Das Leben in der Niederlausitz war von Beginn an kein einfaches. In dicke Stoff- und Felllappen gehüllt hockten die slawischen Einwanderer wohl um 700 n. Chr. an bitterkalten Wintertagen um kleine Feuer in ihren ebenerdigen Holzbauten. Kaum war der Winter vorbei, peinigten Millionen Stechmücken und Insekten die Bewohner. Nicht nur das Klima war schwer zu ertragen, auch der Anbau von Gemüse und Getreide war inmitten der sumpfigen Landschaft nahe der heutigen polnischen Grenze sicher kein Kinderspiel.
Doch all die Jahrhunderte ahnte niemand, dass unter dem matschigen Boden ein Schatz schlummert, der 1500 Jahre später für den größten Umbruch in der sorbischen Geschichte sorgte – und an dem eine der letzten ethnischen Minderheiten in Deutschland fast zugrunde ging: Im 18. Jahrhunderts entdeckte man in der Gegend ein Kohleflöz.
„Die Braunkohle hat unser Leben in der Lausitz komplett über den Haufen geworfen“, erzählt David Statnik, Vorsitzender des Bundes Lausitzer Sorben. „Seit der Entdeckung der Kohle verschwanden mehr als 130 Ortschaften und Siedlungen, die zum großen Teil auch sorbisch geprägt waren.“ Insgesamt seien 25.000 Menschen von der Umsiedlung und Devastierung aufgrund der Braunkohle-Tagebaue betroffen. Die meisten unter ihnen Sorben, die seit jeher in dörflichen Strukturen lebten. „Das hat dazu geführt, dass wir an Sprachsubstanz und Traditionen verloren haben.“
Mit der großen Völkerwanderung waren ganze Stämme der sorbischen Volksgruppe aus den Regionen, wo später Polen, Rumänien und die Ukraine liegen sollten, bis in die Gegend der germanischen Stämme gekommen. Die hatten sich zuvor größtenteils aus dem unwirtlichen Gebiet im Osten verabschiedet und überließen den Ankömmlingen ein Gebiet, um das sich niemand gern stritt. Die sorbischen Einwanderer brachten ihre eigene Sprache mit, ihre Tänze, Küche und ihr Kunsthandwerk. Und sie gaben der Gegend auch ihren Namen: Lausitz, oder sorbisch łuža (gesprochen: „wuscha“), was so viel wie morastig-sumpfige Wiese bedeutet.
Für David Statnik ist die Braunkohle bis heute Fluch und Segen seiner Volksgruppe. Trotz der Entbehrungen hätten auch viele Menschen in der Kohle Lohn und Brot gefunden. Und ohne die Kohle hätte sich wahrscheinlich nie jemand wirklich für die Lausitz interessiert – jedenfalls keiner der Fürsten, Kaiser, Reichspräsidenten oder Staatsratsvorsitzenden. Denn plötzlich lag da vor den Toren Berlins eines der größten regionalen Energievorkommen. Und das nur wenige Meter unter der Oberfläche. In Zeiten der Elektrifizierung der Reichshauptstadt ein wahres Geschenk!
Nichts ahnend hatte die Sorben jahrhundertelang auf der Braunkohle gelebt. Dabei war sie lange schon vor ihnen da. Entstanden ist das „Schwarze Gold“ schon vor 20 Millionen Jahren, als Bäume und Pflanzen durch eine Klimaveränderung abstarben und schließlich mit Wasser und Sedimenten bedeckt wurden. Durch steigenden Druck, höhere Temperaturen und Sauerstoffentzug wurde aus den toten Pflanzenresten dann der „Schatz“ der Lausitz.
Wie im Wilden Westen
Tatsächlich bemerkten die sorbischen Bauern schon früh, dass ihr Untergrund ein besonderer ist. „In alten Sagen kommen oft Passagen vor, in denen von ‚brennenden Erscheinungen‘ und ‚rauchender Erde‘ die Rede ist“, erklärt Susanne Hose, Expertin für volkskundliche Sagen und Märchenforschung der Sorben. „Diese mystisch anmutenden Szenen waren sicher keine Einbildung, sondern schwelender Torf oder glimmende Kohleflöze“, glaubt Hose. Als diese Sagen im Mittelalter entstanden, konnten die Menschen aber mit der Kohle nichts anfangen. Erst im 18. Jahrhundert holten die Sorben mit Hacke und Spaten erste Braunkohleklumpen aus dem Boden – das nannte man „Handbetrieb“. Nach der Deutschen Reichsgründung 1871 wurde der Abbau professionalisiert und wenig später rollten die ersten Kohlebagger. Bereits zu jener Zeit wurde vielen Sorben ihr Land abgekauft – oftmals ohne den Wert ihres Grundstücks und dessen Untergrund genau zu kennen. Wild-West-Methoden.
Bis heute fördern die Kohlebagger in der Lausitz rund 60 Millionen Tonnen jährlich aus dem schier unendlichen Vorrat des braunen Schatzes. „Fast jede vierte in Deutschland verbrauchte Kilowattstunde Strom basiert auf dem Einsatz heimischer Braunkohle“, wirbt der heutige Betreiber Leag. Dabei hat das Lausitzer Kohlerevier seine besten Zeiten schon hinter sich: Zu DDR-Zeiten wurde mehr als dreimal so viel gefördert.
Einer der Lieblingsorte von David Statnik ist das kleine Dorf Schwarzkollm bei Hoyerswerda. Hier ist man weit genug weg von der Zerstörung, die 130 Jahre Braunkohleabbau hinterlassen haben. Stattdessen liegt Schwarzkollm in einer hügeligen, naturbelassenen Landschaft. Die riesigen gelben Tagebaulöcher sieht man nur, wenn man von Berlin aus mit dem Zug Richtung Niederlausitz fährt.
Schwarzkollm ist ein Ort, an dem die sorbische Kultur so lebendig ist wie sonst kaum in der Region. Hier sind Märchen buchstäblich wahr geworden. Tausende Besucher zieht es jedes Jahr in die Zaubermühle des Krabat. Die Mühle wurde nach der sorbischen Legende, die von einem Zauberlehrling erzählt, mit viel Liebe rekonstruiert. Das große Mühlrad, schilfgedeckte Häuschen und holzverkleidete Scheunen sehen aus wie ein kleines Disneyland auf sorbisch. „Witajće k nam tu do Krabatoweho młyna, tu do Čorneho Chołmca, wosrjedź dwurěčneje Łužicy. Herzlich willkommen hier in Schwarzkollm in der Krabatmühle – mitten in der zweisprachigen Lausitz“, sagt David Statnik mit ein wenig Stolz in der Stimme – sein Deutsch ist so perfekt wie sein Sorbisch. Viele Menschen wüssten gar nicht, dass der Krabat, wie ihn der Schriftsteller Otfried Preußler in seinem berühmten Kinderbuch beschreibt, auf eine sorbische Sage zurückgehe, so Statnik. Die Rekonstruktion der alten Mühle sei ein Versuch, auch Menschen außerhalb der Lausitz zu zeigen, was sorbische Kultur ist.
Tatsächlich wissen selbst viele Lausitzer heute kaum etwas über ihre eigene Kultur, glaubt Hauke Bartels, Leiter des Sorbischen Instituts, das in Cottbus und Bautzen seinen Sitz hat. Bartels arbeitet im „Wendenhaus“, einem sorbischen Kulturzentrum, das direkt an einem idyllischen Park in der Cottbusser Altstadt liegt. Bartels ist selbst kein Sorbe. Aber der Slawist fühlt sich für die Erhaltung einer der letzten Minderheitenkulturen in Deutschland verantwortlich. Nur noch 8.000 bis maximal 15.000 Menschen sprechen die sorbische Sprache. Auch sorbische Volkstänze und Traditionen existieren oft nur noch als exotisches Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit.
„Die Tagebaue haben historisch gewachsene Dorfstrukturen zerstört und Gemeinschaften auseinandergerissen“, erzählt Bartels. „Deshalb wissen die jungen Leute oft nur noch von ihren Großeltern, dass sie selbst Sorben sind, und sprechen auch die Sprache nicht mehr.“ Bartels will deshalb, dass Sorbisch ein Schulfach wird. „Jeder Schüler in Brandenburg sollte wissen, dass es so was wie Sorben und Wenden gibt und welche Rolle sie in der Geschichte gespielt haben, noch heute spielen; dass es die Sprache gibt und wie sie klingt“, so Bartels. Das gehöre zum Gemeinwissen der Region und würde auch die regionale Identität stärken.
Keine zweite Wende, bitte
„Die Identität stärken“ – das ist kein PR-Spruch, den Bartels und Sorben-Sprecher David Statnik so dahinerzählen. Denn die Region hat in den letzten 30 Jahren viel durchgemacht und sie hat viel verloren. Schon in der 1990er Jahren verließen viele Lausitzer wegen der Deindustrialisierung nach der Wende die Region. Viele Ortschaften sind regelrecht „ausgeblutet“, die Innenstädte sind zwar frisch restauriert, aber es gibt oftmals weder Arbeit noch kulturelles Leben – also das, was Menschen in der Lausitz halten würde. Und nun steht in der ohnehin gebeutelten Region der vielleicht größte Strukturwandel seit über hundert Jahren an: Laut Kohlekommission soll bis 2038 aus Klimaschutzgründen mit der Kohle Schluss sein.
Das trifft auch die Sorben. Viele von ihnen arbeiten immer noch als Bergleute oder Kraftwerker für die Leag oder für deren Zulieferbetriebe. Das schürt Ängste: „Die Menschen wollen hier keine zweite Wende erleben“, so Sorben-Sprecher Statnik, „Sie wollen eine Perspektive sehen und nicht Gefahr laufen, dass hier Straßen und tolle Häuser entstehen, sie aber arbeitslos sind und sich daran nicht beteiligen können.“
Der Braunkohle trauert Statnik aber keine Träne nach. Er sieht den Ausstieg sogar als letzte Chance für seine Volksgruppe – doch die Frage ist, wie er vonstatten geht. Die Bundesregierung hat in ihrem Eckpunkteplan für ein Strukturstärkungsgesetz nun für die nächsten zwei Jahrzehnte Milliardenhilfen für die Kohleregionen in Deutschland zugesagt. Ein erstes Sofortprogramm von 260 Millionen Euro läuft bereits. Statnik will mit diesem Geld das kulturelle Erbe der Sorben stärken. Eine Art erste Wiedergutmachung für über 130 Jahre Heimatvernichtung.
Auch der Slawist Bartels sieht in den Millionen aus Berlin die Chance, Kultur und Sprache der Minderheit wiederzubeleben. Mit den Hilfen aus dem Strukturwandelfonds könnten sie bald wieder Teil des Lausitzer Alltags werden. Doch um Gelder für den Erhalt der Kultur müsse gekämpft werden: „Die ursprüngliche Diskussion um den Strukturwandel war sehr ökonomisch geprägt und auf Infrastruktur und Großindustrie ausgerichtet.“ Statt an Sprachförderung hätte man zuerst an Autobahnanschlüsse gedacht. „Aber durch unser Engagement haben wir es immerhin geschafft, dass man auch über Kultur und die Sorben redet.“ Es drohe trotzdem, dass Förderbereiche wie Bildung, Kultur oder Sprach- und Kulturrevitalisierung unter den Tisch fielen.
Die ersten Projekte aus dem Sofortprogramm für den Strukturwandel in der Lausitz liefen bereits an, so Bartels. Ein erster Erfolg: Man plane einen digitalen Sprachatlas, um die unterschiedlichen Sprachräume der Sorben zu kartieren und im Internet für alle zugänglich zu machen.
„Uns Sorben zu fördern ist kein Selbstzweck, und es geht auch nicht nur darum, eine Kultur zu retten“, so David Statnik, „sondern darum, einer ganzen Region wieder ein Gesicht zu geben.“ Die sorbische Kultur sei eine Chance, wieder Heimat zu schaffen, und für die Lausitzer ein Grund, zu bleiben. „Wie man an der Krabatmühle in Schwarzkollm sieht, kommen Touristen und bringen Geld und Leben in die Region“, so Statnik. „Man muss die Chance schaffen, dass die Menschen den Kohleausstieg nicht wieder als eine Nachteilsdiskussion erleben. Sonst entsteht nur Frust – und was das politische Ergebnis ist, das sehen wir ja zurzeit bei den Wahlen.“
Der Frust auf Berlin und die dortigen Entscheidungen ist tief in die Lausitzer Seele eingeschrieben. Nicht nur mit der Wende, sondern auch schon im Sozialismus fühlte man sich hier fremdbestimmt. So wählen heute auch viele Sorben die AfD als vermeintliche Alternative. Dass nun ausgerechnet aus jenem fernen Berlin die Milliarden fließen, könnte vieles ändern und zurechtrücken. Doch es kommt darauf an, wie die Region das Geld nutzt und ob die Sorben wenigstens dieses Mal ein Wort mitzureden haben.
Die Braunkohle jedenfalls wird spätestens Mitte des 21. Jahrhunderts ein abgeschlossenes Kapitel in der Geschichte der Sorben sein. Dann wird sich zeigen, ob die Volksgruppe es wirklich geschafft hat, die Entdeckung des Schatzes im Untergrund zu überleben.
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