Der Moment der Solidarität

Stillstand Die Geldströme sind unterbrochen, Staaten verschulden sich massiv: Im Angesicht der Corona-Krise wird klar, dass der Kapitalismus den Menschen nicht helfen kann
Ausgabe 13/2020

Jetzt überschlagen sich viele Wirtschaftsliberale mit Staatsliebe. „Falsche Sparsamkeit“, warnt der FDP-Haushaltspolitiker Otto Fricke, könne uns „schnell teuer zu stehen kommen“. Den Staat an Privatkonzernen zu beteiligen, findet der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie „vertretbar“. Und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erklärt gar: „Diese Pandemie hat jetzt schon deutlich gemacht, dass es Güter und Dienstleistungen gibt, die außerhalb der Marktgesetze gestellt werden müssen.“ Mit ihrer Kehrtwende revidieren die Marktfreunde nicht ihre Theorien, sie werden schlicht von der Realität überrannt: Die Corona-Krise führt absehbar zur größten ökonomischen Belastung in Friedenszeiten, wohlgemerkt für die großen Industrieländer; in armen Staaten kommen derartige Verheerungen öfter vor.

Worin besteht diese Belastung? Weniger in der Tatsache, dass Menschen der Arbeit fernbleiben und daher Güter des täglichen Bedarfs nicht mehr produziert werden. Angesichts leerer Regale für Toilettenpapier werden Politiker und Manager nicht müde zu betonen, dass die Versorgung – zumindest im reichen Norden – nicht gefährdet sei. Zwar sind Teile des globalen Produktionssystems lahmgelegt. Doch Herstellung und Verteilung notwendiger Güter finden weiter statt. Freilich kommen die Gesetze des Kapitalismus dieser Versorgung in die Quere. Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus – die Schließung von Fabriken, Geschäften, Restaurants – führen zu einer Unterbrechung all der Geldströme, die den globalen Warenfluss normalerweise am Laufen halten.

Das Wunder des Kredits

Das gegenwärtige Wirtschaftssystem basiert auf Tausch gegen Geld. Wer etwas braucht, muss zuerst etwas verkaufen, um Geld zu verdienen, mit dem er sich dann Güter aneignen kann. Unternehmen verkaufen Waren und machen einen Profit. Arbeitnehmer verkaufen ihre Arbeitskraft an die Unternehmen und erhalten dafür einen Lohn, mit dem sie ihr Leben bestreiten. Der Corona-Lockdown zerreißt diese Kette: Menschen müssen zu Hause bleiben, verlieren Lohnanteile oder gleich ihren Job. Selbstständige verlieren Aufträge, Unternehmen müssen schließen und verlieren Umsatz. Damit fehlt ihnen das Geld, um einzukaufen. Der ewige Zirkel aus Investition-Produktion-Verkauf-Neuinvestition wird unterbrochen. Das wiederum treibt Produzenten in die Pleite.

Das der Logik des Kapitalismus eigentlich adäquate Ergebnis: Arbeitskräfte sind vorhanden, auch die Mittel zur Produktion, von Rohstoffen über Maschinen bis zu Anlagen. Dennoch droht Stillstand. Denn allen fehlt das Geld. Der Geldmangel ist nicht mehr nur ein Problem bestimmter Gruppen, der „Abgehängten“, sondern generalisiert: Allseitiger Mangel steht neben allgemeinem Reichtum. Die Menschen sind von den Gütern zur Bedürfnisbefriedigung und den Mitteln zu ihrer Produktion getrennt.

Für den Kapitalismus steht damit eine fundamentale Krise an, hängt er doch davon ab, dass die Produktion nie stillsteht. In dieser Situation springen die Staaten ein und veranstalten einen Kapitalismus neuen Typs: Über Verschuldung schaffen sie Abermilliarden an Zahlungsfähigkeit, wo keine mehr ist. Auf diese Weise halten sie die Versorgung der Menschen aufrecht, indem sie die Logik des herrschenden Wirtschaftssystems umgehen – allerdings ohne diese Logik aufzugeben.

Bis zum Wochenende hatten Regierungen weltweit Hilfen über 3.000 Milliarden Dollar angekündigt – und es werden täglich mehr. Sie unterstützen das Kleingewerbe mit Krediten, zahlen Lohnabhängigen Zuschüsse, stellen Großkonzernen Eigenkapital in Aussicht und halten daneben mit Unsummen das Bankgewerbe liquide. Dazu kommen Mehrausgaben, um das Virus zu bekämpfen. Zugleich sinkt die Wirtschaftsleistung und damit absehbar das Steueraufkommen. Das Ergebnis: Die staatliche Neuverschuldung steigt rapide an. „In Kriegszeiten leiht man sich immer wie verrückt“, erklärt Ed Yardeni vom Finanzanalysehaus Yardeni Research.

Die Haushaltsdefizite dürften dieses Jahr Höhen erreichen, wie sie sonst nur in Kriegen vorkommen. Denn die Regierungen nutzen ausgiebig das Wunder des Kredits, der es ermöglicht, Geld auszugeben, ohne vorher welches eingenommen zu haben. Sie ziehen Zahlungsfähigkeit an sich oder schaffen sie neu, um damit einen funktionierenden Kapitalkreislauf zu fingieren. Das können sie allein auf Basis ihrer Macht: ihrer Kreditwürdigkeit auch und gerade in Zeiten allgemeiner Verunsicherung.

Außer Kraft setzen die Regierungen die Regeln des Marktes nicht, auch nicht die des Finanzmarktes. Nach diesen Regeln drohen bei steigenden Schulden höhere Zinsen und schließlich die Zahlungsunfähigkeit – besonders angesichts der Tatsache, dass die Staaten noch hohe Schulden aus der erst zehn Jahre zurückliegenden Finanzkrise geerbt haben. Diese Regel zu umgehen, ist nun die Aufgabe der Zentralbanken, also jener Institutionen, die kraft staatlicher Erlaubnis Geld schöpfen können. Mit dieser Erlaubnis ausgestattet, agieren sie als Käufer und so Garanten der Schulden ihrer Staaten: Sie kaufen sie auf.

Die US-Zentralbank hat ein Programm zum unbegrenzten Aufkauf von US-Staatsanleihen aufgelegt. Die Euro-Zentralbank verfährt ähnlich (Lesen Sie Seite 7). Die Bank of England erhöht ihr Kaufprogramm auf 650 Milliarden Pfund, fast 30 Prozent der britischen Wirtschaftsleistung. Mit diesen Milliardenkäufen verhindern sie, dass die Schuldscheine ihrer Regierungen an Wert verlieren und damit die Zinsen steigen. Die Zentralbanken präsentieren sich damit als letzte Gläubiger ihrer Staaten, als „lenders of last resort“. Darüber hinaus kreditieren sie ihre Bankensektoren mit weiteren Milliarden, damit die Finanzhäuser ihrerseits billige Kredite an Unternehmen und Privathaushalte vergeben.

So sieht Finanzierung im Kriegskapitalismus aus: Eine Regierung verschuldet sich und gibt dafür eine Anleihe heraus. Die Bank erwirbt die Anleihe und borgt dem Staat Geld. Anschließend verkauft die Bank die Anleihe an die Zentralbank oder beleiht sie dort, um sich neues Geld zu besorgen. Das Geld hat die Zentralbank nicht eingenommen, sie schafft es selbst. Der Wirtschaftskreislauf basiert momentan also auf einem doppelten staatlichen Kredit: Regierungen verschulden sich und pumpen Geld in den Privatsektor, dessen Zahlungsketten gerissen sind. Die staatlichen Schuldscheine garantiert die Zentralbank, sie hält dadurch die Zinsen niedrig und gewährleistet so, dass die gestiegene Schuldenlast tragbar bleibt. Wie lange das gut gehen kann, weiß niemand. Die private Wirtschaft hängt derzeit am Kredit des Staates und damit an seiner Kreditwürdigkeit. Wird die angezweifelt, kann es zur Flucht in Sachwerte kommen und zur Inflation. Doch auch darauf könnte eine Regierung reagieren: Hält die Krise lange an, „dann könnten wir eine auf breiter Front staatlich geprägte Volkswirtschaft bekommen“, so Deutsche-Bank-Chefökonom David Folkerts-Landau, einschließlich Preiskontrollen und einer Einschränkung der freien Lohnbildung.

Entscheidendes Mittel der Staaten im Kampf gegen das Virus ist also – ihre Kreditwürdigkeit. Mit ihrer Verschuldung fingieren sie Zahlung, obwohl es sich letztlich um Kredite, also um Zahlungsversprechen handelt. Damit kaufen sie sich und ihren Ökonomien Zeit, in der Hoffnung, dass die private Wirtschaft im zweiten Halbjahr 2020 wieder anzieht und die Schäden vorübergehend bleiben. Ob es so kommt oder nicht, ist unsicher. Sicher aber ist: Es kommt der Tag der Abrechnung. Denn Kredite wollen zurückgezahlt und bedient werden. Dann stellt sich die Frage: Wer zahlt?

Natürlich wäre die Streichung von Schulden nach der Krise eine naheliegende Idee, schließlich dienen sie ja nur dazu, einen gesellschaftlichen Notstand zu überbrücken. Doch sind die Schulden der einen stets das Vermögen der anderen. Die Streichung von Krediten – wenn etwa Staatsanleihen annulliert würden – führte zu einer gigantischen Entwertung von Finanzkapital und zum Untergang der Gläubiger. So würde sich rächen, dass die aktuelle Krisenbewältigung nicht mit der Logik der Rendite gebrochen, sondern sie nur umgangen hat.

Insofern zeigt die aktuelle Krise weniger, was geschieht, wenn der Kapitalismus nicht mehr funktioniert. Sie zeigt, wie er funktioniert. Zum Beispiel, dass nicht Markt oder Investitionen den globalen Reichtum und die Versorgung der Menschheit besorgen, sondern die Menschen, die jeden Tag zur Arbeit gehen. Und dass ihre Arbeit und ihre Versorgung auch unabhängig vom Markt organisiert werden können. Zwar erhalten die Staaten derzeit die Prinzipien von Markt und Profit über Verschuldung künstlich aufrecht, letztlich aber sind ihre Ausgaben nichts anderes als staatliche Anweisungen zur Produktion und Verteilung von Gütern und damit der gesellschaftlichen Arbeit. Wenn derzeit Konzerne wie Volkswagen oder Daimler erwägen, statt Autos Ventilatoren und Atemschutzmasken produzieren zu lassen, dann bekommt man eine leise Ahnung davon, was alles möglich wäre, wenn der Zweck der Wirtschaft nicht mehr die Vermehrung von Geldsummen wäre. Könnten diese Konzerne am Ende auch nachhaltige Fahrzeuge bauen?

Zu lernen wäre gegenwärtig auch, dass es die gesellschaftlich besonders bedeutenden Tätigkeiten sind, die oftmals schlecht bezahlt werden. Die Krise zeigt unser Aufeinander-angewiesen-Sein: Während in normalen Zeiten sich jeder um sich selbst kümmert, sein Einkommen und sein Vermögen zählt, so wird deutlich, dass wir jenseits der finanziellen Sphäre – bei Produktion und Verteilung der Güter – alle voneinander abhängen, dass wir mit- und füreinander tätig sind. Sogar im Kapitalismus.

Mal Hamster, mal Held

Auch demonstriert die Krise, dass ein Virus keine Naturgewalt ist. Sondern dass es sich bei der „Corona-Krise“ im Kern um eine drohende Krise der Infrastruktur handelt, die wir alle bereitstellen. Wir sind nicht ausgeliefert – den Gewalten der Natur nicht, den Gewalten des Marktes schon gar nicht, die sind gesellschaftlich gesetzt.

„Langfristig gesehen ist meine größte Furcht nicht, dass die Covid-19-Pandemie alles ändert“, sagt Jerome Roos von der London School of Economics, „sondern dass sie gar nichts ändert.“ Das würde bedeuten, dass der Moment der Solidarität verstreicht und wir nach der Krise wieder alle gegeneinander aufgestellt sind: Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Mieter und Vermieter, Schuldner und Gläubiger, Arme und Reiche.

Ob das überhaupt möglich ist, bleibt jedoch fraglich. „Was geschieht“, fragt Roos, „wenn eine Jahrhundert-Pandemie und die tiefste Rezession in Friedenszeiten auf eine global rekordhohe Verschuldung treffen? Das kann für den Status quo nicht gut ausgehen.“ Man sollte über einen systemischen Wandel nachdenken. Wer hier einwendet, der Mensch sei nun mal leider nicht so, er strebe nach Geld und Konkurrenz, dem sei entgegnet: Selbst der Kapitalismus würde ohne allseitige Kooperation keinen Tag überleben. Und zur Menschennatur entnimmt man der aktuellen Krise: Es gibt sie nicht – der Mensch ist mal ein Hamster und mal ein Held.

Null war gestern

Rettungspaket Die Schwarze Null ist Vergangenheit. Der Bund wird 2020 neue Kredite von rund 156 Milliarden Euro aufnehmen, um Steuerausfälle von mehr als 30 Milliarden Euro und die Schrumpfung der Wirtschaft um laut ifo-Institut bis zu 21 Prozent zu kompensieren. 50 Milliarden entfallen auf Einmalzahlungen von bis zu 15.000 Euro für Solo-Selbstständige und Kleinunternehmer. 7,7 Milliarden mehr erhält das Sozialministerium, u.a. für Arbeitslosengeld II. Schutzausrüstung, Impfstoffentwicklung u.Ä. schlagen mit zunächst 3,5 Milliarden zu Buche, 55 Milliarden stehen für die Pandemiebekämpfung im Weiteren bereit. Darüber hinaus soll der Hunderte Milliarden schwere und vor allem über die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) laufende Wirtschaftsstabilisierungsfonds helfen, Großunternehmen zahlungsfähig zu halten oder den Staat an ihnen zu beteiligen.

Stephan Kaufmann ist (Mit-) Autor der Bücher Ist die ganze Welt bald pleite?, Kapitalismus: Die ersten 200 Jahre und Crash Kurs Krise, die im Bertz+Fischer Verlag erschienen sind

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