Minimierungsstrategie

Acrylamid Ohne Grenzwert keine Bedrohung?

Erst wurde es in Chips und Pommes identifiziert, dann im Kaffee sowie im Brot nachgewiesen, und mittlerweile ist Acrylamid in aller Munde. Seit mehr als einem halben Jahr verschärft sich nun die Diskussion um den potenziell krebserregenden Lebensmittelinhaltsstoff. Bislang war Acrylamid lediglich als Kunststoffbaustein bekannt, mit hohen Mengen in Lebensmitteln hatte niemand gerechnet. Folglich existiert immer noch kein offizieller Grenzwert für seine Aufnahme durch den Menschen. Dennoch hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Dosis von einem Mikrogramm Acrylamid pro Kilogramm Körpergewicht und Tag festgelegt. Zum Vergleich: in stärkehaltigen gebratenen, gerösteten oder frittierten Lebensmitteln können sich je nach Temperaturentwicklung bis zu 3.600 Mikrogramm Acrylamid pro Kilogramm bilden. Der WHO-Grenzwert wäre demnach schon beim Verzehr von einer Tüte Pommes erreicht.

"Grenzwertig" jedenfalls ist, dass sich das Bundesverbraucherschutzministerium (BMVEL) erst im August zur Reaktion gezwungen sah und ein so genanntes Minimierungskonzept startete. Neben der Erforschung von Acrylamid und neben einigen Tipps für Verbraucher, wie diese den Acrylamidgehalt ihrer Küchenprodukte niedrig halten könnten, gehört die "gute Herstellerpraxis" zu den wenigen Strategien der Behörden, das zunehmend brisante Problem anzugehen. In einer freiwilligen Kooperation mit der Wirtschaft werden die am höchsten belasteten Warengruppen ermittelt und deren Hersteller anschließend aufgefordert, ihre Produktionsweise möglichst umzustellen. In Abhängigkeit vom Erfolg dieser Maßnahmen sollen künftig weitere Unternehmen in das Konzept einbezogen werden. Darüber hinaus umfassen die "Minimierungsbemühungen" auch solche Produkte, die mehr als 1.000 Mikrogramm Acrylamid pro Kilogramm enthalten.

Währenddessen hat der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) mehr Initiativen für den Schutz der Verbraucher angemahnt. So solle das Verbraucherschutzministerium regelmäßig die aktuellen Acrylamid-Gehalte der betroffenen Produkte veröffentlichen, die den Behörden vorliegen. "Dem Verbraucher nutzen allgemein gehaltene Minimal- und Maximalwerte einer Warengruppe gar nichts", beklagt Angelika Michel-Drees, Ernährungsreferentin beim vzbv, "er will wissen, in welchem konkreten Produkt wieviel Acrylamid enthalten ist".

Dem Ministerium sind jedoch die Hände gebunden: aufgrund des abgespeckten Verbraucherinformationsgesetzes sieht es sich nicht in der Lage, Produkt- und Herstellernamen zu veröffentlichen - eine Konfrontation mit der Industrie könnte dazu führen, dass diese Schadensersatzklagen einreicht. Notgedrungen hat das Bundesministerium inzwischen über den aid Infodienst Verbraucherschutz ein Acrylamid-Forum im Internet eingerichtet. Verbraucher können dort kostenlos Fragen einreichen und erhalten innerhalb von zwei Tagen eine Antwort von Experten. Allerdings hält die Website keine einschlägigen Messwerte bereit, sondern rät den Verbrauchern, sich an die jeweiligen Produkthersteller zu wenden.

Wie wenig auskunftsfreudig und kooperationsbereit diese jedoch sind, hat die zurückhaltende Resonanz auf Anfragen der Verbraucherzentrale Hamburg gezeigt. Von 15 angeschriebenen Unternehmen nannten lediglich zwei konkrete Messwerte zur Acrylamidbelastung ihrer Produkte; fünf hingegen antworteten gar nicht und die restlichen gaben ausweichende Antworten. Die Verbraucherzentrale ist daher in die Offensive gegangen und hat - vor allem basierend auf den Messergebnissen von Ökotest - eine Übersicht aktueller Werte erstellt, die "Ross und Reiter" nennt. Eine Reaktion der aid-Experten auf die detaillierte Liste ist dem Acrylamid-Forum zu entnehmen. Dort heißt es, die angegebenen Werte seien mit Vorsicht zu genießen, da sie häufig aus älteren Untersuchungen stammten und damit nicht mehr unbedingt gültig seien. Ansonsten hält das Verbraucherschutzministerium weiter an seiner Minimierungsstrategie und den anonymen Messwerten fest. "Der Austausch auf technischer und wissenschaftlicher Ebene zwischen Wirtschaft und staatlichem Risikomanagement läuft gut und wird fortgesetzt", lautet der Schlusssatz des ersten Ergebnisberichtes zur angelaufenen Strategie gegen Acrylamid.

Weitere Informationen unter www.verbraucherministerium.de, www.was-wir-essen.de, www.vzbv.de

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