Was für eine absurde Situation: Sechzehn Jahre nachdem der Schutz der Tiere als Staatsziel ins Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen wurde, demonstrieren tausend Schweinehalter für das Recht, weiterhin neugeborenen Ferkeln ohne Betäubung die Hoden aus dem Leib schneiden zu dürfen. Die Bauerndemo während der Agrarministerkonferenz in Bad Sassendorf im September hatte Erfolg: Am 9. November beriet der Bundestag über einen Gesetzesentwurf, der das lange geplante Verbot der betäubungslosen Kastration weiter nach hinter verschieben soll.
Verschleppungspolitik
Diese anachronistische Brutalität ist die Folge einer jahrelangen Verschleppungsstrategie von Politik und Verbänden, deren Opfer nicht nur Millionen gequälter Ferkel, sondern auch die Landwirte sind. Werden männliche Ferkel nicht kastriert, produzieren sie mit Beginn der Geschlechtsreife bestimmte Hormone, die Sauen anlocken, aber für menschliche Nasen unangenehm sind. Auch das Fleisch mancher Eber riecht beim Braten so stark, dass es als ungenießbar gilt. Um das zu verhindern, haben die Ferkelproduzenten jahrzehntelang kurzen Prozess gemacht: ein behänder Griff, ein lautes Quieken, zwei Schnitte in die Hodensäcke. Für viele Landwirte war das völlig selbstverständlich, genau wie das Schleifen der spitzen Zähnchen der Ferkel, das Kupieren ihrer Ringelschwänze oder das Ausbrennen der Hornansätze bei jungen Kälbern. Das machte man eben so, es war nicht die schönste Arbeit, aber anders ging es halt nicht.
Das Land der Fleischesser
Die Verzehrmenge von Fleisch lag in Deutschland im vorigen Jahr bei 59,7 Kilogramm pro Kopf. Das geht aus den Zahlen der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung hervor, in den statistischen Durchschnittswert wurden auch Vegetarier und Säuglinge einkalkuliert. Das Lieblingsfleisch der Bundesbürger kommt vom Schwein, 35,8 Kilo aß jeder Deutsche davon im Schnitt. Allerdings sinkt die Nachfrage, im Jahr 2007 kamen noch 40,52 Kilo Schweinefleisch auf den Teller. Auch wenn hierzulande der Konsum abnimmt, der Exportmarkt wächst seit Jahren und damit auch die Massentierhaltung in Deutschland. Unter den europäischen Ländern ist die Bundesrepublik der größte Exporteur von Schweinefleisch, der wichtigste Abnehmer ist China, wo Schweineohren als Delikatesse gelten. 2017 schlachtete der größte deutsche Fleischkonzern Tönnies 20,6 Millionen Schweine. Damit erreicht er beim Schweinefleisch einen Marktanteil von fast 30 Prozent.
Erst als der öffentliche Druck größer wurde, verkündeten Bauernverband und Fleischindustrie, „baldmöglichst“ nach Alternativen zu suchen. Das war 2008. Fünf Jahre später schaltete sich die Bundesregierung ein und entschied, die Ferkelkastration ohne Schmerzausschaltung zu verbieten. Der damalige Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) verkündete, Deutschland sollte zum „Vorreiter in Sachen Tierwohl“ werden. Er kündigte an, er werde mit der Branche im Gespräch bleiben, um auch kleinere und mittlere Betriebe mitzunehmen. Als Übergangsfrist wurden fünf Jahre angesetzt. Bis Ende 2018.
2016 legte die Bundesregierung einen Bericht über Alternativen vor: Die Ferkel könnten entweder vor der Kastration betäubt oder mit einer Art Impfstoff so behandelt werden, dass der Ebergeruch nicht auftritt. Oder sie könnten unkastriert als Eber gemästet werden, dann müsste ihr Fleisch beim Schlachten auf Ebergeruch getestet werden. Alle drei Möglichkeiten funktionieren. Doch alle drei sind teurer und unwirtschaftlich, solange die Sauenhalter so wenig Geld für ihre Ferkel bekommen, dass sie so billig wie möglich produzieren müssen. Und genau hier hat sich die Lage verfahren. Es ist weder dem Ministerium noch der Wirtschaft in den vergangenen Jahren gelungen, sich auf eine Lösung zu verständigen – und dafür will jetzt keiner verantwortlich sein. Als die Deadline näher rückte, wählten Agrarpolitiker einen wenig überzeugenden Ausweg: Sie entschieden, die Frist einfach zu verlängern. Doch der Bundesrat lehnte das ab, was eine Welle von empörten Protesten auslöste. Sie sei „maßlos enttäuscht“, sagte etwa die niedersächsische Agrarministerin Barbara Otte-Kinast (CDU), das bedeute das „Ende der Sauenhaltung für viele Familienbetriebe“. Aber was ist das für ein Ernährungssystem, in dem Familienbetriebe nur überleben können, wenn sie Millionen Ferkeln bei vollem Bewusstsein die Hodensäcke aufschneiden?
Ein illegaler Gesetzentwurf?
Nun will die Große Koalition die Sauenhalter – auf Kosten der Ferkel – retten und die Frist per Bundesgesetz nach hinten verschieben. In den nächsten Wochen berät der Bundestag weiter über den Gesetzesentwurf, zur großen Enttäuschung der Tierschutzverbände. Sie verweisen auf juristische Gutachten, die zum wenig überraschenden Urteil kommen, dass Kastration ohne Betäubung nicht verfassungskonform ist. Sie bezeichnen den Gesetzesentwurf schlicht als „illegal“ und als „Verrat am Staatsziel Tierschutz“. Der grüne Agrarpolitiker Friedrich Ostendorff beklagt ein „unsägliches Politikverständnis, wenn Gesetzesentwürfe auf den Weg gebracht werden sollen, obwohl von einer Verfassungswidrigkeit ausgegangen werden muss“. In der Tat: Wie glaubhaft ist Politik, wenn sie nicht erreichte Ziele einfach vor sich herschiebt? Und: Wie viele andere politische Ziele wurden schon ins Irgendwann vertagt? Die Begrenzung des Artensterbens, das Ende der Überfischung, die Reduktion der Klimagase, und jetzt eben der Ausstieg aus der betäubungslosen Ferkelkastration.
Die einflussreiche Kontrollgesellschaft QS hat in der Zwischenzeit, zum Entsetzen der deutschen Sauenhalter, angekündigt, einfach Ferkel aus Dänemark und den Niederlanden für die deutsche Schweinemast anzuerkennen. Das galt bislang als unmöglich, denn die dort praktizierten Verfahren zur Schmerzminderung sind nach deutschem Tierschutzgesetz nicht ausreichend. Das würde die letzten bäuerlichen Ferkelerzeuger in Deutschland aus dem Markt kicken und hätte stundenlange, qualvolle Ferkeltransporte quer durch Europa zur Folge. Verantwortung sieht anders aus.
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