Sechs Minuten

Gastkommentar Wenn die Zivilgesellschaft bei den Vereinten Nationen gastiert

In diesen Tagen reagiere ich wie meine vierjährige Tochter, die mich alle paar Minuten fragt: "Was passiert da?" Was soll ich antworten? Eine gespenstische Finanzkrise und Rettungspläne mit Milliarden und Abermilliarden wirken über die Medien auf mich ein. Ich sehe starke Hände und entschiedene Führer, bemüht die Banken zu retten, aber ich höre wenig Erklärungen über Ursachen und Folgen. Die Spitze der Pyramide muss mit unserem hart verdienten Steuergeld gerettet werden, heißt es, oder wir kommen alle unter die Räder der Rezession.

Gleichzeitig scheint es wenig Besorgnis um die Basis - oder besser - den Unterbau dieser Pyramide zu geben. Dabei brauchen wir kaum ein Prozent des Geldes, das plötzlich von den regierenden Rettern aufgebracht wird, um die Armut weltweit zu lindern. Geld, das den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen würde. Mit dem ein Notfonds für Nahrungsmittel, Saatgut, Trinkwasser und Gesundheit möglich wäre. Die Armut der Welt könnte zehn Mal überwunden werden mit den Mitteln, die nun völlig überraschend zur Verfügung stehen.

Ich denke daher oft an eine Sitzung während der diesjährigen UN-Vollversammlung Ende September, als es um die Millenniumsziele im Kampf gegen den Hunger ging. Ela Bhatt, ein wunderbarer Mensch und Sprecherin einer millionenstarken Frauenbewegung, die sich in Indien viel um die Mikrofinanzierung winziger Betriebe gekümmert hat, trat ans Pult. Sie war in dieser Debatte nicht nur die einzige Frau, sondern auch die einzige Vertreterin der Zivilgesellschaft. Mancher wusste vielleicht, dass sie mit vollem Recht eine Veteranin dieser Bewegung genannt werden durfte, die schon für Nelson Mandela eintrat, als der noch im Zuchthaus saß. Immer hatte sie einer Welt in Aufruhr einen Weg in Würde aufzeigen und Menschen stets an ihre grundlegenden Menschenrechte erinnern wollen.

Ela Bhatt stand also in diesem Weltgremium für "wir, das Volk" und nicht für "wir, die Regierungen mit unseren Interessen und Verpflichtungen".

Ich saß ganz oben im Auditorium der Generalversammlung und sah zu, wie die Weltführer - zu 95 Prozent Männer - ihr Interesse an diesem Auftritt verloren, schon bald, nachdem Ela begonnen hatte. Sie, die zierliche Person mit der auffallend sanften Stimme, sagte zum Beispiel: "Wir sind zwar stolz auf unsere Hochhäuser, aber wir übernehmen keine Verantwortung für unsere Armenviertel." Die Weltführer unterhielten sich lebhaft, manche standen auf und verließen den Saal. Sie benahmen sich wie eine Schulklasse von Zappelphilippen, denen es schwerfiel, sich zu konzentrieren. Oder gingen sie etwa hinaus, weil die Sprecherin Realitäten beim Namen nannte, wie keiner von ihnen zuvor? Weil sie nicht über Dollars sprach, sondern über Frauen, Männer und Kinder, die täglich ums Überleben kämpfen und dabei scheitern?

Mir wird dieses Bild für immer im Bewusstsein haften bleiben. Diese Bände sprechende Haltung von Staatsoberhäuptern, die es einfach nicht für nötig hielten, einer solchen Rede zuzuhören. Nicht

einmal sechs Minuten schienen sie dazu in der Lage, denn mehr Zeit hatten die Vereinten Nationen Ela Bhatt nicht zugestanden, um Ansichten aus der Zivilgesellschaft vorzutragen. Diese so ungebührliche und verletztende Arroganz gegenüber einer der wenigen repräsentativen sozialen Sprachrohre unserer Zeit wird mich noch lange verfolgen.

Sylvia Borren ist Vorsitzende der Allianz für Global Call to Action Against Poverty (GCAP)

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