Graz nahm Abschied. Ein Jahr lang war die zweitgrößte Stadt Österreichs das offizielle Aushängeschild für Europas Kultur. Nach dem großen Abschlussfest am letzten Novemberwochenende wird Graz wieder im gewohnten Reglement nicht mehr Hauptstadt Europas, sondern lediglich Hauptstadt der Steiermark sein. Sichtbares Zeichen für die Rückkehr zum bekannten Trott sind Lichterketten und Weihnachtssterne, die wieder selbstverständlich das geliebte Stadtbild schmücken wie Barockfassade der Stadtpfarrkirche zum Heiligen Blut oder Schlossberg mit Uhr- und Glockenturm. Nachdem das letzte Stündlein der offiziellen Kulturhauptstadt geschlagen hat, hallt wie immer die Frage nach, wie erfolgreich "Graz 2003" war und was nun an "Nachhaltigkeit" für die kommenden Jahre bleibt.
Angesichts der amtlichen Zahlen aus Graz darf man staunen. Beim Tourismus sind es über das Jahr verteilt knapp 30 Prozent mehr Übernachtungen und in der Hochsaison noch nie da gewesene Rekordauslastungen. In der Kulturszene haben sich in den vergangenen Monaten Künstler aus Stadt und Region besser kennen gelernt , so dass in Zukunft Ideen zu Theaterprojekten oder Ausstellungen gemeinsam verwirklicht werden können. Manches davon darf gerne im neu eröffneten Kunsthaus stattfinden.
Doch Wanderer, kommst du nach Weimar, dann schüttle den Kopf über die Kulturstadt Europas 1999, die im September diesen Jahres beschlossen hatte, ihr Stadtmuseum zu schließen. Von Nachhaltigkeit keine Spur. Statt dessen Folgefehler struktureller Defizite: Schlechte Wirtschaftslage und die für die Städte bundesweit ausgehöhlte Gewerbesteuer sorgen dafür, dass die Einnahmen ausbleiben. Also knapst die mit über 100 Millionen Euro verschuldete Klassikerstadt am städtischen Kulturgut ab. Nein, der klangvolle Titel aus dem Jahre 1999 ist überhaupt keine Garantie für den Erhalt von kommunalen Einrichtungen wie Stadthalle, -theater oder -museum.
"Keine Kulturhauptstadt ist davor gefeit, den finanziellen Zwängen nicht zu unterliegen", sagt Ulf Großmann, Bürgermeister für Kultur und Soziales in Görlitz. Die sächsische Grenzstadt zu Polen ist eine von insgesamt 16 bundesdeutschen Bewerberstädten und Regionen, die im Jahr 2010 Europäische Kulturhauptstadt sein wollen. Nach dem neuen Rotationsprinzip wird dann nämlich die für den Kontinent repräsentative Kulturstadt in Deutschland liegen. Um alle Titelanwärter in einem Atemzug aufzusagen, muss man tief Luft holen: Augsburg, Bamberg, Bremen, Braunschweig, Dessau/Wittenberg, Freiburg, Görlitz, Halle, Karlsruhe, Kassel, Köln, Lübeck, Münster/Osnabrück, Potsdam, Regensburg und das Ruhrgebiet. Sie kokettieren damit, im Jahr 2010 europäisch ganz groß rauszukommen. So viel ist schon mal sicher. Nur beim Auswahlverfahren herrscht bislang Unklarheit. Einige Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen schicken nämlich mehrere Bewerber gleichzeitig ins Rennen und wissen nicht, ob sie vorab beim Auswärtigen Amt einen besonders aussichtsreichen Kandidaten favorisieren sollen. Das Auswärtige Amt wiederum wird in einem guten Jahr die eingegangenen Bewerbungen dem Bundesrat übermitteln, der bislang ebenfalls unschlüssig ist, ob er dann 2005 in Brüssel eine Prioritätenliste mit mehreren Städten abgeben, oder ob er den entsprechenden EU-Gremien einen bereits ermittelten Sieger nennen soll.
Und während in Weimar noch einige entlassene Museumsmitarbeiter gegen ihre Kündigung klagen und in Graz die ersten Tannenbäume leuchten, haben sich die 16 deutschen Bewerber aus Ost und West mit individuellen Strategien gerüstet. "Für uns ist es nicht die Bewerbung auf ein einziges Kultur-Ereignis hin. Statt dessen ist die Kulturhauptstadt ein mittelfristiges Wirtschafts- und Regionalentwicklungsziel", sagt Großmann und listet die Vorteile von Görlitz auf. Dass die heute 60.000 Einwohner zählende Stadt bereits im Mittelalter Knotenpunkt des ost- und westeuropäischen Handels war. Dass man heute noch gemeinsam mit dem angrenzenden Zgorzelec jenseits der Neiße auf polnischer Seite ein Beispiel europäischer Visionen gibt. Und dass die EU-Osterweiterung in Görlitz und Zgorzelec in den kommenden Jahren direkt zu erleben sei, und zwar "auf dem Weg zur Kulturhauptstadt 2010".
Nicht weniger vollmundig klingen die Ausführungen von Wolfgang Laczny, Kulturdezernent in Braunschweig. Die Stadt wetteifert samt umliegender Region um den Titel. Unter dem Motto "Zeitlandschaften" soll an Vergangenheit und Gegenwart eines europäischen Gebiets erinnert werden, das nicht zuletzt stark durch Arbeitskultur geprägt ist. "Vom Erzbergwerk Rammelsberg bei Goslar im südlichen Teil unseres Bewerberkreises bis hin zur Frage der Weiterentwicklung der Teilarbeitszeit bei VW in Wolfsburg", spannt Laczny den historischen Bogen und schwärmt von den kulturellen Schätzen der Region, die von Braunschweig aus mit dem PKW mühelos in 30 Minuten erreichbar seien.
Die Kulturhauptstadt als solche hingegen kann erst in sieben Jahren angefahren werden, doch schon jetzt winkt jeder Bewerber - meist auf eigens eingerichteten Websites - mit seinen besonderen Reizen. Potsdam will als gewachsene Filmstadt überzeugen, Regensburg blickt gleich auf 2000 Jahre Geschichte zurück, Kassel verweist auf den 50. Geburtstag der documenta in zwei Jahren. Wer den Selbstdarstellungen der Städte aufmerksam folgt, fragt sich, weshalb er nicht bereits heute jedes freie Wochenende für Bildungsreisen durch die Bundesrepublik nutzt.
"Der Wettbewerb bietet an sich eine erfreuliche Situation", sagt Reinhard Richter, selbständiger Kulturberater der Stadt Kassel. Denn mit dem Aushängeschild "Bewerberstadt" machten alle auf sich aufmerksam. Und zufrieden fügt Richter hinzu, dass der Fernsehsender 3Sat noch in der Bewerbungsphase einzelne Reportageporträts der Städte ausstrahlen wolle. Konkrete kulturpolische Erfolge vom sprichwörtlichen Mehrwert des Titels vermeldet Wolfgang Laczny: "Hier in Braunschweig ist es in relativ kurzer Zeit gelungen, für die Bewerbungsphase eine Million Euro für kulturelle Projekte aus der Wirtschaft zu akquirieren, die wir ohne die Bewerbung nicht bekommen hätten." Hätte Laczny bei der Wirtschaft für althergebrachte soziokulturelle Einrichtungen gesammelt, so wäre er vermutlich leer ausgegangen. In der jetzigen Bewerbungsphase gelte es, Synergien herzustellen. Unabhängig davon, ob man den Titel letzten Endes hole oder nicht. Ulf Großmann spricht von einem Gewinner und 15 Nicht-Siegern, die aber alles in allem auch gewinnen werden: "Verlierer wird es keine geben!"
Bis zur Entscheidung gestaltet Görlitz nun drei Jahre lang sein Stadtmarketing mit einem schicken Logo. Firmen haben sich in einem Förderverein zusammengeschlossen und der Stadtrat diskutiert die meisten Beschlüsse im Hinblick darauf, ob sie dem Konzept Kulturhauptstadt dienlich sind. Die Kommune entwickelt eine Art neuen Teamgeist. Und bis zur großen Titelvergabe garantiert dieses neue Denken zumindest eines: Der Peinlichkeit, Stadtmuseen aufzugeben oder Stadttheater zusammenzulegen, werden sich Bewerberstädte nur ungern aussetzen.
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