher vorgesehen haben.Vom Tag des Karlsruher Beschlusses an war so viel über eilige Verschärfungen der Klimaziele zu lesen, dass fast der Eindruck entstehen konnte, die scheidende Merkel-Regierung inklusive CDU und CSU habe die Notwendigkeit dieses Paradigmenwechsels nun endlich erkannt. Innerhalb von Tagen waren die Ziele für die Reduzierung der Treibhausgas-Emissionen ambitionierter geworden, zu einer schneller zu erreichenden „Klimaneutralität“ und zum Komplett-Umstieg auf erneuerbare Energien bekannten sich wortreich alle Parteien außer der AfD. Mit Blick auf den 26. September war der Trend gesetzt: Wahlkampf in Grün.So sieht es zumindest an der Oberfläche aus. Es wäre allerdings ein großer Fehler, daraus nun auf die große Einigkeit zu schließen. Und mindestens ebenso verfehlt wäre es zu glauben, dass entschiedenem Klimaschutz durch eine schwarz-grüne oder grün-schwarze Regierung mit all den neuen Bekenntnissen der Weg geebnet wäre. Die zentralen Kontroversen nämlich, so sehr sie hinter der gemeinsamen Klimaschutz-Rhetorik zu verschwinden scheinen, stehen weiter auf der Tagesordnung. Sollten sie zumindest.Zugespitzt lässt sich das Spektrum der politischen Ansätze auf eine Entscheidung zwischen zwei Fragen reduzieren. Entweder: Wie viel Kapitalismus verträgt das Klima? Oder: Wie viel Klimaschutz verträgt der Kapitalismus?Wer für einen Moment geglaubt haben mag, ein Armin Laschet habe sich vom Anhänger der zweiten Frage zum Klimapolitiker gewandelt, wurde vom CDU-Vorsitzenden selbst spätestens am Sonntagabend eines Schlechteren belehrt. Bei Anne Will nährte er mit längst bekannten Tönen erneut die Illusion, Klimaneutralität sei ohne Abschied vom klassischen Industriestandort zu erreichen: „Ich will Deutschland zu einem klimaneutralen Industrieland machen. Das heißt aber auf Deutsch: Ich will auch noch eine Stahlindustrie haben.“Nun lässt sich lange darüber streiten, ob eine Stahlindustrie auf Wasserstoffbasis, wie Armin Laschet sie erwähnte, vielleicht tatsächlich irgendwann funktionieren könnte. Aber hinter der Parole vom Industrieland steckt in Wahrheit der Kern der Auseinandersetzung, die einen leidenschaftlichen Wahlkampf tatsächlich lohnen würde.Wollen wir die Stahlindustrie fossil weiterwirtschaften lassen, bis die Wasserstofftechnik reif ist? Wollen wir Verbrennungsmotoren verkaufen, bis die deutsche Autolust ganz von selbst mit Elektroantrieb gestillt werden kann? Besteht der Preis für Wohlstand unausweichlich darin, bis auf Weiteres Arbeit auf Kosten des Klimas anzubieten? Können wir wirklich erst 2038 aus der Kohle aussteigen, weil wir unfähig sind, für die Beschäftigten attraktive Alternativen zu finden? Würden Laschet, Lindner und andere plötzlich von Ehrlichkeitsanfällen heimgesucht – sie würden alle diese Fragen mit Ja beantworten. Und umgekehrt: Wenn Grüne, SPD und Linke ihre programmatischen Bekenntnisse zur Priorität des Klimaschutzes ernst meinen, kann ihre Antwort natürlich nur lauten: Nein.Das allerdings hat Folgen, über die im Wahlkampf viel offensiver zu streiten wäre, als sich das bisher abgezeichnet hat. Dass das Nein zum „Weiter so“ nur dann überzeugen kann, wenn die Konturen eines sozialverträglichen Umbaus erkennbar werden, dürfte den Grünen ebenso klar sein wie der SPD und der Linkspartei. Aber sind sie wirklich für den Moment gerüstet, in dem das marktliberale Lager so richtig in die Offensive geht, womöglich in verräterischer Einstimmigkeit mit einem ökologisch kurzsichtigen Dogmatismus bei Teilen der Linken?Probleme benennenDieser Moment zeichnet sich ja längst ab. Die Texte über Klimaschutz als Hobby einer „Lifestyle-Linken“, die sich höhere Strom- oder Spritpreise locker leisten kann und vom Abbau der Industriearbeitsplätze in ihrem Altbau-Homeoffice unberührt bleibt, werden immer weiter fortgeschrieben. Ein informelles Bündnis aus Kapital und Klassenkampf-Dogmatismus droht den Klimaschutz ausgerechnet daran scheitern zu lassen, dass es sich der sozialen Frage bedient.Dagegen gibt es zwei mögliche Vorgehensweisen. Die eine besteht darin, die sozialen Folgen des Umbaus, die es ja ohne Zweifel tatsächlich gibt, zu verschweigen oder zumindest mit nebulöser Rhetorik zu kaschieren. Das ist die Richtung, in die die Grünen in ihrem Bedürfnis nach allgemeiner Bündnisfähigkeit abzudriften drohen. Die zweite Vorgehensweise wäre zwar nicht risikofrei, aber am Ende vielleicht erfolgversprechender: die Offensive.Offensive, das heißt, den notwendigen Umbau in allen Aspekten offen zu benennen und nicht als negative Begleiterscheinung des Klimaschutzes, sondern als die große Chance zu verstehen, die er tatsächlich darstellt. Da ginge es um die Frage, wer die Schaffung gut bezahlter Jobs in ökologisch verträglichen Branchen, in der Bildung oder im Gesundheitswesen bezahlt. Es ginge um eine verlässliche soziale Absicherung der prekären Jobs, die im Wildwuchs der neuen Plattform-Ökonomie entstanden sind. Es ginge um eine öffentliche Daseinsvorsorge zum Beispiel bei Gesundheit und Mobilität, die für alle gleichermaßen einen barrierefreien Zugang böte. Es ginge um ein Steuersystem, das erkennbar und wirksam von oben nach unten umverteilt. Um eine Finanzierung des Klimaschutzes, die die Lasten gerecht verteilt. Und vieles andere mehr.In den Programmen von Grünen, SPD und Linken gibt es dazu einiges zu lesen. Aber in der breiten Öffentlichkeit wirkt es so, als wolle niemand das Fass allzu weit aufmachen. Die Grünen schielen zu sehr auf Wählerschichten, die mit der sozialen Frage eher weniger zu tun haben. Die SPD will wenigstens in der klassischen Industriearbeiterschaft, soweit noch vorhanden, ein paar Punkte machen. Und die Linke begeht den Fehler, aus der eigentlich notwendigen Verbindung der ökologischen mit der sozialen Frage einen innerparteilich ausgetragenen Widerspruch zu machen.Alle drei potenziellen Koalitionsparteien eines grün-rot-roten Bündnisses haben sich den öko-sozialen Umbau prinzipiell auf die Fahnen geschrieben. Aber zu einer eindeutig kontroversen Haltung gegenüber denjenigen, die den Klimaschutz am kapitalistischen Status quo enden lassen wollen, reicht es bisher nicht. Es wäre wenig gewonnen für das Klima, wenn die grundlegenden Unterschiede in einem Wahlkampf pauschaler grüner Bekenntnisse untergingen.