Als J.K. Rowling begann, den ersten Harry Potter zu schreiben, lagen bereits Jahre der Arbeit hinter ihr. Fünf Jahre hatte sie sich Zeit genommen, um die Welt und Geschichte Harry Potters akribisch vorzubereiten. Dann, nachdem sie alles entworfen hatte, die Handlung bis zum siebten und letzten Band, begann sie den Stein der Weisen. Sie verfasste außerdem das letzte Kapitel der Serie und schloss es weg. Die Komplexität Harry Potters kann sich nicht zuletzt aus dieser Systematik entfalten – und mit ihr sein gigantischer Erfolg: 450 Millionen verkaufte Bücher, Übersetzungen in 79 Sprachen, 8 Blockbuster, die größte (und treueste) Fangemeinde überhaupt. Es ist das erfolgreichste Buch aller Zeiten. Seit bald 30 Jahren arbeitet Rowling nun daran. Rowling versteht sich nicht primär als Autorin mit der großen Fantasie. Eigentlich missfällt ihr dieses Bild sogar, das wohl am prominentesten von ihr gezeichnet wurde.
Die Vorbereitung: fünf Jahre
Da wird eine aschenputtelartige Geschichte von einer ehemals armen, unglücklichen Frau, die zu ihrem Glück aber begabt ist mit starker Einbildungskraft, erzählt. Von einer alleinerziehenden Mutter, die, wenn ihr Baby schlief, in Cafés (weil beheizt) eilte und dort auf Servietten (weil kostenlos) schrieb. Sie musste nie auf Servietten schreiben, hat sie längst versucht klarzustellen. Außerdem sei sie nicht so blöd, mitten im Winter eine unbeheizte Wohnung in Edinburgh zu mieten. Sozialhilfeempfängerin war sie auch bloß einige Monate lang. Und so weiter – die Geschichte Rowlings besteht aus einer ganzen Reihe von vermarktbaren Details, die mit ihr als Schriftstellerin nichts zu tun haben.
In der ersten TV-Dokumentation über sie von 2001 wollte sie stattdessen über die Arbeit an Harry Potter sprechen. Man sieht sie auf dem Boden ihres Arbeitszimmers sitzen, um sie herum liegen überall eng beschriebene Blätter Papier, Notizbücher, Zeichnungen von Szenen und Figuren. Im Durchgang zu einem weiteren Zimmer stapeln sich weitere Kisten, im Hintergrund stehen noch ein paar. Rowling spricht darüber, wie es zu Beginn des Schreibprozesses darum ging, diese gewaltige Ansammlung an Material zu verdichten. Daraus Stück für Stück ein Buch „herauszumeißeln“. Was stellt sie selbst für Erwartungen an einen Autor? Grundsätzlich, dass er allwissender Gott seiner Schöpfung ist. Vertraut ist mit seiner Welt und ihrer internen Logik weit über das hinaus, was letztlich im Buch stehen wird. Wenn es dabei um ein so gewaltiges Epos wie Harry Potter geht, ist das ein hoher Anspruch. Rowling wird ihm ganz und gar gerecht: Verwoben mit dem Fantasy-Stoff ziehen sich Rückgriffe auf klassische Literatur, Mythologie, Wissenschaft, Folklore und Historie wie feine Fäden durch die Bücher.
Von der British Library in London wurden sie nun in etwas hautnah Erlebbares verwandelt: A History of Magic stellt die Recherchen und Inspirationen Rowlings aus. Organisiert nach den Fächern, die in Hogwarts unterrichtet werden, lässt sich hier von Alchemie zu Astronomie gehen, von Kräuterkunde zu Geschichte von Fabelwesen, Hexen und Okkultismus, und immer weiter. Man erfährt: Informationen über Pflanzen und Tränke bezog Rowling unter anderem aus The English Physician, dem ersten Medizinbuch Nordamerikas von 1652 (dessen Autor wurde später der Hexerei angeklagt). Hagrid steht, klar, in der langen Tradition des Giganten mit riesigem Herzen. Nicholas Flamel, der Macher des Steins der Weisen, beruht auf einem gewissen Nicholas Flamel, der 1418 in Paris verstarb. Hinter beinahe allen Namen, Gegenständen und Pflanzen gibt es eine alte Tradition, einen Jux, eine Heldensage, eine historische Figur zu entdecken. Daneben tauchen auch viele der schon erwähnten Zeichnungen und Zettel wieder auf: handschriftliche Manuskripte, organisatorische Notizen und detaillierte Plotpläne, auf denen die einzelnen Tage im Buch ausgeführt werden. So lässt sich in der Ausstellung eine Seite der Harry-Potter-Autorin in Augenschein nehmen, die sonst nahezu unsichtbar bleibt – zugunsten des Märchens von der frierenden, alleinerziehenden Mutter Joanne Rowling – und am Ende fragt man sich, warum das eigentlich so ist. Je mehr man über andere Fantasy-Autoren liest, umso drängender wird die Frage. Ob es einem Joseph K. Rowling vielleicht anders ergehen würde.
Hätte man sich längst fasziniert Joseph K. Rowlings Denken zugewendet? So wie dem des ebenfalls britischen Fantasy-Autors Philip Pullman? Sich längst aufgemacht, den Geist dieses Großmeisters zu ergründen, was ihn umtreibt, von welchen politischen Ansichten und metaphysischen Wahrheiten sein Werk durchwirkt ist? Rowling jedenfalls wird meist zu ihrer Familie befragt, ihrer Kindheit, ihren Fans, was sie davon hält, reicher als die Queen zu sein. Und dann ist da immer diese Frage nach den Schuhen. Bei Pullman würden solche Fragen statt als Interesse an seiner Arbeit wohl als beleidigend durchgehen.
Popularität ist die eine Sache, als kultureller Beitrag ernst genommen zu werden, eine andere. Dieses Problem ist natürlich alt: Frauen schreiben Bücher, Frauen verkaufen Bücher. Aber was die Anerkennung angeht, messbar etwa an Literaturkritik und, noch besser, in Literaturpreisen, da dominieren Männer – auch aktuell noch.
Wenn ein Mann Fantasy schreibt, ist es ein episches Triologie-Meisterwerk über den Kampf gegen Ideologie und Totalitarismus. Wenn eine Frau Fantasy schreibt, ist es eine magische Romanreihe über den Zauberer-Jungen Harry. Schön, muss man aber nicht so ernst nehmen. (Die Ausnahme bildet die berüchtigte Ex-Chef-Kritikerin der New York Times, Michiko Kakutani, die Harry Potter durchaus ernst nahm).
Unterschieden werden sollte einzig nach gutem und schlechtem Schreiben, nicht nach Geschlecht. Aber gelesen wird noch immer, mit Vorstellungen davon hinter den Brillengläsern, was vermeintlich ureigenes Metier der Autorin, was Metier des Autors ist. Metiers von Frauen sind dabei tendenziell Beziehungen, das Psychologische, Familiäre, der kleinere Rahmen. Vertrautes männliches Metier ist der Krieg, die Politik, Macht, der große Rahmen. Ja, das ist sehr antiquiert und absurd. Und gefiltert durch diese antiquierten Stereotype wird das Buch des männlichen Autors anders gelesen als das einer Autorin. Was sich wiederum darin widerspiegelt, was in diesen Büchern gesehen wird, auch oder insbesondere bei fantastischer Literatur.
Man fragt sich, wie anders Rowling hätte porträtiert werden können. Als der Typ des grandios-obsessiven Autors? Man wäre ihr damit gerechter geworden. Oder schlicht als Nerd? Die Figur der Hermine basiert nicht umsonst gänzlich auf der jungen Rowling. Und eine älter gewordene Hermine könnte exakt so aussehen wie Rowling in ihrem Arbeitszimmer. Nichtsdestotrotz, Tolkiens Herr der Ringe wurde anfangs als „Mischung aus Richard Wagner und Pu der Bär“ verspottet. Abwarten also, was die literarische Achtung vor Rowling angeht. Die Ausstellung in der British Library wenigstens würde einer Hermine schon einmal gefallen.
Info
Harry Potter. A History of Magic The British Library, London, noch bis zum 28. Februar 2018
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