Rehabilitierung Überall "Hardcore-Anarchisten" derzeit – doch Wikileaks hat wenig mit den Ideen des Anarchismus zu tun, und auch das Klischee des Steinewerfers wird ihnen nicht gerecht
Ausnahmsweise liege ich mit meinem Faible für den Anarchismus mal im Trend. Schon als ich bei den vergangenen Parlamentswahlen als Unabhängige kandidierte, nannte mich jemand Anarchistin – als wäre das etwas Schlechtes. Mittlerweile ist es groß in Mode gekommen. Überall finden sich "Hardcore-Anarchisten", die allen anderen das Leben schwer machen. Bei einigen von ihnen handelt es sich lediglich um aufmüpfige "Jugendliche", die sich mit einem Halstuch vermummen. Andere haben angeblich die "Anarchie im Blut", was kein schlechtes Geburtsrecht ist. Julian Assange ist entweder ein Cyber-Jesus oder ein heimtückischer Anarchist, der das gesamte System zum Einsturz bringen will – je nachdem, wen man fragt bzw. liest.
Aufregende Zeiten also für Leu
#252;r Leute, denen die Sache am Herzen liegt. Nicht, dass wir uns alle darüber einig wären, worin diese Sache genau besteht. Das Wort Anarchist ist zu einem Synonym für Leute geworden, die Chaos und Aufruhr herbeiführen wollen. Dabei bezeichnet der Begriff vielmehr jemanden, der den Staat abschaffen und an dessen Stelle ein Gesellschaftssystem der freiwilligen Kooperation setzen will. Für den Mutualismus oder Syndikalismus einzutreten, kommt heute dem Wunsch gleich, einen Pudding an die Wand nageln zu wollen. Die Leute halten einen für hoffnungslos verblendet oder romantisch. Vielleicht haben sie recht. Aber immer noch besser als überhaupt keine Utopie mehr zu haben. Wenn Großbritannniens Vizepremier Nick Clegg behauptet, man könne nicht in einer Traumwelt leben, muss ich an Raoul Vaneigem denken: "Wir können dem Alltäglichen nur entkommen, indem wir es manipulieren und unter unsere Kontrolle bringen. Wir müssen es in unsere Träume hineinstoßen ..."Anleitungen zur SprengstoffherstellungIn jungen Jahren wurden ich und ein Kumpel aus einer Wohnung hinausgeworfen und bekamen vom Amt eine Wohnung im 17. Stock eines Hochhauses zugewiesen. Stellen Sie sich das einmal vor! Es gab eine Zeit, in der jungen, alleinstehenden Menschen bezahlbarer, wenn auch zugegebenermaßen grässlicher Wohnraum zur Verfügung gestellt wurde! Jedenfalls hingen wir damals mit den Typen vom Anarchist Bookshop in der Railton Road in Brixton ab, die in ihrem Laden auch das Anarchistische Kochbuch vertrieben, das Anleitungen zur Herstellung von Sprengstoff enthielt. Ich hatte dagegen vielmehr auf ein paar akzeptable Rezepte gehofft, da die veganen Gerichte, die uns unsere Freunde vorsetzen, meistens wie Holz schmeckten.Sie kamen oft bei uns vorbei, obwohl sie nichts von Privateigentum hielten und uns agitierten, weil wir Miete zahlten. Meine stärkste Erinnerung habe ich ab eine Marathon-Runde Monopoly – sie waren wie besessen von dem Spiel. Der netteste von ihnen wurde Performance-Künstler, der sich öffentlich Schnitte zufügt und blutet. Bevor er anfing, sich die Lippen aufzuschlitzen und sein Blut im Kühlschrank zu lagern, war er ein äußerst liebenswerter und sozialer Zeitgenosse. Diese Anarchisten hatten jedenfalls einen Bus und boten an, uns beim Umziehen zu helfen. Das soll heißen, dass sie herumstanden und die dünnsten Zigaretten drehten, die die Welt je gesehen hat, während wir unsere irdischen Reichtümer 17 verdammte Stockwerke hoch tragen mussten.Mir wurde klar, dass bei der Revolution schweres Heben wohl nicht vorgesehen war, aber das war nicht das einzige, was sie mir beibrachten. Man konnte sich damals in ganz Europa der Bewegung anschließen, und auch wenn sie etwas anderes behaupteten, so gab es eine Hierarchie zwischen den "echten" Anarchisten und den anderen. Ja, Gewalt und illegale Aktionen gehörten auch dazu. Heute wird die Vorstellung von einer solchen Politik umerzählt und umgedeutet: Anarchy in the UK mit ein paar Malcolm McLaren-haften Schreien – als stünde hinter dem Anarchismus nicht eine komplette zusammenhängende Philosophie. Die Slogans von Debord und Vaneigem kamen nicht aus dem Nichts. Der Anarchismus hat eine lange und stolze Geschichte, ihn verbindet eine komplexe und symbiotische Beziehung mit dem Marxismus, und er war einst eine wichtige internationale Bewegung. Die diversen Abspaltungen führten zu sehr verschiedenartigen Inkarnationen in den unterschiedlichen Teilen der Welt, von Spanien bis Bangladesch. Von Kropotkin bis Proudhon, von Bakunin bis Emma Goldman, Noam Chomsky zu Jello Biafra ist der Anarchismus nie verschwunden.Es gibt keine Alternativen?Diese komplexe Bewegung, der es im Grunde um die völlige Rückführung des Staates in die Gesellschaft geht, auf ein Schimpfwort für jemanden zu reduzieren, der irgendetwas auf einen Polizisten schmeißt, ist der blanke Hohn. Je mehr die politischen Parteien zu einer einzigen, konturlosen Einheit verschmelzen, je nachdrücklicher man versucht uns weiszumachen, es sei kein Geld mehr vorhanden und es gebe keine Alternativen zu der herrschenden Politik, desto notweniger ist die Erinnerung daran, dass dies sehr wohl der Fall ist. Dabei haben anarchistische Gruppen stets mit dem Paradoxon zu kämpfen, wie verhindert werden kann, dass die Abschaffung der Macht bzw. deren vollständige Vergesellschaftung nicht zu einer anti-demokratischen und hierarchischen Operation verkommt.Man kann dies gegenwärtig sehr gut an der Affäre um Wikileaks sehen. Google-Vorstandschef Eric Schmidt nannte das Internet einst "das größte Experiment in Sachen Anarchie, das es jemals gegeben hat". In Wahrheit gehört es im Wesentlichen acht Unternehmen, auch wenn es sicherlich eine neue Art von Widerstand gibt. Mir gefällt der Kult, der um Assange gemacht wird, überhaupt nicht, aber seine frühen Blogeinträge lesen sich mit ihrer Rede von "Technologien der emotionalen Manipulation", die von Lollis über Spiele bis hin zu ausgepolsterten Büstenhaltern alles umfassen sollen, haargenau wie eine egomanische und runderneuerte Version von Guy Debords Die Gesellschaft des Spektakels. Assanges Kampf ist nicht der von Links gegen Rechts. Er will die Individuen gegen die Institutionen in Stellung bringen und letztere zum Einsturz bringen.Ein solcher Impuls hat eindeutig seinen Reiz und die Euphorie, die diese politische Geste bei seinen Anhängern auslöst, ist nicht zu übersehen – wir nannten das einst "die Propaganda der Tat". Die neue Generation benutzt die alten anarchistischen Methoden der Direkten Aktion, des zivilen Ungehorsams, von Graffiti und Sabotage mit beeindruckendem Fachwissen und brillanter Nutzung der Technologie. Aber die anarchistische Vision einer hierarchiefreien und klassenlosen Gesellschaft ohne Bosse, in der wahre und nicht nur vermeintliche Freiheit herrscht, steht der manchmal blinden Gefolgschaft und dem Kult, der um Wikileaks gemacht wird, diametral entgegen.
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