@Alle: Engagement geht anders

Soziale Medien Facebook und Twitter helfen nicht, die Welt zu verbessern, sagt der New Yorker-Kolumnist Malcolm Gladwell - und hat damit im Internet ein Beben ausgelöst

Soziale Netzwerke, diese losen, umtriebigen und selbstreferienziellen Communities von Facebookern und Twitterern, haben schon immer zu Vergleichen mit der Welt der Insekten eingeladen. Wenn wir den geläufigsten von ihnen bemühen wollen, hat der Chefprovokateur vom Magazin The New Yorker, Malcolm Gladwell, in der vergangenen Woche einen spitzen Stock in das Online-Ameisennest gestoßen. Die Twitterer reagierten auf diese Provokation, indem sie in Blogs und auf Websites ausschwärmten, um den ihnen Einheit stiftenden Glauben zu verteidigen: dass die Zukunft ihnen gehöre.

Gladwell ist ein kritischer Geist. Im New Yorker griff er die vorherrschende Meinung an, dass virtuelle soziale Netzwerke die Zukunft des politischen Engagements und Protestes und in totalitären Staaten vielleicht sogar der Revolution darstellten. Der Bestseller-Autor von "The Tipping Point" entwickelt diesen Gedanken mit der ihm typischen Chuzpe, indem er schnell von emotional aufgeladenen und sorgfältig ausgewählten Einzelfallstudien zu umfassenden universellen Prinzipien übergeht. Gladwell untersucht den effektivsten Massenprotest der Moderne – die amerikanische Bürgerrechtsbewegung. Anhand eines Berichts über das mutigen Sit-In in einem Café, das 1960 in Greensboro, North Carolina, stattfand, stellt er die These auf, derartiger Aktivismus basiere auf der Kraft und Stärke, die aus engen Freundschaften und geteilten Erfahrungen erwachse und bedürfe einer hierarchischen Führung. Dies alles könne niemals aus den „schwachen Banden“ und „horizontalen“ Assoziationen erwachsen, durch die das Werben um „Freunde“ und „Follower“ im Internet charakterisiert sei.

„Anhänger der sozialen Medien würden uns ohne Zweifel Glauben machen wollen, dass [Martin Luther] Kings Arbeit in Birmingham, Alabama, unendlich viel leichter gewesen wäre, hätte er mit seinen Anhängern via Facebook kommunizieren können und sich damit zufrieden gegeben, aus dem Gefängnis zu twittern“, so Gladwell in seinem Beitrag. „Aber Online-Netzwerke sind chaotisch: Denken Sie nur an die endlosen Korrekturen und Berichtigungen, Ergänzungen und Diskussionen, die für Wikipedia charakteristisch sind. Hätte Martin Luther King Jr. in Montgomery sich an einem Wiki-Boykott versucht, wäre er von den weißen Machtstrukturen plattgewalzt worden. Und welchen Nutzen sollte denn ein digitales Kommunikationsmittel in einer Stadt haben, in der man 98 Prozent der schwarzen Bevölkerung am Sonntagmorgen in der Kirche erreichen kann. Die Dinge, die King brauchte – Disziplin und Strategie – können Online-Netzwerke nicht zuwege bringen.“

Ineffektiver Wiki-Aktivismus

Als Beispiel dieser vergleichsweisen Ineffektivität des Wiki-Aktivismus verweist Gladwell auf eine virtuelle Unterstützergruppe, die sich auf dem Höhepunkt des Bürgerkrieges im West-Sudan gegründet hat. Die Facebook-Seite der "Save Darfur Coalition" habe 1.282.339 Mitglieder gehabt, deren finanzielle Unterstützung für die Sache habe sich allerdings auf gerade einmal 15 Cent pro Unterstützer belaufen.

Aus dieser und anderen Anekdoten zieht Gladwell den Schluss: Während soziale Netzwerke für eine bestimmte Art der Kommunikation nützlich sein mögen – beispielsweise um Gleichgesinnte auf bestimmte Veranstaltungen hinzuweisen oder ein bestimmtes Problem zu lösen, das mit „schwachen Banden“ gelöst werden kann, wie etwa einen Knochenmarksspender zu finden –, so sind sie nicht in de Lage, jene kollektive Leidenschaft entstehen zu lassen, die einzelne dazu bringt, sich in einer Form zu engagieren, die zu gesellschaftlichen Veränderungen führt. Es sei schlicht etwas anderes, so Gladwell, bei Facebook den "Gefällt mir"-Knopf anzuklicken oder an einem Sit-In mitzumachen oder auf andere Weise gewaltlosen Widerstand zu leisten. Die Wirkung sei so verschwindend gering wie das eingegangene Risiko.

"Die Verfechter der sozialen Medien", schreibt er, „scheinen zu glauben, dass ein Facebook-Freund dasselbe ist, wie ein echter Freund. Soziale Netzwerke können effektiv die Beteiligung steigern – indem sie den Teilnehmern weniger Motivation abverlangen. Mit anderen Worten: Der Facebook-Aktivismus kann die Menschen nicht motivieren, ein echtes Opfer zu bringen, sondern er bringt sie dazu, eben die Dinge zu tun, die man dann tut, wenn man nicht motiviert genug ist, um ein echtes Opfer zu bringen."

Viele der anonym Entrüsteten empfanden das als Kampfansage. Der User „Cynic“ schrieb in einem langen und beißenden Thread auf der Webseite der rivalisierenden Zeitschrift Atlantic Monthly, während „eine Gruppe von lokalen Aktivisten früher einen Aufruf in einer Zeitung veröffentlicht hätte, twittert sie heute. Natürlich gehen mit diesem Wandel wichtige Veränderungen einher. Für Organisationen ist es viel einfacher, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen ... sie können eine große Anzahl von Menschen einspannen, von denen jeder einzelne kleine Aufgaben erledigt, die sich dann zu einer großen Errungenschaft summieren.“

Nur ein Hahnenkampf der Medien-Elite?

Gladwell spart sich einen Großteil seines Zorns für Clay Shirky auf, den charismatischen Verfechter der Theorie der Macht der Online-Massen von der New York University und Autor des Social-Media-Werks Here Comes Everybody. Gladwells These: Shirky habe das Potenzial des Wiki-Aktivismus als Mittel für gesellschaftliche Veränderungen über Preis verkauft.

Als ich mit Shirky Kontakt aufnehme, um herauszufinden, was er von dieser Breitseite hält, zeigt dieser sich vor allem verwundert. „Was für ein seltsamer Artikel das doch war“, sagt Shirky. „Er begann mit zwei nicht zu beanstandenden Beobachtungen: In einer Gefahrenlage müssen politische Aktivisten sich untereinander verpflichtet fühlen, nicht nur gegenüber der Sache; und die Leute haben während der grünen Revolution im Iran viel Unsinn über Twitter behauptet. Von dieser Warte aus hätte er über starke und schwache Bande, über Hierarchien und Netzwerke sprechen können, die innerhalb von Protestbewegungen in einem Zusammenhang stehen. Doch stattdessen hat er sich auf die Idee eingeschossen, dass sie das nicht tun, dass soziale Netzwerke nicht dazu taugen, das 'Feuer', von dem er spricht, auszubreiten, oder jene, die 'Feuer' gefangen haben, zu rekrutieren.“

Am seltsamsten findet Shirky, dass „das Buch, das am meisten dazu beigetragen hat, der Öffentlichkeit zu erklären, wie schwache Bande dieses Feuer verbreiten können, Gladwells eigenes Buch The Tipping Point ist. Das mag nun nach einer internen Fehde innerhalb der Medien-Elite von Manhattan klingen, doch es gibt einen größeren Zusammenhang. Der New Yorker, zu dessen Star-Kolumnisten Gladwell zählt, versteht sich selbst als spirituelle Heimat einer Form des Lesens und Schreibens und des Engagements, das sich durch das Aufmerksamkeitsdefizit und die Oberflächlichkeit des flüchtigen Online-Konsums bedroht fühlen könnte.

Technische Lösungen für menschliche Probleme

Ich habe vor geraumer Zeit mit Gladwell darüber gesprochen, wie er den Computer nutzt: Er verbringe nicht viel Zeit im Internet, erklärte er. „Mir fällt sehr schnell nichts mehr ein, was ich noch nachschauen könnte.“ Indem er das vermeintlich der Intuition widersprechende Argument vorbringt, Soziale Medien hätten in einer sich verändernden Gesellschaft nur geringen Nutzen, scheint Gladwell eine allgemeinere Skepsis gegenüber der technik-basierten Kommunikation zu formulieren: Die riskikolosen Beziehungen, die die Technologie fördert, sind die Antithese eines echten, komplexen zwischenmenschlichen Austauschs.

David Remnick, Chefredakteur des New Yorker, erklärte unlängst: „So lange ich hier bin, werden wir nicht verändern, wer wir sind, egal wie die Trägersysteme aussehen, egal wie man uns liest. Bei uns geht es ums Lesen. Bei uns geht es um lange journalistische Formate ... mit einem Sinn für Vergnügen und einem Sinn für Ernsthaftigkeit, was gerade angemessen ist. [Wir werden] diese Kernstücke nicht einfach verwerfen, nur weil wir kurzfristig denken, „Wow, wissen Sie, die Zukunft sind doch eigentlich Stücke, die nur drei Absätze haben. Zur Hölle mit 15.000 Wörtern über die amerikanische Politik, oder damit, jemanden dreimal nach Afghanistan zu schicken, um eine Geschichte zu bekommen ...““

In einem – ironischen – Onlineforum, das die Furore verfolgte, die Gladwell erzeugt hatte, schrieb dieser vergangenen Donnerstag: Was ihn an den „Digerati“ wahnsinnig mache, sei, dass sie „sich weigern zu akzeptieren, dass gesellschaftliche Probleme existieren, für die es keine technische Lösung gibt. Die Technik wird das Energieproblem lösen. Davon bin ich überzeugt. Aber sie kann nicht das Problem der Dynamik lösen, die den 'menschlichen' Problemen zugrunde liegt: Sie macht es nicht einfacher zu lieben oder zu motivieren, zu träumen oder zu überzeugen.“

Im diskutieren Experten und Netzaktivisten über Gladwells Thesen.Online-Room for Debate der New York Times

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Übersetzung: Holger Hutt & Christine Käppeler
Geschrieben von

Tim Adams | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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