„Nieder mit dem nächsten Präsidenten“

Ägypten Egal, wer offiziell als Wahlsieger bestimmt werden wird: Eine Mehrheit der Ägypter will ihn nicht
General Mamdouh Shaheen und Generalmajor Mohammed al-Assar kündigten am Montag an, Ende Juni die Macht an den neuen Präsidenten abzugeben
General Mamdouh Shaheen und Generalmajor Mohammed al-Assar kündigten am Montag an, Ende Juni die Macht an den neuen Präsidenten abzugeben

Foto: AFP/ Getty Images

Der Mann, der bald zum nächsten ägyptischen Präsidenten erklärt werden wird, wird nicht derjenige sein, den die Ägypter wollen. Wir sind ein Land von 85 Millionen. Fünfzig Millionen von uns dürfen wählen. Wie viele haben für diesen Präsidenten gestimmt?Während ich dies schreibe, sieht es aus, als würde sich die Wahlbeteiligung für die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen bei 15 Prozent einpendeln. Vergleichen Sie dies mit den 80 Prozent im März 2011, als der Oberste Militärrat, der das Land seit Mubaraks Sturz regierte, uns unsere erste „demokratische“ Übung aufgab: In einem Referendum sollten wir über die Frage votieren, ob zuerst eine neue Verfassung ausgearbeitet werden soll, bevor Parlamentswahlen stattfinden, oder umgekehrt. Die Leute standen Schlange, feierten und debattierten. Der Militärrat aber verfälschte das Ergebnis, trickste bei dessen Umsetzung um seine Macht zu erhalten und tat alles dafür um Chaos zu verbreiten, Zwietracht zu säen und die Bevölkerung zu radikalisieren.

Da überraschte es kaum, dass die Wähler sich betrogen fühlten und dass an den Parlamentswahlen nur noch 50 Prozent teilnahm. Und die Enttäuschungen und Desillusionierungen nehmen kein Ende. Darin wird das größte Verdienst des Militärrates bestehen: dass er den Menschen endgültig klar gemacht hat, dass der existierende Staatsapparat niemals das System hervorbringen wird, nach dem es die Mehrheit der Bevölkerung verlangt. Gegenwärtig erleben wir in Ägypten all das, wogegen die Menschen Ende Januar letzten Jahres auf die Straße gegangen sind. Was Ahmad Shafiq und die Generäle machen, hat nichts mit der Revolution zu tun.

Verbote, Verhaftungen, Kriegs-Rhetorik

Allein am Sonnabend wurden während der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen 35 Aktivisten der Gruppe 6. April verhaftet (unter den neuen Vollmachten, die vom Justizminister zwei Tage zuvor ausgesprochen wurden); westliche Journalisten durften auf der Straße keine Interviews führen; eine junge Frau, die für einen finnischen Journalisten übersetzte, wurde verhaftet; Sicherheitskräfte führten in mehreren Städten Nachforschungen an, ob ausländische Araber sich dort aufhielten; 22 Palästinenser und Jordanier wurden ebenso verhaftet wie die sieben syrischen Aktivisten, die aus Protest vor dem Büro der Arabischen Liga ihr Lager aufgeschlagen hatten; das Innenministerium gab Warnungen heraus, die Hamas hätte aus Gaza bewaffnete Palästinenser geschickt, um in Ägypten Terroranschläge zu verüben; die israelische Zeitung Haaretz schrieb, die Raketenangriffe von Freitag seien auf „Anfrage führender Muslimbrüder in Ägypten erfolgt“. Angst vor Fremden im Allgemeinen und vor den Palästinensern im Besonderen (letzteres auf der „Sie wollen uns in einen Krieg hineinziehen“-Schiene) und Zwietracht werden geschürt, wo es nur geht.

Zu welchem Zweck? In welcher Absicht? Welchen Kandidaten bevorzugen die Machthaber denn eigentlich? Mehrere Wahllokale haben darüber berichtet, sie hätten Wahlzettel gefunden, die bereits zugunsten des Muslimbruder-Kandidaten Mohamed Morsi ausgefüllt waren. Dann machte das Gerücht die Runde, dass dieser Betrug auf die Drucker der staatlichen Druckerei zurückverfolgt worden sei, wo die Wahlzettel gedruckt werden.

Sie sagen, die Revolution sei beendet

Im Augenblick hat es den Anschein, die Koalition aus Armee, den Machthabern des alten Regimes und deren ausländischen Freunden sei der Auffassung, sie hätte die Schlacht um Ägypten gewonnen. Sie reden davon, die Revolution sei beendet – der Innenminister spricht davon, dass er nach der Bekanntgabe des Präsidenten keine weiteren Proteste mehr zulassen werde.

Doch die Revolution wird weitergehen, denn weder das alte Regime noch die Islamisten werden für „Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit“ sorgen. Keiner von ihnen wird sich der Opfer würdig erweisen, die die 1.200 vom Regime Ermordeten, die 8.000 Verwundeten und die 16.000 vor Militärgerichte Gestellten erbracht haben. Während die Präsidentschaftswahlen ihrem Ende entgegen gehen, sitzen tausende junger Männer in Militärgefängnissen, viele von ihnen befinden sich im Hungerstreik.

Während der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen vor drei Wochen stimmten weniger als fünf Millionen für Shafiq – den Kandidaten des alten Regimes – und ebenfalls unter fünf Millionen für den Muslimbruder Morsi. Ungefähr 12 Millionen stimmten für die fortschrittliche und säkulare Ausrichtung der Revolution, aber das kam nicht zum Tragen, da sich diese Stimmen auf fünf Kandidaten verteilten. Die Fortschrittlichen hben einmal mehr das getan, was sie am besten können: Sie scheitern daran, sich zusammenzutun und gemeinsam gegen ihren wahren Feind zu kämpfen.

Das Volk hat dazugelernt

Das Volk hingegen hat bei jeder Gelegenheit das Richtige getan. Die Menschen sind auf die Straße gegangen, wenn die Sache die ihre war, und sie blieben zuhause, wenn man sie instrumentalisieren wollte. Sie sind tapfer, widerstandsfähig und erfinderisch. Sie haben dazugelernt. Sie haben die Muslimbruderschaft ins Parlament gewählt, und als diese sie abgrundtief enttäuschte, haben 50 Prozent dem Präsidentschaftskandidaten der Bruderschaft das Vertrauen entzogen. Sie verlangen nach wirkungsvollen und fortschrittlichen Repräsentanten, die ihren Mut in politisches Handeln übersetzen können. Am wichtigsten aber ist es, dass sie ihre Revolution in ihre Fabriken, Universitäten, Städte und Straßen gebracht haben.

Schon seit einigen Monaten ist hier in Ägypten ein Slogan sehr beliebt: „Nieder mit dem nächsten Präsidenten!“ Amen.

Ahdaf Soueif ist eine ägyptische Schriftstellerin. Bei Bloomsbury ist ihr Buch: Cairo: My City, Our Revolution erschienen.

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Ahdaf Soueif | The Guardian

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