Vor einer heruntergekommenen Grundschule im Viertel West Point stehen still und regungslos Ärzte und Pflegepersonal. Um sie herum wird die Nacht immer dunkler. Den Medizinern sind sämtliche Schutzanzüge, Latex-Handschuhe und das gesamte, so wichtige Chlor gestohlen worden. Nicht mehr vorhanden sind auch die 21 Patienten, die im Inneren des Gebäudes unter Quarantäne standen. Vor einer Stunde haben Einwohner aus dem Viertel nebenan die Tore aufgebrochen, die Schule gestürmt, die Einrichtung geplündert und die unter Ebola-Verdacht stehenden Patienten „befreit“. Sogar Bettzeug und Matratzen sind verschwunden. Nun wartet das Personal auf die Ankunft der Polizei, die sie alle in Sicherheit bringen soll. Das gelingt schließlich, alle kommen unversehrt davon. Zurück bleibt die Leiche eines verstorbenen Patienten, um die sich vorerst keiner mehr kümmert.
In der Schule sollten Infizierte aus der näheren Umgebung behandelt werden. Das nächste Krankenhaus war dermaßen überfüllt, dass die Mitarbeiter fürchteten, immer mehr Gesunde könnten es infiziert wieder verlassen. Doch nach nur 48 Stunden hat die improvisierte Station in der ungenutzten Schule ausgedient. Mindestens drei Menschen sind dort gestorben, behandelt werden konnte wegen der Belagerung von außen in den letzten Stunden niemand mehr.
West Point, der größte Slum in der liberianischen Hauptstadt, ist ein Mikrokosmos aus Angst, Anarchie, Ohnmacht und Verwirrung – der Umstände also, wie sie fast das ganze Land erfasst haben. Die Ebola-Epidemie hat inzwischen, Ende September, über 3000 Menschenleben gefordert.
Lokale Bräuche
Der Grad an Unvernunft und Widerstand gegen Maßnahmen der Behörden ist überall hoch. Trotz des von der Regierung Liberias verhängten Bestattungsverbots sind allein in Monrovia 150 Leichen heimlich im Sandboden begraben worden. Ein verhängnisvoller, ja selbstmörderischer Vorgang. Ebola wird über Körperflüssigkeiten übertragen. Die Leichen von Infizierten können noch Monate nach deren Tod infektiös sein, wenn sie nicht mit Chlor behandelt und in Plastik versiegelt werden. Doch die lokalen Bräuche in Gegenden, in denen die Ereignisse häufig auch mit religiösem Fatalismus und mit Aberglauben betrachtet werden, erschweren nicht selten, dass auf diese Weise vorgegangen wird.
Zurzeit macht das Gerücht die Runde, die Regierung lasse Trinkwasserbrunnen verseuchen, um so internationale Hilfsgelder zur Bekämpfung der Krise einzukassieren. Das schürt die verbreitete Vorstellung, das Leben gewöhnlicher Afrikaner gelte als entbehrlich. Erschwerend kommt hinzu, dass ein Land wie Sierra Leone im August seinen führenden Ebola-Arzt verloren hat und zudem viele Krankenschwestern und Pfleger gestorben sind. Aber erst als zwei Mitarbeiter des US-amerikanischen Hilfsdiensts Samaritan’s Purse, die in einem Isolationszentrum in Monrovia arbeiteten, sich infiziert hätten, sei die Aufmerksamkeit der ganzen Welt geweckt worden, sagt Ken Isaacs, Vizepräsident der Organisation.
Derzeit verlassen immer mehr ausländische Helfer Liberia, es entsteht der Eindruck eines aufgegebenen Kriegsgebiets. Nichtregierungsorganisationen fürchten um ihre Versicherungen im Schadensfall. „Es ist so, als würde den Leuten erst jetzt klar – das hier ist kein Club Med“, sagte ein Amerikaner vor seiner unfreiwilligen Evakuierung. Man lasse jetzt die überforderte Regierung Liberias allein, die nichts anderes tun könne, als die Grenzen zu schließen, ganze Regionen oder einzelne Orte unter Quarantäne zu stellen und nicht unbedingt dringend benötigte Mitarbeiter nach Hause zu schicken. Außerdem werde die tiefe Kluft sichtbar zwischen den Liberianern, die über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, das Land zu verlassen, und all denen, die dazu gezwungen sind, in Angst auszuharren.
Wunder erlebt
„Inzwischen ist die Front überall“, sagt der Arzt Jefferson Sibley vom Phebe-Krankenhaus, das fünf Mitglieder des Pflegepersonals und einen Arzthelfer an das Virus verloren hat. „Das Gute – wenn ich das so sagen darf – am Bürgerkrieg vor ein paar Jahren war, dass man die Schüsse hören und weglaufen konnte. Bei Ebola ist das anders. Man weiß nie, woher das Unheil kommt oder wer es überträgt.“
Die Ärztin Grazia Caleo meint, sie erlaube sich keine Angst. „Ich konzentriere mich darauf, das notwendige Prozedere einzuhalten. Langsam habe ich Sicherheit bei der Arbeit im Behandlungszentrum der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen gewonnen. Trotzdem ist mir stets bewusst, wie wichtig es ist, sich niemals vor einer Infektion sicher zu fühlen. Lange zu arbeiten und dabei müde zu werden, das ist gefährlich. Anfangs haben uns die Menschen in den Dörfern gar nicht gern empfangen. Allmählich aber glauben sie daran, dass wir kommen, um zu helfen. Wir haben Dorfoberhäupter eingeladen, damit sie sich selbst ein Bild von unserer Arbeit im Krankenhaus machen. Sie können jetzt nachvollziehen, warum wir die Patienten isolieren müssen. Es sieht für sie nicht mehr so aus, als ob Dorfbewohner weggebracht würden und unerklärlicherweise nie zurückkehren.“
Einmal wurden Caleo spät in der Nacht eine Frau und deren siebenjährige Tochter gebracht. Beide waren zuvor elf Stunden unterwegs gewesen. Die Mutter starb auf den letzten Kilometern vor der Krankenstation. Das kleine Mädchen verbrachte dadurch einen Teil der Tour im Krankenwagen neben der Leiche der Mutter und war danach so traumatisiert, dass es weder sagen konnte, wie es hieß, noch aus welchem Dorf es kam. Wenige Tage später hörte das Kind auf zu atmen. Aber sie habe nicht allein solche Tragödien, sondern auch Wunder erlebt, sagt Caleo. „Menschen, die ich für todgeweiht hielt, wurden gesund und verließen uns wieder. Wenn die Infizierten früh in ein Krankenhaus eingeliefert werden, kann man überhaupt keine Prognosen über den Verlauf der Krankheit treffen. Anders ist es mit denen, die bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der Epidemie sind: Man untersucht Menschen mit dünnen, ausgezehrten, zerbrechlichen Körpern.“ Zu sehen, wie Familien im Wissen um die Risiken der Ansteckung ihre Angehörigen pflegen, das lasse demütig werden, sagt die Ärztin Grazia Caleo. „Oft beobachte ich, wie sich ältere Kinder in der Hochrisikostation instinktiv um die jüngeren Kinder kümmern, auch wenn sie gar nicht miteinander verwandt sind. Die zurückliegenden Wochen haben mich etwas über die menschliche Seele gelehrt. Wir können sehr viel mehr aushalten, als wir denken.“
Gilt das auch für Menschen wie Stephen Kpoto? Er erzählt, seit sein Vater, der Bruder und die Schwester vor ein paar Tagen ins Behandlungszentrum West Point in Monrovia eingeliefert worden seien, habe er nicht mehr richtig geschlafen. „Ich habe sie mit dem Taxi dorthin gebracht. Auf das Ebola-Krisenteam, das wir zu Hilfe riefen, haben wir leider vergeblich gewartet. Die sind nie bei uns eingetroffen. Mein Bruder Abraham und meine Schwester Nancy sind erst 12 und 13 Jahre alt. Sie haben gar nicht begriffen, was mit ihnen geschieht. Aber ich wusste es. Und mein Vater, der wusste es auch.“
Es habe damit begonnen, dass die Stiefmutter vor drei Wochen krank wurde, sich häufig übergeben und ständig zur Toilette musste, erzählt Stephen. Nicht lange vorher sei deren Mutter den gleichen Symptomen erlegen. „Es gehört zu unseren Bräuchen, die Körper Verstorbener vor der Beerdigung zu waschen, meine Stiefmutter hat das für ihre Mama getan. Danach fühlte sie sich unwohl. Wir gingen in eine Apotheke, wo man ihr Medikamente gegen Malaria und Typhus gab und uns bat, schnell wieder zu gehen. Kurz darauf wurden ihre Augen rot, und ihr Gesicht veränderte sich. Wir riefen die Ebola-Hotline an, und es kam tatsächlich jemand.“ Im Behandlungszentrum habe es aber kein Bett für sie gegeben. Ein paar Tage später verstarb die Frau zu Hause.
Wochenlanges Warten
Die Nachbarschaft von Stephen Kpotos Familie hat seitdem Angst. Normalerweise müsste jetzt ein Krisenteam kommen, um das Haus der Verstorbenen mit Chlorlösung zu desinfizieren und das Virus abzutöten. Als nichts dergleichen geschah, hat Stephen selbst das Chlor gekauft. Dann aber fürchtete er, krank zu werden. Er brachte es tagelang nicht fertig, das Haus seiner Familie zu betreten. „Man wird von den Leuten drumherum wie ein Aussätziger behandelt, der sich am besten nie wieder blicken lässt, der zu verschwinden hat. Keiner ist da, um mir zu helfen. Ich muss einfach die drei Wochen Inkubationszeit abwarten. Ich beobachte mich selbst, halte Ausschau nach Symptomen. Ich fühle mich zu jung, um zu sterben. Mein Vater hat im Krankenhaus bereits jede Hoffnung verloren. Ich weiß das aus unseren Telefongesprächen. Abend für Abend hören wir unsere Stimmen, doch was sagt das denn schon? Meinem Bruder Abraham geht es bereits viel besser, höre ich dann, er kann allerdings noch nicht wieder richtig sprechen, meine Schwester Nancy aber, die ist völlig kraftlos.“
Zwei Tage später erhält Stephen die Nachricht, sein Vater sei gestorben. Bei den Geschwistern Nancy und Abraham sei alles unverändert. Da gibt es noch Hoffnung.
Die australische Journalistin Clair MacDougall schreibt für den Observer und den Guardian
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