Der Fremde

KEHRSEITE Hungrig betreten wir die Wirtschaft: anatolische Spezialitäten. Wir gehen nach hinten zu den Tischen, vorbei an einem älteren Herrn. Er sitzt am ...

Hungrig betreten wir die Wirtschaft: anatolische Spezialitäten. Wir gehen nach hinten zu den Tischen, vorbei an einem älteren Herrn. Er sitzt am Tresen, raucht eine Zigarette und grüßt uns beim Vorbeigehen. Kennst du den? frage ich meinen Begleiter, als wir Platz gefunden haben. Er schüttelt den Kopf, auch mir ist er fremd. Aus den Augenwinkeln beobachten wir ihn: Er hat einen gepflegten grauen Schnauzbart und trägt einen Anzug, eine Krawatte. Er fällt auf, ein "feiner Herr".

Über dem Knoblauchduft der Vorspeisen vergessen wir den Unbekannten, doch als wir zahlen und gehen wollen, kommt er zu uns. Erkennen Sie mich denn nicht? fragt er meinen Freund. Wir haben uns bei der Personalversammlung gesehen, ich arbeite bei der Stadt, als Sperrmüllsammler, wissen Sie.

Er setzt sich zu uns, als wir ihn darum bitten. Und erzählt ein bisschen aus seinem Leben. Wie er vor Jahrzehnten aus Ostanatolien nach Deutschland gekommen ist. Wie er bei der Müllabfuhr angefangen hat. Dass das Geld nicht gereicht hat - er plante fürs Alter: ein Haus in der Türkei, die Zukunft seiner Kinder. So hat er es erst mit Teppichhandel probiert, nachmittags, nach der Frühschicht. Leider ohne Erfolg, rote Zahlen, musste das Geschäft aufgeben.

Und jetzt hat er dieses Lokal gepachtet und eingerichtet, besorgt die Einkäufe auf dem Großmarkt - die Arbeit am Abend überlässt er dem Sohn, dem zweitältesten. Sein Erstgeborener führt auch eine Speisewirtschaft, in einem anderen Stadtteil. Und zur Zeit richtet er ein drittes Restaurant für die Tochter ein, dann sind alle Kinder versorgt. Aber nun müssen wir ihn entschuldigen, weil soeben ein Freund gekommen ist. Er steht auf, begrüßt einen weiteren feinen Herrn, setzt sich mit ihm an die Theke. Es sieht nach Geschäften aus. Ob wir ihn wieder erkennen, wenn er im orangefarbenen Overall durchgesessene Sofas vom Straßenrand aufklaubt?

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