1 Niemand soll das Internet besitzen oder kann es kontrollieren
Das wirklich Neue und Außergewöhnliche am Internet ist ja, dass es sich ständig weiterentwickeln kann, ohne dass es irgendeiner Genehmigung bedarf. Dafür sind zwei grundsätzliche Entscheidungen, die die Entwickler gegen Ende der Siebziger trafen, verantwortlich: Erstens sollte niemand eine zentrale Inhaberschaft besitzen oder das Internet kontrollieren können. Zweitens sollte das Netz nicht für irgendeine bestimmte Anwendung da sein. Es sollte lediglich dazu dienen, Datenpakete mittels großer Rechnernetzwerken so aufzunehmen und zu speichern, dass auch andere sie finden können. Ein Informationsnetz, wenn man so will.
Von den Inhalten dieser Informationen soll aber das Internet selbst keine Ahnung haben. Es soll einfach und ohne Fragen zu stellen jede Idee für eine Applikation umsetzen. Das hat die Hemmschwelle für Innovationen dramatisch gesenkt und führte zu einer Art explosionsartiger Freisetzung von Kreativität.
Die erste wirklich große Überraschung, die aus dem Internet hervorging, war das World Wide Web. Mit einer kleinen Gruppe von Helfern schrieb Tim Berners-Lee im März 1989, also vor genau 25 Jahren, die notwendige Software für den Hypertext-Dienst und fertigte die für die Umsetzung seiner Idee erforderlichen Protokolle an. Dann gab er seine Erfindung an die Welt weiter, indem er sie 1991 auf den Internetserver der Schweizer Forschungseinrichtung Cern stellte. Ohne vorher jemanden um Erlaubnis gefragt zu haben.
2 Das Internet ist viel mehr als nur das World Wide Web
Viele Menschen, sogar solche, die es eigentlich besser wissen sollten, bringen die das Internet betreffenden Termini häufig durcheinander. Google oder Facebook zum Beispiel sind nicht das Internet. Man muss sich das Internet wie die Gleise und Signalanlagen eines Bahnsystems vorstellen, das die Nutzung diverser Dienste wie E-Mail, Telnet, Usenet, World Wide Web und in letzter Zeit auch zunehmend Telefonie, Radio und Fernsehen ermöglicht. Das World Wide Web ist wichtig, aber es ist nur eines jener Dinge, die über das Internet laufen.
3 Das World Wide Web blieb nicht lange frei von Kommerz
Das Internet wurde ursprünglich vom amerikanischen Staat geschaffen, es diente der Vernetzung von Universitäten und lief auf einer Open-Source-Software. Wie schon gesagt, es gehört niemandem. Auf dieser ursprünglich freien Basis aber wurden später gewaltige Unternehmen gegründet und Vermögen angehäuft – etwas, das oft vergessen wird. Tim Berners-Lee hätte sehr reich werden können, aber er hatte das World Wide Web nicht unter kommerziellen Gesichtspunkten betrachtet. Er überzeugte das Cern, es der Welt als frei zugängliche Ressource zur Verfügung zu stellen. Wie schon das Internet wurde das World Wide Web somit zu einer zulassungsfreien Plattform. Schließlich konnte ja später auch ein Harvard-Student wie Mark Zuckerberg im Grundstudium auf dieser Grundlage so etwas wie Facebook gründen.
4 Mark Zuckerberg und das Versprechen des World Wide Web
Mark Zuckerberg konnte Facebook gründen, weil das World Wide Web noch immer grundsätzlich frei und offen ist. Doch er hat dieses Glück nicht teilen wollen: Facebook ist keine Plattform mehr, auf deren Grundlage andere, jüngere Menschen Innovationen verwirklichen können. Das Gleiche gilt für viele andere auch. Die einzige wirkliche Ausnahme ist Wikipedia.
5 Tim Berners-Lee ist ein zweiterJohannes Gutenberg
Mit der Erfindung des modernen Buchdrucks veränderte Johannes Gutenberg im Jahr 1455 die menschliche Kommunikation wie keiner vor ihm. Tim Berners-Lee ist seither der erste, dem etwas Vergleichbares gelungen ist.
6 Das World Wide Web kann man in drei Epochen aufteilen
Das World Wide Web von heute unterscheidet sich erheblich von dem vor 25 Jahren. Es hat sich mit einer gewaltigen Geschwindigkeit weiterentwickelt. Man kann diese Entwicklung in Epochen aufteilen. Das Web 1.0 war ein statisches Netz, in dem man nur lesen konnte; es existierte bis Ende der neunziger Jahre. Das Web 2.0 ist das interaktive, kollaborative, in dem man bloggt, Web-Dienste in Anspruch nimmt, sich Social Media bedient. Der Amerikaner David Weinberger nannte es das Web der „kleinen, lose miteinander verbundenen Teile“. Wie das Web 3.0 aussehen wird, beginnt sich gerade abzuzeichnen: Prägend sein werden wohl etwa Web-Apps, die die Inhalte von Webseiten „verstehen“ können, man nennt das auch das semantische Web. Und Apps, die die Flut von Daten lesen, analysieren und auswerten können, die heute standardmäßig auf Webseiten veröffentlicht werden. Und natürlich das Internet der Dinge. Danach wird das Web 4.0 kommen. Und so weiter.
7 Verteilung nach dem Potenzgesetz
In vielen Lebensbereichen gilt das Gesetz des Durchschnitts. Die meisten Sachen lassen sich statistisch in einem Muster anordnen, das einer Glocke gleicht. Man nennt das auch Normalverteilung. Nehmen Sie die Körpergröße: Die meisten haben eine durchschnittliche Körpergröße. Eine relativ kleine Anzahl hingegen ist besonders groß oder klein. Online hingegen verteilen sich, wenn überhaupt, nur sehr wenige Phänomene normal. Stattdessen folgen sie dem, was die Statistiker Verteilung nach dem Potenzgesetz nennen. Das erklärt, warum unter den Milliarden von Webseiten, die es gibt, nur eine kleine Anzahl die überwältigende Menge an Traffic generiert – während der große Rest nur sehr wenig aufweisen kann.
8 Das World Wide Web wird heute von Unternehmen dominiert
Obwohl jeder eine Webseite launchen kann, wird die überwiegende Mehrzahl der 100 meistbesuchten Webseiten von Unternehmen betrieben. Die einzige Ausnahme stellt auch hier erneut Wikipedia dar.
9 Google entscheidet, was wir im World Wide Web finden
Nehmen Sie den führenden Suchmaschinenbetreiber Google: Wenn Ihre Seite über eine Google-Suche nicht gefunden werden kann, existiert sie praktisch nicht. Das wird sich im Zuge der zunehmenden Bedeutung des Onlinehandels verschärfen. Von Zeit zu Zeit optimiert Google seine Such-Algorithmen, um denjenigen ein Bein zu stellen, die versuchen, das Unternehmen in Sachen Suchmaschinenoptimierung auszutricksen. Allerdings nimmt nach jeder Optimierung das Online-Geschäft einiger Unternehmen und Organisationen Schaden und kommt machmal sogar ganz zum Erliegen.
10 Das World Wide Web ist unser Gedächtnis geworden
Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Sie gar nicht mehr versuchen, sich bestimmte Dinge zu merken, weil Sie ja wissen, dass Sie sie im Bedarfsfall jederzeit googeln können?
11 Das World Wide Web verbindet alles mit allem
Das Web basiert auf der Idee des Hypertext. Damit ist gemeint, dass manche Begriffe dynamisch mit anderen Dokumenten verlinkt sind. Den Hypertext hat allerdings nicht Tim Berners-Lee erfunden, sondern schon Ted Nelson im Jahr 1963. Lange bevor Berners-Lee anfing, über das World Wide Web nachzudenken, haben viele verschiedene Hypertext-Systeme existiert, die jedoch lediglich Dokumente auf ein und demselben Computer verlinken konnten. Der Dreh, den Berners-Lee hinzufügte, bestand darin, das Internet dazu zu nutzen, Dokumente in beliebig anderen Ablageorten miteinander zu verbinden. Das war ein großer Unterschied.
12 Im World Wide Web kann jeder veröffentlichen
Früher konnten sogenannte normale Menschen ihre Ideen und Werke nur dann veröffentlichen, wenn es ihnen gelang, die Gatekeeper, also die jeweils Verantwortlichen in den Medien (Redakteure, Verlegerinnen, Moderatoren), zu begeistern. Im World Wide Web kann jeder alles veröffentlichen. Texte via Blogs, Wordpress, Typepad und Tumblr. Fotos via Flickr, Picasa, Facebook. Audio- und Videodateien via YouTube und Vimeo. Und die Menschen haben diese Chance ergriffen.
13 Ursprünglich sollte jeder Webseiten verändern können
Tim Berners-Lee wollte ursprünglich ein World Wide Web entwickeln, das den Menschen nicht nur ermöglichen sollte, Webseiten zu veröffentlichen, sondern sie auch selbst zu verändern. Praktische Überlegungen führten dann aber dazu, dass man es bei einer reinen Leseversion beließ. Jeder kann also heute etwas veröffentlichen, aber nur die Inhaber einer Seite können auch Änderungen an der Seite vornehmen. Auch das führte natürlich dazu, dass sich das World Wide Web in eine bestimmte Richtung entwickelt hat und es zu einer Dominanz von Großkonzernen kam.
14 Das semantische Netz wäre ein großer Fortschritt
Seiten im World Wide Web sind per definitionem maschinell lesbar. Allerdings sind diese Maschinen nicht in der Lage, zu verstehen, was sie da lesen. Sie können beispielsweise nicht ohne Weiteres auseinanderhalten, ob mit dem Wort Casablanca nun die Stadt oder doch eher der Film gemeint ist. Tim Berners-Lee hat deshalb das sogenannte semantische Netz vorgeschlagen. Dafür müssten die Seiten so aufgebaut werden, dass es für Computer einfacher wird, solche Unterscheidungen zu treffen. Das ist allerdings äußerst aufwendig und auf breiter Basis wahrscheinlich ohnehin nicht realisierbar. Praktikabler könnten da die immer besseren Techniken des maschinellen Lernens sein, mit denen die Fähigkeit der Computer zur Kontextualisierung verbessert werden kann.
15 Wissen Sie, was eine Killer-Applikation ist?
Eine Killer-Applikation ist eine konkrete Anwendung, die einer bereits existierenden Technik, die kaum auf Interesse stößt, weil keiner eine Verwendung für sie hat, zum Durchbruch verhilft – und sie damit letztlich verdrängt. Die Killerapplikation für den elektrischen Strom war das Licht, für den Verbrennungsmotor das Automobil, für den PC die Tabellenkalkulation, für das Arpanet die E-Mail. Das World Wide Web war die erste Killer-App des Internets. Vor dem Web – und insbesondere vor dem ersten grafischen Browser Mosaic aus dem Jahr 1993) – kannte das Internet fast niemand, obwohl es doch bereits seit dem Jahr 1983 existierte. Und wer davon wusste, scherte sich meist nicht viel darum. Als dann aber das World Wide Web auftauchte, machte es bei vielen plötzlich Klick. Den Rest erzähle ich Ihnen hier, der Rest ist längst Geschichte.
16 Hatte Douglas Adams eigentlich recht?
Nun, vielleicht stimmt das ja nicht, aber der amerikanische Schriftsteller Douglas Adams hat einmal behauptet, dass es sich bei der Abkürzung WWW um die einzige Abkürzung handele, die auszusprechen länger dauert als das Wort selbst. Well.
17 Das Web macht deutlich, was Software zu leisten vermag
Software ist zu 100 Prozent das Produkt menschlichen Vorstellungsvermögens. Programmierer haben eine Idee und schreiben ein paar Anweisungen in einer Spezialsprache. Fertig ist dann das Computerprogramm, das Sie in eine Maschine eingeben können, die Ihre Befehle buchstabengetreu befolgt. Es handelt sich um eine Art säkularer Magie. Berners-Lee hatte eine Idee, er schrieb den Code, er stellte ihn ins Internet und das Netzwerk erledigte den Rest. Und die Welt war eine andere.
18 Das World Wide Web braucht ein Mikro-Bezahlsystem
Davon abgesehen, dass es sich beim World Wide Web um ein reines Lesesystem handelt, das nur wenige verändern können, ist ein anderer folgenschwerer Geburtsfehler des Web gewesen, dass Publizisten nicht entlohnt werden können. Es existiert einfach kein globales und effizientes Online-Bezahlsystem für die Transaktion einer großen Menge an kleinen Beträgen. (Kreditkartensysteme sind zu teuer und umständlich für kleine Transaktionen.) Das führte dazu, dass das Netz sich dysfunktional entwickelte. Unternehmen boten Dienste an, die nur vermeintlich kostenlos sind, aber im Verborgenen eine Menge nicht ausgewiesener Kosten enthalten. Das führte zu der extremen Schieflage, die heute besteht. Online-Unternehmen lassen den Großteil der Arbeit von ihren Usern erledigen und streichen selbst die Gewinne ein.
19 Interaktionen im World Wide Web sind nicht sicher
HTTP ist das Übertragungsprotokoll, das für gewöhnlich die Kommunikation zwischen dem Web-Browser und dem Web-Server steuert. Es ist aber unsicher. Denn jeder, der diese Interaktion überwacht, kann sie auch lesen. Dann wurde HTTPS (steht für HTTP Secure) entwickelt, um jene Interaktionen zu verschlüsseln, die sensible Daten enthalten – zum Beispiel die Details einer Kreditkarte. Die Enthüllungen Edward Snowdens über die Überwachungspraktiken des US-amerikanischen Geheimdienstes NSA legen aber nahe, dass der Dienst das HTTPS-Protokoll und andere wichtige Internetprotokolle absichtlich geschwächt hat.
20 Das World Wide Web schädigt die Umwelt
Das World Wide Web wird weitgehend von riesigen Server-Farmen aus betrieben. Sie sind auf der ganzen Welt verteilt und verbrauchen große Mengen Strom für den Betrieb von Computern und Kühlungssystemen. (Ganz zu schweigen davon, wie viel CO2 ausgestoßen wird und wie viele Ressourcen verwendet werden, um diese Anlagen zu bauen.) Niemand weiß, welchen Einfluss das World Wide Web auf unser Klima hat, aber er ist definitiv nicht unbedeutend. Vor ein paar Jahren behauptete Google, sein ökologischer Fußabdruck entspreche dem von Laos oder den Vereinten Nationen. Heute gibt das Unternehmen an, jeder seiner Nutzer sei täglich für den Ausstoß von etwa acht Gramm Kohlendioxid verantwortlich. Facebook behauptet, man habe einen entschieden geringeren CO2-Ausstoß als Google, obwohl Facebook intensiver genutzt wird.
21 Wir kennen nur einen kleinen Teil des World Wide Web
Das Web ist riesig – niemand weiß genau, wie groß es ist. Wir wissen allerdings, dass der Teil, der mithilfe von Suchmaschinen erreicht werden kann, nur die Oberfläche darstellt. Das meiste verbirgt sich tief unten außerhalb der Reichweite der Suchmaschinen. Auf dynamisch generierten Seiten, auf Seiten, die nicht von anderen Seiten verlinkt werden und Webseiten, die nur über ein Login zugänglich sind. Die meisten Experten gehen davon aus, dass dieses tiefe (verborgene) Web um ein Vielfaches größer ist als die 2,3 Milliarden Seiten, die wir einsehen können.
22 Niemand konnte voraussehen, wie wichtig das Web ist
„Unklar, aber interessant!“ Diesen Kommentar kritzelte Berners-Lees Vorgesetzter im Cern neben den ersten Entwurf, den er einreichte. Die meisten, die mit etwas derart Neuem konfrontiert werden, würden wohl ähnlich reagieren.
23 Das am schnellsten wachsende Kommunikationsmedium
Eine Möglichkeit, das Wachstum eines Mediums zu messen, besteht darin, zu sehen, wie lange es braucht, um die ersten 50 Millionen Nutzer zu generieren. Beim Radio dauerte das 38 Jahre, beim Fernsehen 13. Das World Wide Web schaffte das in nur vier Jahren.
24 Web-Nutzer sind erbarmungslose Leser
Die durchschnittliche Verweildauer auf einer Seite beträgt weniger als eine Minute. Die ersten zehn Sekunden sind ausschlaggebend für die Entscheidung eines Nutzers, auf der Seite zu bleiben oder sie wieder zu verlassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Nutzer abspringt, ist in dieser Zeit sehr hoch. Auch in den darauffolgenden 20 Sekunden ändert sich dies nur geringfügig. Erst wenn jemand 30 Sekunden auf einer Seite geblieben ist, werden die Chancen größer, dass er sie sich wirklich anschaut.
25 Sorgt das World Wide Web dafür, dass wir verblöden?
Autoren wie der US-amerikanische Journalist Nick Carr sind davon überzeugt. Carr meint, aufgrund des großen Ablenkungspotenzials des World Wide Web würden immer weniger Menschen sich kontemplativ betätigen. „Neben den Alphabeten und Nummernsystemen könnte das Netz durchaus die wirkungsmächtigste bewusstseinsverändernde Technologie sein, die jemals massenhafte Verbreitung gefunden hat“, schreibt er. Doch die Technik hat’s gegeben und die Technik hat’s genommen. Auf jeden Skeptiker wie Carr kommen Leute wie Clay Shirky, Jeff Jarvis, Yochai Benkler, Don Tapscott und viele andere (einschließlich mir), die der Ansicht sind, dass die Vorteile bei weitem überwiegen.
John Naughton ist Professor an der Open University, der größten staatlichen Universität Großbritanniens. Der Internetexperte ist unter anderem Autor des Buches From Gutenberg to Zuckerberg: What You Really Need to Know About the Internet
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