Alles wie gehabt?

Libyen Der Nationale Übergangsrat hat zugesagt, Verträge einzuhalten, die Gaddafi unterzeichnet hat. Das Versprechen birgt diverse Gefahren und wird die Korruption nicht dämpfen

Seit dem Zusammenbruch des alten Regimes wird verstärkt über die Herausforderungen diskutiert, denen das Land jetzt gegenüber steht. Demokratie, Pluralismus, nationale Aussöhnung und Religion sind die entscheidenden Themen, doch dürfte die Wiederherstellung der Herrschaft des Gesetzes am drängendsten sein. Wenn es nicht gelingt, die Korruption einzudämmen, bedroht das die Zukunft der libyschen Gesellschaft.

Selbstverständlich kontrollierte die bisherige Regierung alle Einnahmen, die in die Staatskasse flossen und hielt alle Verträge fest im Griff. Mit den Jahren stieg der Anteil der „Provisionen“ für alle existierenden Abmachungen exponentiell an und übertraf – so heißt es– am Ende in vielen Fällen sogar den eigentlichen Vertragswert. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass jemals sämtliche Details aller illegalen Machenschaften aus vier Jahrzehnten offenbar werden. Unstrittig ist, dass die Verträge der libyschen Regierung die primären Vehikel der Korruption waren.

Ein Riesenfehler

Verträge mit ausländischen Unternehmen boten eine bequeme Möglichkeit, Geld im Ausland zu waschen. Zumindest ein Teil dieses Geldes wurde darauf verwandt, terroristische Aktivitäten wie den Anschlag von Lockerbie zu finanzieren, die IRA zu unterstützen und in afrikanischen Konflikten zu intervenieren. Verträge mit inländischen Gefolgsleuten eröffnen ähnliche Möglichkeiten, um Drogenhandel, Schmuggel und andere kriminelle Aktivitäten zu finanzieren. Ein Großteil der libyschen Korruption ist in langfristigen Verträgen institutionalisiert, die das Gaddafi-Regime weltweit abgeschlossen hat – darunter mit Russland, China, Italien, Deutschland, Großbritannien und mit den USA. Der Nationale Übergangsrat wurde von diesen Ländern enorm unter Druck gesetzt, sich öffentlich zur Einhaltung der bestehenden Verträge zu bekennen. Und er hat nachgegeben, da er vom Wohlwollen der internationalen Gemeinschaft abhängig ist. Von etwaigen Bedingungen oder Vorbehalten ist bislang nichts bekannt. Doch es wäre ein Riesenfehler, die Verträge zu verlängern, ohne den ihnen zugrunde liegenden Missbrauch zu beseitigen.

Zum ersten stellen sie eine langfristige Bedrohung der nationalen Sicherheit dar, nicht nur für Libyen – auch für alle Länder, die die libysche Revolution unterstützt haben. Sie sind gespickt mit illegalen Zahlungen an Mitglieder der Gaddafi-Familie und deren Unterstützer. Diese Personen könnten auch weiterhin von den alten Verträgen profitieren. Die ihnen daraus zufließenden Mittel würden sie zweifellos teilweise dafür einsetzen, künftige Regierungen Libyens zu destabilisieren.

Es lohnt sich, darauf hinzuweisen, dass Gaddafi eben dieses Szenario in einer wenige Jahre nach seinem Amtsantritt gehaltenen Rede als Teil eines Aktionsplanes beschrieb, sollte die libysche „Revolution“ annulliert werden. Er versicherte den Libyern, die finanziellen Mittel für diesen speziellen Zweck seien bereits auf „sichere Konten“ im Ausland verteilt. Aber die Gelder könnten ebenso gut darauf verwendet werden, Terroranschläge in anderen Ländern zu finanzieren. Erst im August stellte sich ein libyscher Sicherheitsoffizier den tunesischen Behörden, nachdem er sich entschlossen hatte, seine Mission nicht zu vollenden: die Bombardierung der Botschaft eines nicht genannten arabischen Landes, höchstwahrscheinlich diejenige Katars.

Außerdem wird Libyen weiter mehr als notwendig für die in den jeweiligen Verträgen zur Disposition stehenden Güter und Dienstleistungen bezahlen, so dass die Korruption in den existierenden Regierungsverträgen institutionalisiert bleibt. Dabei benötigt das Land dringend alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel, um seine Infrastruktur aufzubauen und die Lebensqualität seiner Bürger zu verbessern.

Fuchs vor dem Hühnerhaus

Auch künftig werden viele Regierungsangestellte ehemalige Angehörige des Regimes sein. Also Leute, die ihre gesamtes Berufsleben hindurch in einem endemisch mit Korruption durchsetzten System gearbeitet haben. Während man den Angestellten in unteren Rängen dies nachsehen kann, gilt dies nicht für die höheren Funktionäre, die sich bewusst an der Korruption beteiligt und dadurch gewonnen haben. Viele profitieren auch weiterhin von den kriminellen Arrangements: Der Fuchs bewacht das Hühnerhaus.

Ich plädiere nicht dafür, die Verträge zu annullieren, sondern für ein Ende der öffentlichen Korruption. Trotz des vielfältigen Drucks, dem er sich ausgesetzt sieht, muss der Nationale Übergangsrat (NTC) in dieser Sache hart bleiben. Er sollte öffentlich, laut und immer wieder erklären, dass alle erneuerten Verträge, nationale wie internationale, in einer explizit korruptionsfeindlichen Sprache zum Schutz der grundlegendsten Rechte abgefasst sein werden und Antikorruptionsmaßnahmen höchste Priorität genießen. Wenn er dies noch nicht getan hat, muss der NTC schleunigst die beste rechtliche und rechnungsprüferische Hilfe in Anspruch nehmen, die er sich leisten kann, um die Interessen des Landes zu wahren und zu beschützen.

Auch wenn die Verantwortlichen möglicherweise glauben, die Länder, die sie unterstützt haben, nicht vor den Kopf stoßen zu können, sollte kurzfristiger Opportunismus nicht über langfristige Interessen obsiegen. Und diese Interessen sind die der Menschen, für die eine kommende Regierung arbeitet: Die libyschen Bürger, die keine Lust haben dürften, einfach so weiter zu machen wie bisher.

Omar Benhalim ist in Libyen geboren und US-Bürger. Er ist Mitbegründer von The Avicenna Group, einer nichtkommerziellen Organisation zur Unterstützung von kriegsbedingten physischen und psychischen Traumata in Libyen

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Omar Benhalim | The Guardian

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