Ab in die Mitte

Im Gespräch Nuran David Calis begann seine Karriere als Türsteher in Bielefeld. Mit 20 hatte er das Leben am Rande der Gesellschaft satt. Heute gewinnt er Theaterpreise

Der Freitag: Herr Calis, wann zuletzt hat Sie ein Türsteher abgewiesen?

Nuran David Calis:

Ich gehe nicht mehr in Clubs, in die ich nicht reinkomme.

Auch eine Lösung.

Manchmal gibt es eben ungünstige Schwingungen. Die Clubszene ist hermetischer geworden. Jeder Besitzer möchte seine Klientel, Hip-Hopper oder Raver, und die feiern lieber unter sich.

Wurden Sie jemals wegen Ihrer Herkunft abgewiesen?

Nein, da hatte ich noch nie Probleme. Ob In- oder Ausländer, spielt eher in Dorfdiscos eine Rolle.

Sie haben lange als Türsteher gearbeitet. Ist es nicht ein unangenehmer Job, andere auszuschließen?

Eigentlich ist das ein total bescheuerter Job. Aber ich wollte damals legal Geld verdienen. Und das kann man als Türsteher sehr gut. Relativ schnell hatte ich aber auch das Gefühl, dass diese Erfahrung noch nützlich sein würde. Das war ein Abbild des Lebens.

Des Lebens?

Ein Club lügt nicht. Ein Club holt das Beste oder Schlechteste aus dir raus. Ich konnte Menschen beobachten, konnte mich und mein Leben in Deutschland reflektieren: Bin ich jetzt drin oder draußen? Bin ich Inländer oder Ausländer? An dieser Schwelle fiel das Denken leichter.

Sie gehörten ja zum Club.

Nein, ich war kein Gast, sondern musste immer Distanz halten, sowohl zu den Leuten drinnen als auch zu den Abgewiesenen. Notfalls hätte ich ja auch innen sortieren müssen, wenn Gäste ausfällig werden.

In welchem Club haben Sie gearbeitet?

Angefangen habe ich in einem harten Technoclub in Bielefeld.

Das gab es in Bielefeld?

Heftig, ne? Einmal habe ich sogar den Mitbegründer des Detroit Sounds vom Osnabrücker Flughafen nach Bielefeld eskortiert.

Welche Szenen sind denn die anstrengendsten?

Sie meinen, wo ich die meiste Angst um mein Leben hatte?

Muss ja nicht gleich so schlimm kommen...

Eindeutig am schwierigsten waren die Abi-Parties. Die laufen von Anfang an auf das totale Besäufnis hinaus, weil alle nur alles hinter sich lassen wollen. Und die Musik ist immer querbeet.

Seit wann haben Abi-Parties Türsteher?

In Bielefeld war das so. Eigentlich auch sinnvoll, weil der Haufen unberechenbar ist. Richtig Stress hatte ich nur mit den englischen Soldaten, wenn die feierten, waren Deutsche wenig willkommen.

Einmal sind Sie selbst zu weit gegangen. Was war los?

Ich hatte eine Auseinandersetzung mit einem anderen Türsteher. Danach hatte er eine Platzwunde am Kopf, ich habe ihn ins Krankenhaus gefahren und dafür hat mir mein Chef eine Stunde Arbeitslohn abgezogen. Da war ich 21. Es gab einige solcher Aktionen, aber darauf bin ich nicht stolz. Meistens war es in Notwehr, ich war nie aktiv aggressiv. Sonst hätte ich den Job nicht lange machen können, da hast du schnell alle gegen dich. Wenn Du dann auf die Straße gehst, passiert dir, was einem Kurden bei uns mal passiert ist: Ein kurdischer Landsmann, den er vorher nicht reingelassen hat, hat ihm mit einer Waffe das halbe Gesicht weg geschossen. Das war schon heftig.

Sie haben ja nicht immer als Türsteher gearbeitet – war ihr Leben zuvor auch so heftig?

Ich habe mit 16 angefangen. Bei mir ist die Biografie ja ein bisschen verkorkst: Ich bin hier geboren. Meine Eltern haben sich dann entschlossen, zurück nach Istanbul zu gehen, wo wir als Angehörige der armenischen Minderheit lebten. Als das Militär putschte, haben meine Eltern wieder Schiss gekriegt und in Deutschland politisch Asyl beantragt. Bis ich 16 war, haben wir als Asylbewerber gelebt, zehn Jahre lang. Danach habe ich die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen. Das war keine gute Zeit, es war sehr einengend.

Wegen der Ungewissheit, ob sie bleiben durften?

Wir hatten immer eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate. Außerdem durften wir uns aus Bielefeld nie weiter als 20 Kilometer entfernen, nur mit einer Genehmigung. Manchmal haben wir mit meinen Onkels heimlich Ausflüge nach Hannover an den Flughafen gemacht, um das Fernweh ein bisschen zu stillen. Wir hatten total Schiss, dass uns die Bullen anhalten. Absurd.

Kam daher Ihr Wunsch: Hauptsache raus aus Bielefeld?

Nee, ich glaube, ich wäre mein Leben lang in Bielefeld geblieben, wenn sich die Dinge um mich herum nicht so katastrophal entwickelt hätten. Mein Vater ist gestorben, das Nachtleben glitt immer tiefer ab. Aber ich wollte nicht so vor die Hunde gehen, sondern mehr aus meinen Möglichkeiten machen.

Das wollten Sie am Theater?

Ich hatte die Schwester von meiner damaligen Freundin, eine Regieassistentin am Residenztheater in München, um eine Chance gebeten. Ich wollte nicht am Rand der Gesellschaft zerbröseln. Ich bekam die Chance und ging als Hospitant nach München.

Zuvor hatten Sie eine Art Erweckungserlebnis im Stadttheater. Was hat sie dort so fasziniert?

Naja, ganz einfach: Für jemanden wie mich war der Umgang der Menschen miteinander umwerfend. Leute sitzen in einem Raum, werden alle automatisch still und hören und sehen anderen zu. Ich dachte: Scheiße, da läuft aber in deinem Leben was nicht so richtig. Ich sah einen Kampf auf der Bühne, der zu etwas Produktivem führte. Bei mir führte Kampf immer dazu, dass alle am Ende tot waren. In dieser Welt wollte ich nicht mehr leben. Ich wusste nicht, was ich wollte, aber das nicht mehr.

Das ist ja schon ziemlich viel.

Eigentlich ja. Ich bin einfach mit Sack und Pack nach München gefahren. Mit dem Nachtbus.

Spielen Ihre Stücke deshalb häufig an Bushaltestellen?

Bushaltestellen sind Orte von Visionen, ein Symbol für das Aufbrechen. Fast wie beim Türsteher die Schwelle, du kannst noch umkehren, aber auch gleich einsteigen.

Wo sind Sie angekommen?

Ich lebe in einem Paradoxon: Je mehr ich in der Mitte der Gesellschaft ankomme, desto stärker wird von außen definiert, dass ich ein Außenseiter bin. Diese Spannung muss ich aushalten. Aber bei dieser Reibung entsteht eine Hitze, die noch etwas ganz anderes hervorbringen wird.

Was wird entstehen?

Theater ist eine zutiefst gesellschaftsbindende Maßnahme. Meine Kunst besteht darin, Gegensätze zusammenzuführen. Hoch- und Clubkultur, links und rechts, arm und reich. Nach den Kämpfen der 68er und dem Aufkeimen des neoliberalen, individuellen Erfolgsmenschen in den 80ern kommt jetzt wieder der Moment, an dem man sich um die Gesellschaft kümmert. Die fliegt nämlich gerade total auseinander. Vielleicht besinnen wir uns wieder auf den Schulterschluss, in den mündet auch meine Arbeit.

In Ihrer aktuellen Inszenierung Romeo und Julia führen Sie Kunststudenten, Profischauspieler und Rütli-Schüler zusammen. Wie kommen die klar?

Sie sind sehr neugierig, haben Lust miteinander zu arbeiten und ziehen die Schwächeren mit. Daraus kann man sehr viele Rückschlüsse ziehen, wie man außerhalb des Theaters miteinander umgehen sollte. Meine einzige große Sorge ist, dass es als PR-Gag wahrgenommen wird.

Wie kam es zur Auswahl?

Gerade bei dem Stück ist alles drin, was mich beschäftigt: die Ungleichheit, der Kampf, die Liebe, die die Ungleichheiten überwinden lässt, aber tragisch endet. Dafür wollte ich mit unfertigen Schauspielern arbeiten, die hungrig sind. Und die Kooperation mit der Rütli-Schule existiert am Gorki-Theater bereits seit einigen Jahren. Für die unterschiedlichen Gangs brauchte ich Leute, da lagen Schüler der Rütli-Schule nahe.

Sie arbeiten viel mit Hip-Hop-Elementen. Wieso holen Sie diese eher aggressive Welt der Posen auf die Bühne?

Die Pose gibt einem immer Selbstwertgefühl mit den falschen Mitteln: über eine Waffe oder ein dickes Auto. Das möchte ich darstellen und entlarven.

Sie haben selbst auch Hip-Hop-Videos gedreht, da entlarvt man ja weniger. Weil Sie die Musik auch fasziniert?

Mit ihr bin ich aufgewachsen. HipHop macht, dass mein Blut kocht.

Was sind aktuell die Calis-Charts?

Number One ist N.W.A. – Number Two Snoop Dogg, drei ist TUPAC, vier würde ich sagen Eminem, fünf, um die Deutschen nicht zu verschmähen, Bushido.

Im Ernst?

Ja, obwohl ich weiß, dass er ein Arschloch ist.

Ist das nicht seine Masche?

Na, da wäre ich vorsichtig, das ist nicht nur Pose bei ihm. Haben Sie die Biografie gelesen? Das ist richtig Gangsta Rap.

Seine Biografie ist seiner Mama gewidmet. Warum sind Mamas für Hip-Hopper so heilig?

Wer da draußen immer Dresche kriegt, findet bei Mama jemanden, die den Sohn immer liebt. So war es zumindest bei mir.

Mama hat nie Ärger gemacht?

Ich kann nur von mir sprechen, als mein Vater gestorben ist, gab es ja nur noch meine Mama und mich. Bushido hat auch darunter gelitten, dass der Vater nicht da war. Meine Mutter hat immer an mich geglaubt. Auf der Straße leistet sich niemand Weichheit.

Wie erleben Sie Ihren, wie es immer so schön heißt, Migrationshintergrund: jüdisch-armenisch-türkisch?

Also es ist eigentlich ganz einfach: meine Mama ist Jüdin, mein Vater Armenier, beide sind in Istanbul geboren. Ich bin mit dem jüdischen und christlichen Glauben aufgewachsen, habe mich aber nicht für einen entschieden. Ich bin also Sohn armenisch-jüdischer Einwanderer aus der Türkei. Und das fühlt sich ganz gut an. Und in meiner Kindheit habe ich mit Arabern, Palästinensern, Juden genauso gespielt wie mit allen anderen. Allerdings habe ich mir in Istanbul schon lieber den Spitznamen Nuran zugelegt.

Sie heißen gar nicht Nuran?

Als David wäre es doch schwieriger gewesen mit den anderen Jungs. Der Name hat mir gut gefallen, ich habe ihn behalten.

Wollten Sie jemals wieder weg aus Deutschland?

Nie, das ist mein Land, meine Heimat hier.

Diese bürgerliche Spießigkeit, für die ja auch das Stadttheater oft steht, hat Sie nie gestört?

Die habe ich überhaupt nicht wahrgenommen. Das kann auch nur jemand spüren, der in solchen Verhältnissen aufgewachsen ist. Meine Freundin, die auch aus bürgerlich-elitären Kreisen kommt, hat Videos von Weihnachtsfesten, wo sie im Kreis der Familie Blockflöte spielt. Ich finde das toll. Sie findet es grauenhaft.

Familienfeste waren bei Ihnen nicht so wichtig?

Sie wurden nicht so gepflegt, waren unchoreografierter. Die Männer haben exzessiv getrunken und wild gefeiert.

Klingt doch lustig.

Ja, das finden Sie dann richtig geil, ne? Ich finde Rituale wichtig, solange sie nicht aufgesetzt sind, sondern innerlich gefühlt werden. Meinen Kindern würde ich die später gerne vermitteln.


Ausschnitte von Calis Stücken sehen sie hier:

Dog Eat Dog (raus aus Baumheide)

Romeo und Julia

Die Arbeit von Nuran David Calis

Der Regisseur

Nuran David Calis, geboren 1976 in Bielefeld, arbeitete ab 1992 als Türsteher in Bielefeld und schaffte 1996 die Aufnahmeprüfung an der renommierten Schauspielschule Otto Falckenberg in München. Er studierte Regie und arbeitete währenddessen als Assistent an den Münchner Kammerspielen und am Schauspielhaus Zürich. Sein erstes Theaterstück Dog Eat Dog (Raus aus Baumheide) war 2003 ein Überraschungserfolg. Es handelt von den Ausbruchssehnsüchten zweier türkischstämmiger Jugendlicher, Schauplatz ist eine Bushaltestelle. Urbanstorys, ein Patchwork-Familienstück, schrieb Calis 2005 zusammen mit Jugendlichen aus Hannover. Für Homestories erarbeitete er 2006 in Essen im sozial schwachen Bezirk Katernberg mit Schülern aus dem Iran, Russland und der Türkei ein Doku-Theaterstück. Die Jugendlichen erzählten von Familie, Fremdheit, Freundschaft und ihren Hoffnungen. Für seine Theaterarbeit wurde Calis, der auch für die Hip-Hop-Band Massive Töne Videos produziert hat, mit dem Wiener Nestroy-Preis und dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet.

Die neue Inszenierung

Romeo und Julia von Shakespeare hatte am Wochenende im Berliner Gorki-Theater Premiere. In seiner Bearbeitung lässt Calis die beiden verfeindeten Gangs, die AGGRO Capulets und die AGGRO Montagues, gegeneinander Krieg führen. Schauplatz ist eine Drehbühne mit einer Leinwand, auf der immer wieder Hip-Hop-Video-Einspielungen zu sehen sind. In jeder der vier geplanten Vorführungen haben Stars der Hip-Hop-Szene Gastauftritte. Was das Ensemble angeht, arbeitet Calis diesmal erneut mit Laien, neben den Gorki-Ensemble-Mitgliedern spielen Schüler der Neuköllner Rütli-Schule und Studenten des 1. Studienjahres Schauspiel der Berliner UdK mit. Weitere Termine: 7. und 19. Mai.

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Geschrieben von

Susanne Lang

Freie Redakteurin und Autorin.Zuvor Besondere Aufgaben/Ressortleitung Alltag beim Freitag

Susanne Lang

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