Treffpunkt ist ein schickes Fotostudio im Norden Londons. Der Weg von der U-Bahn-Station war nicht besonders vielversprechend – Leichtindustrie, ein durchmischtes Wohngebiet, Bodenschwellen, ein paar Warenlager mit Stacheldraht an den Zäunen, und ein Mann in senfgelber Nylonunterhose, der auf dem Grund einer Sherryflasche nach Erleuchtung suchte. Im Studio allerdings ist alles exklusiv und vornehm. Eine Schale mit Gebäck steht bereit, und obgleich dieser Vormittag einen der sonnigsten Tage des Jahres verspricht, sind die Vorhänge zugezogen. Der Kontrast zwischen der Welt da draußen und der Welt hier drinnen fällt mir besonders auf, weil die Band, mit der ich gleich ein Interview führen werde, mit je einem Bein auf beiden Seiten zu stehen scheint.
Ich warte auf die Arctic Monkeys. Punkt 11 Uhr kommen sie an. Ich schüttele die schmale, fast schon schwerelose Hand von Alex Turner. Dann kommt der muskulösere Händedruck des Schlagzeugers Matt Helders, der elegante Handschlag des Gitarristen Jamie Cook und der feste Griff des Bassisten Nick O’Malley. Sie begrüßen mich unbefangen in ihrem Sheffielder Dialekt. In Sheffield, jener einstigen Stahlstadt im Norden Englands, die als bedeutendes Zentrum der Rock- und Popmusik gilt, haben sich die Arctic Monkeys 2002 gegründet.
Pünktlich, höflich, zufrieden und makellos. Ihr Manager Geoff Barradale trägt ein Poloshirt und Turnschuhe; und wie sie alle zusammen so vor der weißen Studiowand stehen, könnten sie auch vier Jungs sein, die gerade mit ihrem Vater hier angekommen sind, um Squash zu spielen.
Die Legende der Arctic Monkeys geht ungefähr so: Vier Klassenkameraden aus High Green in Sheffield bekommen zu Weihnachten Musikinstrumente geschenkt und beginnen in der Garage zu proben. Kurz darauf sind sie schon ein Phänomen. Sie veröffentlichen zwei Singles, die in Großbritannien beide sofort auf den ersten Platz klettern, sowie ein mitreißendes erstes Album. Sie entwickeln sich weiter, spielen als Headliner beim Glastonbury-Festival, gewinnen ein paar Preise und bringen ein bejubeltes zweites Album heraus. Und irgendwann zwischendurch schreiben sie noch die Gesetze des Musikgeschäfts um. Sie kümmern sich nämlich nicht um Fernseh- und Radioauftritte, Marketing und versnobte Musiklabels, sondern verteilen ihre Musik bei Auftritten und stellen ihre Songs zuerst auf ihre Webseite, von wo aus sie sich viral über Myspace und File-Sharing verbreiten. Ihr neues Album Humbug haben sie zuerst im Internet vorgestellt.
„Wir wussten wirklich gar nichts über diesen ganzen Kram. Es war nicht geplant. Es ist einfach passiert“, sagt Helders, nachdem die Fotos gemacht sind und wir uns um den inzwischen leeren Keksteller versammelt haben. Unter erfolgreichen Künstlern dient diese nonchalant behauptete Absichtslosigkeit häufig nur dazu, nachträglich all die verzweifelten Tage schönzureden, die man erlebt hat. Im Fall der Arctic Monkeys aber ist man versucht, daran zu glauben. Auf den ersten Blick zumindest wirken sie sehr unmethodisch, fast schon naiv. Das fängt schon bei Matt Helders’ Position in der Band an. Der ist angeblich nur Schlagzeuger geworden, weil die anderen Jungs bereits die Gitarren besetzt hatten. Helders fasziniert, weil er so unplausibel ist. In seiner BMX-Markenkleidung könnte er noch als eine Art Mike Skinner des Nordens durchgehen, aber als trommelnder Antreiber einer lauten Indie-Gitarren-Band? Mit seinen kurz geschorenen Haaren ist er der jungenhafteste der vier.
Sie debattieren über Metaphern und Schokolade
Turner und O’Malley haben ihre Mähnen etwas „gebändigt“ und Cook hat sich erst kürzlich von seinem Bart getrennt. Helders scheint auch die Rolle des Klassenclowns übernommen zu haben und wird auf meine Fragen hin als lustigstes Bandmitglied nominiert. Nach seinen jüngsten Posts auf der offiziellen Webseite arcticmonkeys.com, ist das auch kein Wunder. Reichen diese doch von einem bizarren Monolog in einem Waschsalon irgendwo in der südlichen Hemisphäre der Welt über die Vorteile des Joggens bis hin zum surrealen Filmmaterial aus der übertrieben hochpolierten Großküche in der Villa des US-Rappers P. Diddy, in der er von diesem selbst in höchsten Tönen gerühmt wird.
Als wir über ihr neues Album sprechen, wirkt die versammelte Arctic-Monkeys-Truppe etwas albern. Ihren neuen Produzenten-Guru Josh Homme scheinen sie fast anzuhimmeln. Und sie verkünden glücklich, dass sie ihr Album nach einigen Zweifeln doch Humbug getauft haben. Gleich darauf entwickelt sich eine angeregte Debatte über Schokolade und Gebäck und darüber, wie diese sich als Metapher für die neue musikalische Richtung der Band eignen. So gut, wie sie sich auskennen, haben sie bestimmt einige Stunden investiert, um den Süßwarenladen ihres Vertrauens zu erkunden. Wie alt seid ihr eigentlich, frage ich sie. „Dreiundzwanzig“, sagen sie wie aus einem Munde. Als ich auf meinen Spickzettel schiele, fallen mir wieder die beiden anthropologischen Fragekomplexe ein, die ich mir überlegt hatte. Erstens: Die meisten Menschen verbringen die meiste Zeit ihres Lebens damit, ihren Träumen hinterherzujagen – und scheitern daran. Wenn diese Träume bei jemandem also praktisch sofort in Erfüllung gehen, was bedeutet das dann für die Zukunft? Und zweitens: Angenommen, die Arctic Monkeys wären nicht die Auserwählten Gottes, was sind dann die geografischen und sozioökonomischen Bedingungen, die ein solch seltenes musikalisches Talent hervorgebracht haben? „Keine Ahnung“, sagt Turner.
Ich treffe Alex Turner ein paar Tage später noch einmal. Wir spazieren im Osten Londons am Spitalfields Market zu einem Café, das er kennt. War er zuvor noch etwas zurückhaltend, ist er jetzt lebhaft und vergleichsweise geradezu überschwänglich. Angesprochen auf seine Wohnsituation – er besitzt ein Haus im Osten Londons –, begeistert er sich über das Thema Heimwerken. Er selbst sei ganz gut darin, sagt er, „aber eigentlich ist Cookie der Mann in Sachen Do-it-Yourself“. Der habe schon seit dem College Fliesen gelegt und ihm beim Umbau geholfen. Es gebe eine Brücke in der Nähe ihrer Heimatstadt Sheffield, erzählt Turner, die „Ocha“. Er und die Jungs hätten dort früher oft herum gehangen, und Cookie habe einmal zu ihm gesagt: „Gib Bescheid, wenn wir einen Plattenvertrag in der Tasche haben. Dann gehe ich direkt zur Ocha und werfe meine Maurerkelle ins Wasser.“
Es erscheint fast wie eine neue Version der Excalibur-Sage für die Arbeiterklasse: Statt des Artus-Schwerts wird dem Wasser eine Maurerkelle zurückgegeben. Und vielleicht bietet die Herrin vom See dann eine E-Gitarre, Marke Fender Stratocaster, zum Tausch. Und ich stelle mir vor, wie sich nach Bekanntwerden dieses Umstandes eine Gruppe japanischer Arctic-Monkeys-Besessener eines Nachts in Flossen und Tauchermaske zusammenfindet, um die Ocha nach Cooks Kelle abzusuchen.
Im Café bekommen wir einen „ausgezeichneten Tisch“, wie Turner es nennt. Und wieder beschämt er mich, indem er den Tee bezahlt. Ich frage ihn, ob es in seinem Elternhaus viele Bücher gab. „Meine Mutter liest, sie ist Linguistin und unterrichtet Deutsch. Mein Vater ist Musiklehrer, aber er steht auf Science Fiction.“
Ob er ihn zum Musiker erzogen habe, frage ich.
„Nein, aber ich hatte Klavierunterricht, bis ich acht war. Der Lehrer meinte, ich hätte ein gutes Gehör. Ich hab’s wieder aufgegeben, aber immerhin habe ich nicht bei Null angefangen, als ich zur Gitarre griff.“
Betrachtet er sich selbst eher als einen Jungen oder als einen Mann?, frage ich.
„Ich fühle mich immer noch..., also“, druckst Turner, „seit ich meine Haare habe wachsen lassen, halten mich die meisten für ein Mädchen. Ein Teenie-Mädchen aus den Siebzigern. Mir ist das egal. Ich sehe aus wie 15, oder?“
Wir kommen auf das zu sprechen, was ich für das Wichtigste bei den Arctic Monkeys halte: ihre Texte. Ich habe Turner gebeten, seine Notizbücher mitzubringen. Er wirft eins auf den Holztisch. Es ist von vorne bis hinten mit blauer Tinte voll geschrieben. Zeilenblöcke, Pfeile und Verbindungslinien, die auf Refrains und Verse auf anderen Seiten verweisen. Ab und zu sehe ich verschiedene Titel des neuen Albums – Crying Lightning, My Propeller – sowie Strophen von alten Stücken aufblitzen.
Turners Schreibweise in Großbuchstaben erinnert an Erpresserbriefe. Seine Handschrift werde ordentlicher, je größer sein Vertrauen in die eigenen Songtexte werde, sagt er. Ich frage ihn nach den vielen Anspielungen auf die späten Siebziger und frühen Achtziger in den Texten: Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Mitglieder der Arctic Monkeys noch nicht einmal geboren waren, als Frank Spencer in die Wohnzimmer hereinbrach und The Police Roxanne anflehten, auf keinen Fall das rote Licht anzuschalten. Solche Bezüge haben die Fans verblüfft und ließen sie über deren Herkunft spekulieren.
Turner sagt: „Das ist nur Spaß. Einmal habe ich versucht, in jedem zweiten Stück zwei Duran-Duran-Anspielungen unterzubringen und habe es am Ende nicht geschafft.“ Ob es ihm gefällt oder nicht, Turners Humor gehört zu den Eigenschaften, die ihn über die meisten seiner zeitgenössischen Kollegen erheben. Wie alle achtenswerten britischen Songtexter, ob Noël Coward oder Morrissey, leistet sich auch Turner gelegentlich feine Ironie oder einen originellen Ausdruck – selbst bei traurigen Stücken, wohingegen die meisten seiner Zeitgenossen sich damit zufrieden geben, mit Klischees zu jonglieren oder nichtssagende Abstraktionen aufzutischen. Ich frage mich, ob Turner die Zügel in der Hand hält und die Band in die von ihm bevorzugte Richtung lenkt.
Mehr Gitarrensolos und der Sound von Spaghetti-Western
Für das neue Album, das am 21. August auch in Deutschland erscheint, hätten sie zunächst 25 Songs aufgenommen und davon zehn ausgewählt, die zueinander passten, sagt Turner. Das Ergebnis: Es gibt mehr Gitarrensolos. Und es hat mehr von diesem albern aufgekratzten Country- und Spaghettiwestern-Sound, der zum ersten Mal auf dem Album The Last Shadow Puppets durchklang. Kein Wunder, dass ich beim Hören von Humbug an Bilder eines Steppenläufer-Buschs denke, der an einer Salontür vorbeiweht, während ein oder zwei Kojoten am Horizont herumlungern.
Über diesen Cowboy-Stil und das neue Album muss sich jeder eine eigene Meinung bilden. Für die Jungs von den Arctic Monkeys gilt: Man wird kaum vier sympathischere und ausgeglichenere Männer finden als Turner, Helders, Cook und O’Malley. In einer Industrie, die stolz auf die Exzesse von Musikern ist, und Ausschweifungen als legendär vermarktet, wird das wahrscheinlich vom Management der Monkeys nicht gerne gelesen. Die Arctic Monkeys haben eine Entschlossenheit, die einer tief verwurzelten Arbeitsmoral entspringt. Wahrscheinlich ist das so, wenn man aus einer Stadt kommt, die geradezu ein lebendes Denkmal für den Fleiß an sich darstellt.
Turner erzählt von dem Kick, auf der Bühne zu stehen, vor der bewundernden und erwartungsvollen Menge. „Ende des letzten Jahres ist uns bei all den Auftritten ein bisschen das Feuer abhanden gekommen. Aber jetzt sind wir wieder bereit. Ich bin darauf vorbereitet, den Menschen in die Augen zu schauen“, sagt er und sieht mich gerade so lange an, dass ich in seinen schwarzen Pupillen mein Spiegelbild sehen kann.
Dann schaut er weg.
Bands, die durchs World Wide Web bekannt wurden
The Teenagers
Am Heiligabend 2005 schrieben die drei jungen Männer aus Paris ihr erstes gemeinsames Lied, angeblich im Wodkarausch. Mit dem Titel Fuck Nicole gewannen sie über Myspace erste Fans, und schon der zweite Song Homecoming verhalf ihnen zu einem Plattenvertrag beim Londoner Label Merok Records. Bald schon tourten The Teenagers durch die USA. Ihr erstes Album Reality Check ist im März 2008 erschienen.
Little Boots
Sängerin Victoria Christina Hesketh verließ im letzten Jahr die britische Band Dead Disco, die daraufhin ihre Auflösung bekannt gab via Blog. Sie coverte zunächst die Songs, die sich im Netz über Myspace und Youtube verbreiteten. Inzwischen nennt sie sich Little Boots und schreibt erfolgreich auch eigene Lieder. Anfang dieses Jahres erhielt sie den BBC Award Sound of Music 2009, noch bevor im Juni ihr erstes eigenes Album mit dem Titel Hands erschien. littlebootsmusic.co.uk
Justice
Gaspard Augé und Xavier de Rosnay sind nicht nur über das Netz bekannt geworden: Beide legten schon länger als DJs in Pariser Clubs auf, bevor sie sich zum Elektro-Duo Justice zusammenschlossen. Ihr Durchbruch: Mit dem Remix Never be alone gewannen sie den Wettbewerb einer Radiostation. Entscheidend für ihren Erfolg war aber die Verbreitung ihrer Musik im Internet, vor allem über MP3-Blogs.
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