Kathrin Passig wird älter. Das merkt man daran, dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung langsam, aber sicher von der Kategorie „wahnsinnig schlau“ in die Kategorie „eigentümlich weise“ wechselt. Wer Passig bei Vorträgen oder auf Podien erlebt, wer ihre Essays liest, die sie gelegentlich in Zeitungen und Magazine streut, darf staunen. Ganz beeindruckend wirkt die immer größere Ruhe und die immer lakonischere Souveränität, mit der sie über aktuelle und nächste Entwicklungen der Netzkultur spricht.
Wo andere im aufschwellenden und überkochenden Durcheinander einer digitalisierten Gegenwart geblendet sind oder schwarz sehen, wo sie verzweifelt schweigen, sich die Finger wund twittern, abstumpfen oder ausfallend werden, wo selbst gestandene Intellektuelle zu Dumpfbacken werden, da wirken Kathrin Passigs Mitteilungen ungemein beruhigt. Und sie wirken beruhigend. Wer sich fragt, wie sie das hinkriegt, bekommt jetzt ein kleines Erklärbuch in die Hand. Vielleicht ist das neu und erfreulich, heißt es. Und, ja, das ist es.
Zusammengefasst sind hier drei Vorträge, die Passig auf Einladung des Literaturhauses in Graz gehalten hat. Gebeten wurde sie, etwas über die Kunst des Schreibens unter Netzbedingungen zu erzählen. Geliefert hat sie funkelnde Bruchstücke zur Netzlebenskunst, die man dringend lesen sollte. Jedenfalls dann, wenn man schlauer und irgendwann mal auch ein bisschen weise werden möchte.
Bei Kathrin Passig geht das mit dem Schlau- und Weisewerden nämlich so. Erste Regel: Man sollte mit allem nicht zu ungeduldig sein. Wann immer man glaubt, es gehe mit dem Fortschritt nicht flott und nicht richtig genug, das Leben werde durch das Netz ja gar nicht richtig zum Guten verändert, besonders das Schreiben, das Lesen, die Literatur und ihre Kritik hätten sich durchs Netz ja gar nicht richtig weiterentwickelt, allenfalls habe ihre Qualität gelitten, wo sie nicht mehr so zirkuliert, wie sie das noch in Buchform getan hat, da empfiehlt sie: erst mal den Erwartungsdruck rausnehmen.
Passigs Empfehlung klingt so, wie sie selbst in Erscheinung tritt. Keine Hektik, bitte. Bloß nicht hetzen. Locker bleiben. „Es dauert immer alles länger.“ Was nicht ist, kann ja noch werden. Man sollte es deshalb nicht mit schlechter Laune blockieren.
Schön bescheiden bleiben
In ihrem Büchlein listet Passig dafür einmal mehr die Missverständnisse, Fehleinschätzungen und zum Teil durchgedrehten Warnungen auf, von denen die Einführung neuer Technologien und Medien immer schon begleitet wurde. Dass an den Erfolg des Telefons, des Faxgeräts oder des Personalcomputers zu Beginn auch nicht so geglaubt wurde, wie er sich dann eingestellt hat, ist ja längst bekannt. Passig empfiehlt, alle Neuerungen so anzuschauen. Nicht als Quelle frustrierender Enttäuschungen. Sondern als Generatoren möglicher Überraschungen.
Um diese Überraschungen aber überhaupt annehmen zu können, lernt man bei Kathrin Passig für das Schlau- und Weisewerden: Man sollte Einsicht in die eigene Kurzsichtigkeit haben. Man soll mal schön bescheiden bleiben und die Position nicht überschätzen, die man einnimmt, um die Gegenwart zu verstehen und in die Zukunft zu schauen. Vielleicht steht man ja falsch. Vielleicht guckt man nur doof. Vielleicht hat man auch einfach nur ein Brett vor dem Kopf und kann die entscheidenden Veränderungen gar nicht richtig sehen. Vielleicht liegt es daran, dass man doch zu sehr am Alten hängt. Weil man alles am Alten misst. Weil man sich nicht umstellen kann und nicht umstellen will.
Auf jeden Fall gilt für Passig: „Das Neue ist schwer zu erkennen.“ Im Zentrum des Üblichen und sowieso schon Bekannten findet man es jedenfalls nicht. Man müsse, sagt Passig, „dort suchen, wo Verachtung und Desinteresse sind“. Was gerne übersehen wird, was peinlich wirkt, was Widerstände herruft, das nimmt man sich am besten mal genauer vor.
Deshalb lautet die Erfolgsformel für die Entdeckung von Überraschungen in der literarischen Netzkultur: Wo und wann immer die feinen Seelen des klassischen Feuilletons Iiih und Pfui und Buh rufen, scheint mit Sicherheit etwas Interessantes versteckt zu sein.
Fan-Fiction? Pornografisches Self-publishing? Printing-on-Demand? Kollektives Schreiben? Hobbykritik bei Instagram und Youtube? Für Passig sind das „die naheliegendsten Beispiele, auf die man verfällt, wenn man am Rande des etablierten Literaturgeschehens herumtastet“, um die Stellen zu finden, an denen es auch ihr selbst noch wehtut und wo sie ihr Denken umstellen muss. Folgerichtig vermutet sie in ihren Vorlesungen, die sie ja ausgerechnet in einem Literaturhaus zur Kunst des Schreibens hält, „dass man die eigentlich interessantesten Veränderungen nicht in Literaturhäusern oder in ‚Vorlesungen zur Kunst des Schreibens‘ ausfindig machen wird“. Und so ganz lakonisch fügt sie hinzu: „Auch nicht, wenn man ich ist.“
Daraus ergibt sich die Passig’sche Schlau- und Weisewerde-Regel Nummer drei. Wenn du an die Ränder gehst, wenn du dich für Nischen interessierst, wenn du das beachtest, was bisher übersehen wird, dann: Mach die Augen auf. Guck genau hin. Sammle es ein. Dokumentier es. Denk drüber nach. Und wenn du es jetzt noch nicht verstehst, guck es dir später wieder an. Bedenke immer: Es könnte sein, dass du jetzt noch ein Brett vor dem Kopf hast. Lass dich von den Dingen überraschen, statt sie mit schlechter Laune wegzutun.
Deshalb ist auch dieses neue Büchlein von Kathrin Passig angefüllt mit lauter leuchtenden Kleinigkeiten. Zum Beispiel über das Kaufen, das Haben und das Sammeln von Texten. Passig interessiert sich für Regale diesseits und jenseits der Bildschirme, für die Anordnung, das Zeigen, Besprechen und Wegwerfen von Büchern, Bücherattrappen und ihren elektronischen Versionen, die man auf dem Smartphone liest. Passig bietet Puzzlestückchen aus Büchern, Zeitungen, aus Katalogen, Netzartikeln, dazu Tweets und Posts und Mikrobeobachtungen von eigenen Streifzügen an den Rändern der Jetztzeit. Passig sammelt sie seit Jahren mit dem unerschütterlichen Optimismus ein, dass man sie zum Sprechen bringen kann und sie dann vom Neuen Auskunft geben. In ihren Vorträgen schüttet sie das Eingesammelte aus und sortiert es mit leichter Hand, damit es sich besser verstehen lässt.
Fan-Fiction für die Gegenwart
So erweist sich Passig auch mit diesem Büchlein als großer Fan der Gegenwart. Sie steckt mittendrin. Und sie bewegt sich in ihr mit der ruhigen Gewissheit, sie könne sich fortwährend aus einem Überfluss von Materialien bedienen, in den sie nur die Hand hineinhalten muss, um sich mit Energie zu versorgen.
Ganz gleich, wo sie hinguckt, sie findet etwas. Und immer etwas Interessantes. Immer ist etwas dabei, das eigenartig, merkwürdig, verwirrend ist, das nicht in sich selbst aufgeht, den eigenen Horizont überschreitet. Und von dem sie deshalb etwas lernen kann. Kein Zufall, dass Kathrin Passig auch diesmal immer wieder auf Vorläufigkeiten hinweist. Nicht nur sind die Texte, die hier zu lesen sind, aus vorläufigen anderen Texten heraus weitergedacht und weitergeschrieben. Auch ist das Gedruckte selbst nur vorläufig fixiert. Die Vorträge markieren lose geknüpfte Zwischenstände. Es sind Updates als Voraussetzung dafür, weitere Updates zu machen. Keins davon nimmt sich zu ernst. Aber jedes ist wichtig genug, weil es die Voraussetzung für das Nächste ist.
So hat Kathrin Passig im Grazer Literaturhaus nicht nur etwas über die Kunst des Schreibens unter den Bedingungen der Netzkultur erzählt. Sie hat es zugleich vorgeführt. Warum zu dieser Performance auch ein kleines gedrucktes Büchlein gehört, löst sie am Ende anekdotisch auf. Im Gedruckten schießt noch einmal für einen Moment zusammen und wird sichtbar und nachvollziehbar festgehalten, was schon im nächsten Moment wieder Material für nächste Lektüren, nächste Texte und nächste Vorträge werden kann. Das ist schlau. Das ist weise. Das ist Passig.
Info
Vielleicht ist das neu und erfreulich. Technik, Literatur. Kritik Kathrin Passig Droschl 2019, 119 S., 15€
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