Allendes Enkelin

Wandel Camila Vallejo ist mit den Studierendenprotesten in Chile zum Star der internationalen Linken geworden. Nun will die überzeugte Kommunistin fürs Parlament kandidieren
Sie erhält Liebesbezeugungen und Todesdrohungen: Camila Vallejo bei einer Demonstration gegen Studiengebühren im Juni 2012 in Santiago de Chile
Sie erhält Liebesbezeugungen und Todesdrohungen: Camila Vallejo bei einer Demonstration gegen Studiengebühren im Juni 2012 in Santiago de Chile

Foto: Claudio Santana/AFP/Getty

Fast wäre das Treffen mit Camila Vallejo nicht zustande gekommen. Sie hatte ihr Flugzeug verpasst und befand sich zum Zeitpunkt unserer Verabredung 11.000 Kilometer weit weg in Chile. Am nächsten Tag kommt ein Anruf: „Könnten wir einen neuen Termin ausmachen?“ Vallejo hat es irgendwie geschafft, an Bord eines anderen Flugzeugs zu kommen und befindet sich bereits über dem Atlantik. Bei jemandem, der „in der Lage ist, eine Stadt lahmzulegen“, sei das nicht weiter verwunderlich, kommentiert der Sprecher der britischen Studentengewerkschaft National Union of Students, die Vallejo nach London zu einer Konferenz für Studentenvertreter aus der ganzen Welt eingeladen hat. Sie soll auf der Konferenz eine Rede halten.

Eine ganze Stadt lahmzulegen – man kann tatsächlich sagen, dass dies der 24-jährigen Geografiestudentin 2011 gelungen ist. Als Präsidentin der prominentesten Studentengewerkschaft Chiles trug Vallejo vor zwei Jahren maßgeblich dazu bei, eine große Welle von Studentenprotesten in Gang zu setzen. Dutzende Universitäten und Hunderte Schulen wurden monatelang besetzt. Ganze Semester mussten abgebrochen werden. Jede Woche zogen Studenten durch die Hauptstadt Santiago, an manchen Tagen bis zu 200.000. Jedes Mal war es wie ein kleiner Karneval. Die Polizei reagierte oft brutal, mit Tränengas und Wasserwerfern. Sogar Fälle „von Folter und sexueller Misshandlung“ habe es gegeben, sagt Vallejo. Ein Junge wurde von der Polizei gar erschossen. Auch Vallejo erlebte nach einer Studentenversammlung einen Angriff mit Tränengas: „Mein ganzer Körper brannte“, berichtete sie danach. „Es war brutal.“

Als die chilenischen Studentenproteste sich 2011 auf dem Höhepunkt befanden, erfreuten diese sich in Umfragen Zustimmungswerten von über 70 Prozent. Die Studierenden erzwangen eine Reihe von Zugeständnissen der chilenischen Regierung, zwei Minister traten zurück. Immer im Zentrum stand dabei Vallejo. Die „Boticelli-Schönheit“, wie der Schriftsteller Francisco Goldman sie nannte, wurde mit Anfang 20 zum Nationalheiligtum mit Nasenring – und zum jungen Megastar der internationalen Linken.

Ein strukturelles Problem

Als sie im Juni Mexiko besuchte, trotzten Menschenmengen dem Regen, um sie zu sehen: „Ich liebe dich“, beteuerte manch einer und überreichte ihr Blumen. „Camila Vallejo. Ich bin verknallt“, schrieb Alex Kapranos von der Band Franz Ferdinand, der ihr wie mehr als eine halbe Million weiterer Menschen bei Twitter folgt.

Da wirkt es fast schon seltsam, ihr in einer weniger aufgeregten Atmosphäre zu begegnen. Wir treffen uns an einem grauen Tag in einem Konferenzraum der University of East London, die eingepfercht zwischen den Schrotthalden und doppelspurigen Schnellstraßen Ostlondons liegt. Draußen dröhnen alle zwei Minuten Flugzeuge über die Startbahnen des nahen Londoner City Airport, drinnen schlüpfen drei Dutzend Studentenvertreter aus der ganzen Welt in den Raum. Sie sind erschöpft von drei Konferenztagen und kommen ein paar Minuten zu spät zu Vallejos Rede. Die wartet ruhig. Es ist ein seltsamer Ort für eine Revolutionärin.

Wofür kämpft Vallejo? Zuallererst für kostenlose Bildung. Die New York Times berichtete, proportional gesehen sei Universitätsbildung nirgendwo auf der Welt so teuer wie in Chile: Ein Abschluss kostet dort 3.400 Dollar pro Jahr. Das durchschnittliche Jahreseinkommen beträgt 8.500 Dollar. Noch schockierender ist, dass nur 40 Prozent der Teenager kostenlose öffentliche Schulen besuchen. „Man muss sich entscheiden“, sagt Vallejo später in unserem Gespräch, „für Schulden oder gegen Bildung.“ Sie fordert aber noch mehr. Ihre Generation drängt auf eine Neukonzeption der neoliberalen chilenischen Gesellschaft, die sich seit den Tagen Augusto Pinochets nicht verändert habe. Die Kluft zwischen Arm und Reich sei so groß wie in kaum einem anderen Land.

„Uns wurde klar, dass das Problem größer ist. Es ist strukturell“, sagt Vallejo. „Irgendwann begann sich die Debatte um den Zusammenhang zwischen Bildung und dem übergeordneten chilenischen Wirtschaftsmodell zu drehen“, erklärt sie die Radikalisierung der Studentenbewegung. Vor zehn Jahren waren die wichtigsten Studentenvereinigungen des Landes noch in kleineren Themen verzettelt. Dann schlossen sie sich zu den Protesten zusammen.

In erster Linie Kommunistin

Vallejo ist inzwischen nur noch stellvertretende Präsidentin der Studentengewerkschaft. Über ihre Abwahl im Winter 2011 scheint sie mittlerweile erleichtert: „Die Präsidentenrolle ist sehr administrativ – man muss sich darum kümmern, wie das Geld ausgegeben wird.“

Doch auch in anderer Hinsicht hat das Amt an ihr gezehrt. Vallejo erhielt Todesdrohungen, die so ernst waren, dass ihre Eltern, einstige Pinochet-Gegner, sie überzeugten, im Interesse ihrer eigenen Sicherheit umzuziehen. „Tötet die Hündin,“ twitterte in Anlehnung an einen Ausspruch Pinochets sogar eine Regierungsbeamtin, die später entlassen wurde.

Vallejo hat die Präsidentschaft unter anderem deshalb eingebüßt, weil viele der Meinung waren, sie lasse sich zu bereitwillig auf institutionelle Hierarchien ein. Sie ist in erster Linie Kommunistin, will aber auch Bündnisse mit Mitte-Links-Parteien eingehen und für das Parlament kandidieren. „Es geht ums Heute“, sagt sie. „darum, unsere Vorschläge ins Parlament zu tragen.“ Damit befindet sie sich nicht nur im Widerspruch zu anderen chilenischen Studenten, sondern auch zu linken Ideen, die andernorts derzeit einen Aufschwung erleben. Die Occupy-Bewegung – mit der die Besetzungsaktionen der chilenischen Studenten mitunter in einen Topf geworfen werden – gilt als weitgehend antiautoritär und lehnt die parlamentarische Demokratie ab. Vallejo hingegen hält eine Parlamentskandidatur für sinnvoll.

Warum? Sie spricht von Salvador Allende, dem marxistischen chilenischen Ex-Präsidenten, der 1973 durch einen Staatsstreich unter General Pinochet gestürzt wurde. Für sie gehört er „zu den bedeutendsten politischen Persönlichkeiten. Ich bewundere ihn“. Allende wurde durch demokratische Wahlen zum Präsidenten – für Vallejo ein Beweis, dass das Wahlsystem für linke Ziele genutzt werden kann.

Dass sie damit bei anderen Linken nicht nur auf Zustimmung stößt, stört sie nicht: „Ich leugne nicht, dass unsere politischen Ansichten sich unterscheiden. Wir wissen auch nicht, ob diese Debatte jemals zu einer Lösung führen wird. Aber wir wissen, dass die Diskussion an sich wichtig ist.“

Patrick Kingsley schreibt als freier Journalist Reportagen für den Guardian.

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Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Patrick Kingsley | The Guardian

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