Nach allen Seiten offen

Wahl Die Grünen haben mit ihrem Habitus ein Mittel gegen die Reformangst gefunden. Aber so gefährden sie die öko-soziale Wende
Ausgabe 16/2021
Tatsächlich ist die Botschaft nicht zu unterschätzen, die in der wohlinszenierten Krönungszeremonie für Baerbock lag: Da trat auf höchster politischer Ebene ein Mann buchstäblich einen Schritt zurück, um einer Frau den Vortritt zu lassen
Tatsächlich ist die Botschaft nicht zu unterschätzen, die in der wohlinszenierten Krönungszeremonie für Baerbock lag: Da trat auf höchster politischer Ebene ein Mann buchstäblich einen Schritt zurück, um einer Frau den Vortritt zu lassen

Foto: Annegret Hilse/Pool/AFP/Getty Images

Claus Kleber hatte eine gute Frage. Zugeschaltet war im heute-journal Annalena Baerbock, seit wenigen Stunden Kanzlerkandidatin der Grünen. „Sie und nicht Herr Habeck“ sei es ja nun geworden, bemerkte der Moderator, und dann wollte er wissen: „Macht das in der Sache irgendeinen Unterschied?“

Diese Frage hatte Baerbock auch am Ende des gut fünfminütigen Interviews nicht beantwortet, obwohl Kleber nach einigen Gemeinplätzen der Kandidatin („Politik für die Breite der Gesellschaft“) tapfer insistiert hatte: „Die Frage war: Gibt es in der Sache einen Unterschied?“ Es half nichts, noch einmal folgte ein Loblied auf die innerparteiliche Harmonie, in dem handgestoppt alle 15 Sekunden das Wort „gemeinsam“ fiel. Nur einen tragfähigen Hinweis gab die Kandidatin: Bei der Entscheidung habe „auch die Frage von Emanzipation“ eine Rolle gespielt. Tatsächlich ist die Botschaft nicht zu unterschätzen, die in der wohlinszenierten Krönungszeremonie für Baerbock lag: Da trat auf höchster politischer Ebene ein Mann buchstäblich einen Schritt zurück, um einer Frau den Vortritt zu lassen. Und um die Peinlichkeit zu vermeiden, dass im Jahr 2021 drei Parteien mit drei Männern um das Kanzleramt konkurrieren.

Ansonsten aber war die K-Frage der Grünen ein Kampf unter Gleichgesinnten. Dass die Konkurrenz um Spitzenpositionen mit unterschiedlichen Inhalten, Akzenten oder Koalitionswünschen verbunden gewesen wäre, ist nicht zu erkennen. Was in fast allen Medien als „Geschlossenheit“ der Grünen bejubelt wurde, lässt sich auch anders beschreiben: Die Zeiten, in denen hinter umstrittenen Personalien auch ein Ringen um die inhaltliche Ausrichtung steckte, sind vorbei.

Es ging ausschließlich um Personen, und das gilt übrigens genauso für CDU und CSU. Natürlich ist die unappetitliche Abfolge von Tricks, Drohungen und Erpressungen, die Laschet und Söder bis zur Nominierung des CDU-Chefs boten, der stillen Entscheidungsfindung der Grünen an Peinlichkeit und Stillosigkeit um Lichtjahre voraus. Aber auch hier war von unterschiedlichen inhaltlichen Akzenten nichts zu hören. Bei der Union lässt sich der fast vollständige Verzicht auf Themen und Thesen leicht erklären: Erst mal die Führungsrolle sichern, das ist seit Jahrzehnten die Devise von CDU und CSU. Da ist es nur folgerichtig, dass sie ihren Kandidaten bestimmten, bevor die Arbeit am Wahlprogramm richtig angefangen hat.

Bei den Grünen dagegen waren Personalentscheidungen früher fast immer mit dem Ringen um die Dominanz bestimmter inhaltlicher Positionen verbunden. Aber das ist vorbei. Das Wahlprogramm haben sie längst präsentiert, die wenigen Konflikte, die damit verbunden waren, sind in mehr oder weniger aussagekräftigen Kompromissformulierungen aufgelöst.

In der grünen Partei des Jahres 2021 zählen vor allem zwei Tugenden: „Geschlossenheit“, wie sie einst nur unter Konservativen als Wert an sich galt, und Anschlussfähigkeit an die „Breite der Gesellschaft“. Die Partei will im Wahlkampf als in sich einheitliches, aber nach allen Seiten offenes Angebot punkten.

Das Problem: „Wer nach allen Seiten offen ist, kann nicht ganz dicht sein.“ Dieser Satz stammt zwar entgegen einer verbreiteten Annahme nicht von Kurt Tucholsky, wie intime Kenner des großen Satirikers betonen, zeitlos treffend ist er allemal.

Das muss nicht gleich heißen, dass Deutschlands grüne Partei unter einer kollektiv gestörten Psyche leidet. Ihre Strategie, nach rechts und links gleichermaßen anschluss- und koalitionsfähig zu sein, erscheint ja gemessen an den Umfragewerten geradezu rational. Das Mittel gegen deutsche Reformangst, ein maßvoll linkes Programm in die Watte eines rundum vertrauenerweckenden Habitus zu packen, zeigt offenbar Wirkung.

Wer also unter politischer Weisheit nichts anderes versteht als die Fähigkeit zur populärsten „Performance“, kann diese grüne Partei nur loben und preisen, und nach der Entscheidung für Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin ist genau das bis weit hinein in den konservativen Teil der Medienlandschaft geschehen. Warum also „nicht ganz dicht“?

Vor allem deshalb, weil diese Strategie geradewegs in diejenige Koalition zu führen droht, die zur Programmatik der Grünen am wenigsten passt: Schwarz-Grün. Es mag ja sein, dass da für Klima und Umwelt etwas mehr herauszuholen wäre als jetzt mit Schwarz-Rot. Aber die größte Annäherung an ihre eigenen Ziele könnte die neue grüne Volkspartei eindeutig mit SPD und Linken erreichen.

Nun sprechen die Umfragen derzeit nicht für Grün-Rot-Rot. Aber könnte das nicht gerade mit der Strategie zu tun haben, die die Grünen jetzt auch im Wahlkampf einsetzen wollen? Sie beruht ja geradezu darauf, den Kampf um gesellschaftliche und dann politische Mehrheiten für eine ökologisch-soziale Wende nicht offensiv zu führen – in der Hoffnung auf Zuspruch aus der ominösen „Mitte“.

Der Preis dafür, dass das Ziel eines eher linken Bündnisses seit Jahren nicht konsequent verfolgt wurde, könnte also die „alternativlose“ Juniorpartnerschaft der Grünen unter einem Kanzler Armin Laschet sein. Der „Breite der Gesellschaft“ dürfte das, so wie die Stimmungslage aussieht, vielleicht sogar gefallen. Aber die öko-soziale Wende wäre wieder einmal verschoben.

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