Das Navigationssystem hat gute Nachrichten: „Sie haben Ihren Bestimmungsort erreicht“. Marlies Weigert lässt den Wagen langsamer rollen. Einige Meter weiter findet sie die Lücke. Sie parkt, steigt aus, öffnet den Kofferraum ihres blauen Kombis und holt ihr Werkzeug heraus: einen Rollkoffer, einen Kastenkoffer und eine Falttasche. Sie stapelt den Kasten- auf den Rollkoffer, hängt sich die Tasche um die Schulter. Dann läuft sie in Richtung Hausnummer vier, begleitet vom Rattern der Kofferrollen. Dort im dritten Stock hat Marlies Weigert dann ihren Bestimmungsort erreicht: Die Wohnung einer 90-jährigen Dame, die an ihren Haaren zupft, als wolle sie schon einmal vorarbeiten. Sie sagt: „Heute machen wir Locken!“ Weigert, eine zierliche Frau mit schwarzen kinnlangen Haaren, stellt die Koffer ab und lächelt zur Begrüßung: „Ja“, antwortet sie, „heute sind die Locken dran.“
Es ist kurz nach 11 Uhr an diesem Donnerstag, die Sonne scheint und Marlies Weigert trägt, passend zur Jahreszeit, statt ihrer schwarzen Arbeitshose eine weiße, dazu ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Kurzarmweste mit neongrüner Aufschrift: dierollendenfriseure.de. Die Internetadresse bezeichnet und bewirbt ein neues Geschäftsmodell: Die Friseurmeisterin hat in Berlin die erste Filiale des in Karlsruhe ansässigen Franchise-Unternehmens „Die Rollenden Friseure“ eröffnet und versorgt ihre Kunden zu Hause.
Einen Großteil akquiriert sie über das Internet, dort lassen sich nicht nur Termine buchen, sondern individuell anfallende Kosten berechnen: Grundpreis je nach Länge der zu schneidenden Haare plus Kosten für Farb- und Make-Up-Wünsche plus Anfahrt (die ersten zehn Kilometer sind frei). „Heute läuft es nur noch über Internet“, sagt Weigert, „auch bei vielen älteren Kunden, die wirklich fix sind mit ihrem Laptop.“ Was älter heiße? „Älter ist für mich ab 60“, sagt Weigert und lacht. Gut 230 Stammkunden habe sie gewonnen, seit sie sich vergangenen November als mobile Friseurin selbstständig gemacht hat – zusätzlich zu ihrem Salon, der als einziges Standbein noch nicht tragen würde.
Eine dieser Stammkundinnen wartet nun im Wohnzimmer ihrer Wohnung und äußert den ersten Wunsch: „Unten muss viel kürzer werden,“ findet die 90-Jährige. Weigert nickt und sagt: „Erstmal waschen wir“, während sie Stühle verschiebt, ihre Falttasche mit einem lauten Kratsch ausklappt und auf den Boden legt. Neben Scheren, Bürsten und Trockengeräten ist sie ihr wichtigstes Arbeitsutensil: Die Matte soll Haarschnipsel oder Farbkleckse auffangen und so garantieren, dass die Wohnung danach genauso aussieht wie zuvor. „Das ist Grundlage unseres Modells“, betont Weigert, die es ansonsten ganz angenehm findet, mal nicht Gastgeberin zu sein. „Wollen Sie eine Tasse Kaffee?“, fragt da schon eine ebenfalls anwesende Bekannte des Sohnes der Kundin, die öfter vorbeikommt, seit die ältere Dame aufgrund eines Schlaganfalls nicht mehr sehr mobil ist. „Gerne“, sagt Weigert, während sie ihre Kundin mit nassen Haaren aus dem Bad zu ihrem Stuhl im Wohnzimmer führt. Ein Stückchen Kirschstreuselkuchen lehnt sie lächelnd ab, „bin auf Diät“. Die Bekannte nutzt die Gelegenheit, um ihre Magenprobleme zur Sprache zu bringen. Weigert hört zu, fragt nach, bekundet ihre Anteilnahme, während sie der Kundin Schutzmantel und neongrünes Handtuch über die Schultern legt, die Haare der Kundin kämmt, einen Wickler nach dem anderen in das dünne Haar eindreht und mit Gummiband verschließt.
Flexibel und frei sein
Auch die mobile Haarhandwerkerin muss in ihrem provisorischen Salon als gute Gesellschafterin überzeugen, während sie den Ansprüchen und Bedürfnissen einer flexibilisierten Gesellschaft entgegenzukommen versucht. Nicht nur ältere Menschen, für die ein Salonbesuch zu beschwerlich wäre, auch viele junge Mütter und Familien nutzten laut Weigert den Homeservice. „Ich wurde aber auch schon ins Hotel gerufen,“ erzählt sie, „vor der Verleihung der Goldenen Kamera zum Beispiel.“ Für heute jedoch heißt Weigerts Auftrag: Locken, ohne Glamour.
Die Luft beißt mittlerweile beim Einatmen, Weigert hat die Lösung für die Dauerwelle auf die Haare aufgetragen und macht Pause. 15 Minuten Einwirkzeit. Warten, bis die Chemie die Haare lockt. Der Kanarienvogel im Käfig neben dem Sofa zirpt und piept und putzt sich mit einem Fuß am Kopf. Weigert nimmt einen Schluck Kaffee und hört ihre Mailbox ab, auf der eine ihrer Mitarbeiterinnen im Salon eine Terminänderung durchgegeben hat. Auch eine mobile Haarhandwerkerin muss eine gute Wirtschafterin sein.
Geld in Form von Eigenkapital zählt jedoch im Unterschied zu anderen Franchiseketten nicht zu den Voraussetzungen für eine „Rollende Friseurin“, betont Sebastian Klumpp, der gemeinsam mit seiner Frau die Geschäftsidee hatte und die Franchise-Zentrale in Karlsruhe leitet. „Wir suchen Friseure mit richtig viel Leidenschaft und einem eisernen Willen, Erfolg zu haben,“ sagt Klumpp. Ein Arbeitstag wie dieser, mit den vielen Stunden des Wartens, auf dem Weg zu den Kunden oder in Einwirkpausen – lohnt sich der denn? „Es rechnet sich,“ sagt Weigert. „Meistens mache ich drei bis vier Termine pro Tag, mehr wäre fast nicht zu schaffen.“
Auch Klumpp betont die Vorteile der mobilen Dienstleistung, die meisten rollenden Friseure an den bundesweit mittlerweile zehn Standorten wollten das Gefühl beruflicher Freiheit nicht mehr missen. „In vielen anderen Branchen sprechen wir von Gleitzeit, frei wählbaren Arbeitszeiten und flexibleren Arbeitsformen – wir leben dieses Zukunftsmodell bereits,“ so Klumpp. Die Kehrseite: Die Grenze der Arbeitsbelastung ist nach oben offen. Der Druck, Aufträge anzunehmen, hoch. „Ich bin jemand, der sehr schlecht Nein sagen kann,“ gesteht auch Weigert. „Da muss ich auf mich aufpassen.“
Weitere Mitarbeiter für ihren Franchise-Ableger findet sie nur schwer: „Die meisten waren zu unflexibel.“ Ab kommender Woche bekommt sie Unterstützung von einer Kollegin, mit der sie sich das Stadtgebiet aufteilen wird. Die Konkurrenz in der Branche bleibt dennoch hart, vor allem in Großstädten, wo in den Neunzigern plötzlich Friseurläden mit Nummernsystem und einem Preis ab 10 Euro pro Haarschnitt auftauchten. Weigert klingt verärgert bis verständnislos ob des Kulturwandels. „Am Ende zahlt der Kunde auch dort mehr,“ meint sie, da jede Einzelleistung extra berechnet werde. Auch der immer wieder geforderte Mindestlohn wirkt eher wie ein hilfloser Versuch, die Arbeit von Friseuren gerechter zu entlohnen. „Entscheidend ist der Umsatz eines Salons,“ sagt Weigert, „ein Mindestlohn kann auch in die Pleite führen.“
Erster Salon nach der Wende
Dafür scheint gegen eine andere Konkurrenz für Friseure nun ein Mittel gefunden zu sein: All die Schwarzarbeiterinnen, die ihre Kunden zu Hause für wenig Geld bedienen. Warum aber sollten die Leute bei Weigert mehr bezahlen? Eine der Antworten heißt bei ihrer ersten Kundin an diesem Tag schlicht: die „Eule.“ Sie habe die Haare so zuunrecht geschnitten, dass sie sich immer verunstaltet fühle. „Bei mir kämen die Kunden dann zurück und wollten ihr Geld wieder haben“, sagt Weigert.
Die Einwirkphase der Dauerwellenlösung ist fast um, Weigert steht auf und überprüft die Wickler auf dem Kopf der 90-Jährigen. Ihre erste längere Pause an diesem Arbeitstag wird Weigert gegen 16 Uhr in ihrem Salon einlegen. Bei Currywurst und Kaffee. Durchatmen, bevor sie die gereinigte Unterlegmatte wieder falten, all die Koffer im Kombi verstauen und zu ihrem Abendtermin um 18 Uhr aufbrechen wird – der zweiten von insgesamt drei Sitzungen bei einer Braut, die sich nicht nur frisieren, sondern ausführlich beraten lassen möchte, von den Haaren bis zum Make-Up. Irgendwann nach 22 Uhr wird Weigert nach Hause kommen, im Internet die Termine checken, bevor sie sich am nächsten Morgen zwischen sieben und acht Uhr wieder auf den Weg machen wird. An sechs Tagen die Woche.
Weigert löst die Wickler aus den Haaren der alten Dame. Nun wird die Trockenhaube für 20 Minuten surren und heiße Luft ventilieren. Danach frisiert Weigert mit Bürste und Festiger-Spray, klassisch, schreibt die Rechnung und nimmt ihr Honorar entgegen. Plus Trinkgeld. Und Anschlusstermin. Weigert faltet die Matte, packt die Koffer, sucht den Autoschlüssel, verabschiedet sich. Unten auf der Straße verstaut sie die Koffer in ihrem Kombi, tippt eine neue Adresse ins Navi und lässt den Motor des Wagens an. Nächster Termin. Ein Ehepaar um die 70 wartet bereits, eine halbe Auto-Stunde entfernt.
Weigert wird dieses Jahr 50. Ihr Beruf mache ihr großen Spaß, wie sie mit leuchtenden Augen erzählt. Wie lange sie ihn ausüben wird? „Mal sehen,“ sagt sie, „keinesfalls aber bis zum offiziellen Rentenalter mit 67.“ Das könne kaum jemand. Außerdem: „Wer würde gern zu einer Friseurin gehen, die mit über sechzig noch am Stuhl steht?“ Sie selbst steht dort seit 1978, als sie in der DDR eine Friseur-Ausbildung machte – bis heute ihr Traumberuf, auch wenn er sich seit damals aus politischen und gesellschaftlichen Gründen sehr verändert hat. Gestaltungsspielraum ermöglicht er aber immer noch.
Dabei spricht sie von großem Glück, dass es geklappt hat. „In der DDR war der Beruf privilegiert, Voraussetzung war mindestens die Note zwei im Schulabschluss. Oder Vitamin B.“ Heute, im Westen, könne man sich das nicht mehr vorstellen, da viele Friseur lernten, die nur mit Ach und Krach die Hauptschule geschafft hätten. „Aber die Massenabfertigung in der DDR war der Alptraum,“ erinnert sie sich. „Bis zu 15 Kunden pro Tag waren Pflicht.“ Im Unterschied zu heute kamen die Leute bis zu zweimal die Woche, und das nicht etwa, weil sie frisurbewusster gewesen wären: „Es war billig“, sagt Weigert. Die Planerfüllung im Ost-Salon machte ihr zu schaffen, auch wenn sie dafür privilegierten Zugang zu Kleiderläden bekam. „Mein Traum war es immer, mehr Freiheiten zu haben,“ erzählt sie. Gleich nach der Wende eröffnete sie ihren ersten Salon in Wittenberg, den sie vor einem Jahr verkauft hat. Zwischendurch frisierte sie für L’Oréal auf Deutschland-Touren Modelle für Shows. „Ich weiß gar nicht mehr, wo ich damals die Power hergeholt habe,“ sagt sie und lacht. „Power“ ist irgendwie ja auch als mobile Friseurin angesagt.
Das Navigationssystem meldet sich. Der Bestimmungsort ist mal wieder erreicht. Ein Westplattenbau. Weigert parkt, packt die Koffer und klingelt bei ihren nächsten Kunden, ein Ehepaar, Berliner-Originale. Begrüßung. Die Frau ist als erste an der Reihe. Weigert wäscht im Bad die grauen Haare, die gleich in dicken Büscheln auf die Matte fallen werden, die in der Küche ausgefaltet liegt. Der Mann schlurft hinzu und verkündet seinen Entschluss, ebenfalls auf dem Friseurstuhl Platz nehmen zu wollen.
Er: „Schau mich nicht so an!“
Sie: „Ich schau Dich nicht an.“
Er (seufzt): „Ja, das war früher, ne!“
Weigert lacht, nimmt der Frau den Umhang ab und zeigt ihr im Spiegel die neue Frisur. Die Frau nickt zufrieden. Der Mann nimmt Platz. Und hat eine Frage: „Warum können Haare nicht nach innen wachsen? Dann hätte ich meine Ruhe.“ Weigert zwar auch keine Arbeit mehr, aber sie lacht, während sie mit dem Haarschneider die Stoppeln um die Glatze herum stutzt. Die Frau guckt zu.
Er: „Na, wie sehe ich aus?“
Sie: „Sehr gut.“
Er: „Also grauenvoll wie immer, ja.“
Weigert grinst. Und nimmt das Ganze als das, was es ist: die Bekundung der Zufriedenheit. Auch wenn sie sich an diesen Humor, wie sie sagt, erstmal gewöhnen musste. Als mobile Friseurin weiß man eben nie so genau, wohin das Navigationsgerät einen führt.
Haare hatten die Menschen zwar schon immer, der Beleg für die Existenz eines Friseurs findet sich allerdings erst 2000 Jahre vor Christus: auf einer Statuette aus Ägypten. Die Salons waren in der Antike zunächst jedoch Männern vorbehalten. Den ersten Damensalon eröffnete ein gewisser Champagne 1630 in Paris.
Seit dem 18. Jahrhundert ist der Friseurberuf als Handwerk anerkannt. Coiffeur Legros von Rumigny gründete die Académie de Coiffure, in der auch die Kreativität Einzug erhielt: Mit Perücken und anderen Hilfsmitteln wurden aus Haaren Frisur-Kunstwerke.
Weitere historisch bedeutsame Friseure: Karl Nessler (erfand 1906 die Dauerwelle); Vidal Sassoon (revolutionierte in den Sechzigern die Schneidetechnik); Udo Walz (erfand Ende der Neunziger Angela Merkel)
Und das prognostiziert Marlies Weigert der retro-verliebten Branche: Die Dauerwelle wird nie wieder kommen. Unrecyclebar. Yeah!
Mobile Friseure: Ende 2006 gründete das Ehepaar Klumpp in Karlsruhe , nach drei Jahren Probephase entwickelten sie das Franchisesystem. Motto: Komfort bis in die Spitzen. Seit 2009 sind Filialen an zehn Standorten eröffnet worden. Die Franchisegeber unterstützen die Existenzgründung.Die rollenden Friseure
Investitionskosten: ab 2.500 Euro, monatl. Fixkosten von 200 bis 2.500 Euro. Ausstieg jederzeit möglich.
Grundpreis Haarschnitt: 24 Euro. Plus Anfahrt und Extras.
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