Alles, was der Bewegung nützt

Afghanistan Die Taliban haben den Service-Gedanken entdeckt. Sie setzen längst nicht mehr nur auf militärische Stärke allein, sondern auf die Unzufriedenheit der gebildeten Afghanen

Qomendan Hemmet hockt im Schneidersitz unter einem Fenster der aus Ton und Schlamm errichteten Behausung, die er sein Hauptquartier nennt. Tief in einer alten Militärjacke versunken lehnt er an der Wand, neben ihm, in ein großes Tuch gehüllt, sein Stellvertreter mit einem Gesicht, das Jahre der Entbehrung gezeichnet und in dem die schwarz umrandeten Augen jeden Glanz verloren haben. Trupps von Kämpfern kommen ins Haus, trinken Tee, erhalten Befehle und gehen wieder. Ununterbrochen klingeln Telefone. "Salar ist das neue Falludscha", erklärt Qomendan Hemmet und scheint darüber nicht unglücklich zu sein. "Die Amerikaner und die afghanische Armee kontrollieren die Fernstraße und dazu noch fünf Meter rechts und fünf Meter links, mehr nicht. Alles, was dann kommt, ist unser Gebiet.

Mit dem "Gebiet" ist der Bezirk Salar in der Provinz Wardak etwa 80 Kilometer südlich von Kabul gemeint. Transitland für die Trasse von Kabul nach Kandahar, über die Amerikaner und NATO ihren Hauptnachschub für den Süden Afghanistans bewegen. Sie haben keine Wahl, es gibt nur dieses vom Krieg geschredderte Asphaltband. Vieles entlang der Trasse – und darauf bezieht sich Qomendan Hemmet mit seinem Vergleich – erinnert an die Autobahn zwischen Bagdad und dem umkämpften Falludscha im Jahr 2004: Überall zerschmetterte und ausgebrannte Trucks, liegen gebliebene Container, aufgegebene Jeeps, dazu eine Fahrbahn voller Krater, die Hinterlassenschaft der Sprengfallen, mit denen die Taliban Versorgungskonvois aufhalten oder auseinander treiben. Im vergangenen Jahr gelang ihnen das so häufig wie nie zuvor seit 2001, als die Amerikaner kamen und blieben.

Der Zustand der Straße von Kabul nach Kandahar ist ein Indiz dafür, wie das von ISAF, US-Soldaten und Hamid Karzais Regierungsarmee kontrollierte Gebiet mehr und mehr auf zu Festungen mutierte Städte schrumpft.
Einen Tag vor dem Besuch bei Hemmet sah ich seine Männer in Aktion. Irgendjemand hatte plötzlich mit gebieterischer Stimme "Janghi!" (Krieg!) geschrien, Sekunden später war der Himmel erfüllt vom Widerhall der Detonationen. Ein paar Pickups mit Raketenwerfern und afghanischen Milizionären, die offenbar zum Begleitkommando des unten auf der Straße vorbei ziehenden Konvois gehörten, rasten mit höllischer Geschwindigkeit davon und hinterließen nichts als riesige Staubwolken. Aus den drei gepanzerten Fahrzeuge der amerikanischen Eskorte ertönten heftige Maschinengewehrsalven.

Das Gefecht dauerte eine knappe Stunde und endete, als die Sonne flach und breit auf der Steppe lag. Eine tieffliegende F-16 raste über die Stellungen von Hemmets Kommando hinweg und hinterließ einen Rauchschweif, der sich wie ein Schwalbenschwanz spreizte. Das Hämmern der Maschinengewehre verlor seinen Rhythmus, um schließlich ganz zu veebben, Hemmet zog sich zurück. Kurz darauf fühlten sich die Amerikaner sicher genug, die Fahrt fortzusetzen. Das afghanische Begleitkommando, soweit es nicht die Flucht ergriffen hatte und unsichtbar blieb, sprang in Busse und Jeeps. Über einen knirschenden Teppich aus Patronenhülsen hinweg nahm der Konvoi langsam Fahrt auf.

Mit dem Segen Allahs

Der Weg zu Qomendan Hemmets Hauptquartier am Tag zuvor hatte sich als eine einzige tiefe Schlammspur erwiesen, die zwischen kahlen Felswänden auf der einen und kahlen Obstgärten auf der anderen Seite hindurch führte. Der junge Taliban-Scout, der mir als Lotse zugeteilt war und seine Kalaschnikow mit aller Sorgfalt unter einer Decke verborgen hielt, sprach kein Wort. Nur einmal durchbrach er sein Schweigen, um mich auf einen Punkt in der Ferne hinzuweisen. Wie ich später erfuhr, handelte es sich bei dem irrlichternden Gebilde weit hinten am Horizont um ein Fort der afghanischen Armee.

"Gestern hatte ich nur 18 Kämpfer", erklärte mir Qomendan Hemmet die Operation an der Straße nach Kandahar, den Blick starr auf die Mitte des Raumes gerichtet. "Ihr habt gesehen, wie viele Söldner und Amerikaner auf der anderen Seite standen, aber mit dem Segen Allahs wird das Blatt sich wenden. Als ich vor drei Jahren in diese Gegend kam, hatte ich sechs Mann, eine Panzerfaust und zwei Maschinengewehre wie dieses hier." Er deutete auf die BKC-MG an der Tür. "Heute habe ich über 500 Leute, 30 Maschinengewehre und Hunderte von Panzerfäusten. Vor einer Woche erst ließen die Amerikaner Hubschrauber über unseren Köpfen patrouillieren. Mit Panzern anzurücken, das können sie nicht mehr riskieren, links und rechts der Straße ist alles vermint."

Hemmets Untergebene saßen die ganze Zeit am Tisch und redeten kaum. Einer von ihnen sprach perfekt arabisch mit stark saudischem Akzent. Den habe er sich angeeignet, als er "mit den arabischen Brüdern zusammen kämpfte". Seine mit grünem und rotem Klebeband dekorierte Kalaschnikow lag zwischen uns auf dem Boden.

Jede Provinz habe ihren eigenen Taliban-Gouverneur, ihre eigenen Militärführer und ihren eigenen Rat, teilte Hemmet noch mit. Das sei ein durchdachtes ziviles und militärisches Führungsnetz. Viele seien inzwischen der Meinung, die Zivilverwaltung in den Taliban-Bezirken verfüge über bessere Gerichte als die Regierung. Offiziell würden sich alle Räte an Mullah Omar (das geistliche Oberhaupt der Taliban – die Red.) wenden, wenn sie Hilfe und Rat brauchten. In Wirklichkeit habe jeder Bezirk "seine eigene Dynamik".

Später, als Mullah Muhamadi, einer von Hemmets Männern, zu uns stieß, wurde endgültig klar, welchen Wert diese Strukturen für die Taliban haben. Muhamadi – er trug einen größeren Turban als die anderen – gab zu verstehen, dies sei weder ein Guerilla-Krieg noch ein konventioneller Krieg, bei dem man sich an ordentliche Fronten halten könne. In Afghanistan habe man beide Kriege in einem. "Wenn wir soweit sind, eine Provinz zu kontrollieren, müssen wir den Leuten zu Diensten sein. Wir wollen ihnen zeigen, dass wir regieren können, wenn wir eines Tages Kabul übernehmen. Wir wollen zeigen, dass wir aus unseren Fehlern gelernt haben."
Muhamadi holte einen Laptop heraus, um uns einen kurzen Film zu zeigen, den er selbst gedreht haben wollte. Man sah ein paar Kämpfer mit verborgenem Gesicht. Muhamadi zeigte auf den Bildschirm: Das übrigens sei Qomendan Hemmet. Die nächste Sequenz, Sekunden später, ein grüner Pickup der afghanischen Polizei fährt an einem Straßengraben vorbei, die Gruppe mit Hemmet eröffnet das Feuer, ein kurzes Gefecht. Blitze und Wetterleuchten
Es folgten die Aufnahmen eines gefangenen amerikanischen Soldaten. Zunächst sitzt der in einem behelfsmäßig zusammengezimmerten Büro vor einem Bildschirm, zwei Taliban, vermutlich die Bewacher, stehen hinter ihm. Nächstes Bild: alle drei lächeln in die Kamera. Danach ist der Amerikaner im Freien zu sehen, der Mann neben ihm sei der afghanische Übersetzer, erläuterte Muhamadi. "Wir haben diesen Amerikaner getötet und seinen Computer als Beute genommen. Er hatte im Irak gedient."

Agitatoren in Kabul

In einem kleinen Hotel am Rande von Kabul traf ich bald darauf zwei Studenten, die kein Hehl aus ihrer Sympathie für Männer wie Qomendan Hemmet und Mullah Muhamadi machten. Sie lebten in einem Zimmer, in dem es nur zwei Matratzen, Decken und einen Pappkarton als Unterlage für ein Fernsehgerät gab. Aus dem Badezimmer drang scharfer Geruch. Draußen hörte man das dumpfe Brummen des Verkehrs und das hysterische Singen einer Polizeisirene. Bei einem aus Käse, grünem Tee und Brot bereiteten Frühstück erzählte mir Luqman seine Geschichte. Der Junge war frisch rasiert, trug einen hauchdünnen Schnurrbart und Kleider, die so sauber waren, wie sie das im staubigen Kabul nur sein konnten. Als er mit dem Erzählen gar nicht mehr aufhören konnte, war ich mir irgendwann beinahe sicher, einer Radioansprache zu lauschen. Ich musste ihn mehrfach bitten, leiser zu sprechen. Vielleicht sollte nicht jeder in diesem verwahrlosten Hotel erfahren, dass Luqman für die Aufständischen arbeitete und eine Art Agitator der Taliban war. Luqman beeindruckte das wenig, er kümmere sich, berichtete er, besonders darum, Internetseiten der Taliban zu aktualisieren, wofür er die besten Voraussetzungen besitze mit seinem Arabisch und einem noch besseren Englisch und der Mitgliedschaft im Kulturrat der Taliban, was immer das heißen mochte.

"Wir halten die Augen offen. Wenn uns ein Thema auffällt, das den Taliban nutzen kann, greifen wir es auf und sorgen dafür, dass es ins Bewusstsein der Menschen dringt." Welche Themen das seien, fragte ich ihn. "Zum Beispiel, wie die Menschen von der Besatzung terrorisiert werden, oder warum die Regierung nichts gegen die Korruption tut. Wir beschäftigen uns mit allem, was den Taliban nützt." Fast stündlich würde die Internetseite aktualisiert. "Wir haben alle Werkzeuge, die wir brauchen, denn wir haben alle Sprachen, die wir brauchen. Die meisten von uns sprechen Arabisch, Paschtu und Dari und oft ein gutes Englisch." Luqman ließ mich wissen, er habe früher nichts von den Taliban gehalten. "Aber als die Besatzung begann, als wir all die Grausamkeiten sahen, gingen wir zu ihnen. Viele meiner Freunde von der Universität arbeiten nicht für die Taliban, weil sie Taliban sind, sondern weil sie gegen die Regierung und gegen die Besatzung sind."

Die Threki Taliban (die heutige Taliban-Bewegung – die Red.), das seien nicht mehr die gleichen Leute, von denen Afghanistan bis 1996 beherrscht wurde. Zum Schluss ließ sich sich Luqman zu einer Prophezeiung hinreißen: "Die Taliban ziehen den Ring um Kabul immer enger. Die Anzeichen für den Zusammenbruch der Regierung sind die gleichen wie bei allen Kollaborateuren, die es mit einem Aufstand zu tun haben. Die Regierung kontrolliert lediglich die Straße und merkt nicht, dass die Straße längst die Nase voll hat von ihnen."

Der andere im schäbigen Zimmer, er hieß Abdul Rhaman, erzählte noch, wie leicht es inzwischen sei, unter den Studenten Sympathisanten für die Taliban zu finden. "Wir nutzen unsere Möglichkeiten, unsere Worte und Beistifte. Und wir tun das in der Universität, auf dem Basar, in der ganzen Stadt. Die Regierung ist viel zu schwach, uns zu verfolgen oder zu überwachen." Für ihre Werbefeldzüge zugunsten der Taliban nahmen Luqman und Abdul Rhaman die von der Regierung des Präsidenten Karzai verbürgte Redefreiheit in Anspruch.

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Aus dem Guardian übersetzt von Holger Hutt
Geschrieben von

Ghaith Abdul Ahad | The Guardian

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