Unter billigem Firnis

Buchmesse In ihrem Debutroman „Schipino“ setzt Svenja Leiber zum großen Lob der Demut an

Irgendwie kommt es einem fast folgerichtig vor, dass die Jury des Deutschen Buchpreises einen Roman, der von Demut handelt, einfach übersieht. Und tatsächlich scheint Svenja Leibers Schipino auch eher unter die „Schönsten Bücher“ zu gehören, die jedes Jahr auf der Frankfurter Buchmesse (Halle 4.1) ausgestellt und geehrt werden. Denn dieser Roman ist nicht romanhaft im herkömmlichen Sinne, sondern ein perfekt gearbeitetes Tableau. Die Folie bildet Schipino, eine heruntergekommene russische Siedlung; es gibt nur noch einen einzigen Herd, der Traktor geht im Verlauf des Romans kaputt, und wenn irgendwann der Strom ausfällt, wird Schipino tot sein. Ein paar Leute sind dort gestrandet, bewegen sich nicht groß. Einer ist dick, eine näht in wunder Trauer Kleider und merkt gar nicht, dass ein dritter sie liebt.

Und dieses Beinahe-Nichts ist erzählt in einer Sprache, die schwer und bildreich ist und den Leser wie ein schwerer Wein tief in den Sessel drückt. Und immer, wenn er aufstehen will, weil die Geschichte bei allem Genuss an der Sprache nun doch gar zu schwindsüchtig wird, passiert etwas: Der Herd wird gestohlen, einer nimmt sich das Leben.

Die Leute in diesem Schipino, das vor ihren Augen zerfällt, ohne dass sie einen Finger krümmen würden, sprechen der Natur Macht und Magie zu. Und auch ihr Sprechen hat etwas Archaisches, weil sie sich an Volksweisheiten entlanghangeln, die wir, Götzendiener der Originalität, vielleicht für Klischees halten würden. „Wenn der Körper ruht, arbeitet das Herz.“ Die Erde ist ja rund: Was soll man schon Neues sagen. Also kann man getrost schweigen oder Plumpsklo-Sprüche machen wie Jan Riba und sein Freund Viktor, während sie „sich die Fußrücken kratzen“ oder „Sternschnuppen zählen“. „Lieber würde er seine Zahnbürste abkochen, wenn sie ins Plumpsklo gefallen wäre, als sich die nächsten Wochen die Zähne nicht putzen zu können.“

Doch dieses vermeintlich einfache russische Leben, das in der Natur stattfindet und in dem es jeden Tag Grütze und Musik gibt, ist ein dünnes Eis. Als Utopie hat der Ort angefangen, wurde gebaut um Mascha herum, ein Kind, dem aus purer Bosheit Entsetzliches angetan worden war, und das sie heilen wollten. Aber sie konnten das Böse nicht fernhalten aus ihrer Gemeinschaft und gehen nun daran zugrunde. Weil Russland eben keine Idylle ist, sondern ein kaputtes, verrohtes, dreckiges Land, und die russische Seele ein Scheiß.

Es ist wie ein abergläubisches Spiel: Weil Mascha in Schipino nicht geheilt werden konnte, wird Schipino untergehen. Es sei denn, der lebensmüde Deutsche Jan Riba kann in Schipino geheilt werden, dann wäre die Geschichte versöhnt. Weil alles Kaputte, Dreckige gewissermaßen nur billiger Firnis ist, vor einem Jahrhundert über eine alte Kultur geschmiert, die nur darauf wartet, ihre archaische Kraft zu entfalten. Und das Mittel, diese archaische Kraft anzapfen zu können, ist Demut. So einfach ist das. Und so schön.

Und eben irgendwie auch unzeitgemäß; „Bescheidenheit ist eine Zier“ stickt sich heute keiner mehr ins Handtuch. Andersherum bedeutet das aber auch: In Svenja Leibers unglaublich dezentem Roman wird man vergeblich nach einem einzigen gespreizten Bild suchen. Anhand einer kleinen russischen Siedlung hat die 1975 geborene Autorin, die für ihren 2005 erschienenen Erzählband Büchsenlicht großes Lob und wichtige Preise erhielt, etwas Allgemeingültiges erzählt, das über die Zeit bestand hat: Dass Demut – manche sterben ja lieber, als sich ihr zu beugen – uns heilen und retten und nähren kann, jeden einzelnen und die Welt. Das mag jetzt ziemlich pathetisch daherkommen, aber wo die Jury des Deutschen Buchpreises Welthaltigkeit als Kriterium für die Qualität von Literatur ausgerufen hat, muss an dieser Stelle völlig unpathetisch gesagt werden: Schipino ist ein verdammt guter Roman.

SchipinoSvenja Leiber Schöffling & Co. 2010, 208 S., 18,95

Susann Rehlein arbeitet als Lektorin und Autorin und lebt in Berlin

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