Angriff auf Facebook

Kommunikation Gerade erst haben Eltern gelernt, soziale Netzwerke zu nutzen, da wandern ihre Kinder zu neuen Plattformen ab. Sie möchten im Netz nicht Mama, Tante oder Opa treffen
Angriff auf Facebook

Foto: Sean Gallup/ AFP/ Getty Images

Bei der Veröffentlichung seiner Quartalszahlen machte Facebook zu Beginn des Monats ein erstaunliches Eingeständnis: Das Unternehmen erlebte einen „Rückgang bei der Zahl täglicher Nutzer, insbesondere unter jungen Teenagern“, so Finanzchef David Eberman. Mit anderen Worten: Teenager sind nach wie vor bei Facebook, sie nutzen die Plattform aber nicht mehr so oft wie früher. Die Erklärung ist insofern von Bedeutung, da Teenager oft als Vorreiter fungieren, die den Rest von uns oft auf das nächste große Ding hinweisen.

Die schrittweise Abwanderung zu Messenger-Apps wie WhatsApp, WeChat und KakaoTalk läuft darauf hinaus, dass Facebook ein Opfer seines eigenes Erfolgs wird. Im Zuge der ständigen Expansion auf mittlerweile 1, 2 Milliarden angemeldete Nutzer meldeten sich irgendwann auch die Mütter, Väter, Tanten und Onkel der ersten Nutzergeneration an und müllten die Seiten ihrer Kinder mit vermeintlich inspirierenden Zitaten und süßen Tierfotos zu. Da sie noch nicht einmal davor zurückschreckten, die von ihren Kindern eingestellten Bilder zu kommentieren, ist es kein Wunder, dass auf Facebook keine Berichte mehr über die letzten Kneipen-Eskapaden zu finden sind. Die Seite ist zu einem obligatorischen Kommunikationsinstrument geworden. Jugendliche bleiben dort angemeldet, weil alle anderen das auch sind.

Die lustigen Dinge passieren anderswo, auf ihren Mobiltelefonen.

Als Messenger-Apps wie WhatsApp 2009 auf den Markt kamen, schienen sie zunächst eine Bedrohung für Mobilfunkbetreiber darzustellen, da diese bei Textnachrichten Einbußen in Höhe von schätzungsweise 23 Milliarden Dollar hinnehmen mussten. Die Apps bieten über die Datenverbindung des Telefons eine kostenlose Chatfunktion an, die heutzutage oft unbegrenzt genutzt werden kann. Jetzt werden diese Apps auch für die etablierten Sozialen Netzwerke zur Bedrohung.

Invasion der Grauhaarigen

WhatsApp, die beliebteste Messenger-App im Vereinigten Königreich, die nach Angaben des Mobile Marketing Magazine auf der Hälfte aller iPhones installiert ist, verfügt weltweit über mehr als 350 Millionen Nutzer pro Monat. Das macht sie den Nutzerzahlen nach zur größten Messenger-App überhaupt, mit mehr aktiven Nutzern als der Social-Media-Liebling Twitter, der 218 Millionen zählt. Dem Mobilfunk-Beratungsunternehmen Tyntec zufolge werden Messenger-Apps von ungefähr 90 Prozent aller Brasilianer, drei Viertel aller Russen und der Hälfte der britischen Bevölkerung genutzt. WhatsApp ist in Spanien auf 95 Prozent aller Smartphones installiert. Die Unter-Fünfundzwanzigjährigen nutzen solche Anwendungen als erste und besonders intensiv.

Zum Teil liegt das daran, dass die Grauhaarigen bei Facebook eingefallen sind; zum anderen aber auch daran, was Messenger-Apps zu bieten haben: privates Chatten mit Leuten, mit denen man im wirklichen Leben befreundet ist. Anstatt auf Facebook passiv Leuten zu folgen, die man kaum kennt, fördern Apps das Chatten mit verschiedenen Gruppen echter Freunde. Echte Freunde deshalb, weil man normalerweise schon vorher über deren Handynummer verfügt. Der Trend läuft der Kritik zuwider, wonach das soziale Leben junger Menschen vornehmlich virtuell stattfinde. Es zeigt sich, dass viele in Wahrheit Privatheit und Werbefreiheit von Diensten wie WhatsApp nutzen.

„Ich nutze WhatsApp zur Zeit nur, um zu kommunizieren und Bilder zu verschicken“, sagt Natalie West, eine Londoner Mittzwanzigerin, die in der Finanzbranche arbeitet. In den vergangenen Jahren habe sie Facebook immer weniger genutzt, weil sie nicht wollte, dass „die ganze Welt erfährt“, was sie gerade macht. Wenn andere auf Facebook eine Einladung posten, antworten West und ihr Freund immer öfter über WhatsApp. Das sei persönlicher, sagt sie. Aus ähnlichen Gründen nutzen junge Leute dem Beratungsunternehmen mobileYouth zufolge mobile Messenger, um sich mit Freunden zu verabreden.

Nacktbilder ohne digitalen Fußabdruck

Ein weiterer Faktor besteht im Aufkommen des Selfie, einem oft reichlich dämlichen Selbstporträt, das auf Armlänge mit dem Handy gemacht wird. Bei nahezu der Hälfte aller Bilder junger Briten zwischen 14 und 21, die auf Feeds von Instagram zu finden sind, handelt es sich mobileYouth zufolge um Selfies. Es ist sicherer, diese Bilder über einen mobilen Messenger-Dienst zu verschicken als sie bei Facebook einzustellen. Hier besteht nicht die Gefahr, dass der Chef sie zu sehen bekommt oder Dutzende von Facebook-Freunden, deren Existenz man völlig vergessen hat. Auf Snapchat sind Selfies sogar ein noch größeres Ding. Auf der App können Bilder verschickt werden, die ein paar Sekunden, nachdem sie angesehen wurden, automatisch wieder gelöscht werden.

Die App hat bereits fünf Millionen aktive Nutzer pro Monat und erfreut sich bei Teenagern großer Beliebtheit, um Bilder, auf denen sie in verführerischer Pose oder ganz nackt zu sehen sind, von sich zu verschicken: „Sexting“, wie diese unüberlegte Praxis auch genannt wird. Teenager lieben Snapchat aber auf deshalb, weil es ihnen ermöglicht, unvorteilhafte Spaßbilder von sich zu verschicken, ohne Angst haben zu müssen, einen dauerhaften digitalen Fußabdruck zu hinterlassen. Die App aus Kalifornien gilt als so wachstumsträchtig, dass sie von der Tech-Community im Silicon Valley bereits auf zwei bis vier Milliarden Dollar geschätzt wurde. Für WhatsApp sind die Schätzungen sogar noch höher. Nach einem Jahr der kostenlosen Nutzung zahlt man jährlich 99 US-Cent. Manche glauben, es könne fünf Milliarden oder mehr wert sein.

Der letzte wichtige Grund dafür, dass junge Leute immer stärker Messenger-Apps nutzen, liegt darin, dass viele dieser Anwendungen mittlerweile mehr können als nur Nachrichten zu verschicken. Sie sind zu sozialen Netzwerken geworden. Die besten Beispiele stammen aus Asien, mit Nachrichtenplattformen wie KakaoTalk (Südkorea), WeChat (China) and LINE (Japan). Sie alle verfügen über Zehnmillionen von Nutzern, WeChat sogar 200 Millionen und bieten auch Spiele, Aufkleber und den Tausch von Musik an.

Konservatives WhatsApp

WhatsApp stellt hier eine Ausnahme dar. Gründer Jan Koum hat öffentlich erklärt, er plane nicht, Spiele anzubieten. Er und sein Partner Brian Acton sehen in ihr ein reines Kommunikationsmittel, das nicht mit zusätzlichen Funktionen belasten wollen, die sich möglicherweise negativ auf die Geschwindigkeit auswirken würden. „Die meisten Sozialen Netzwerke, die heute im Netz sind, wollen allen alles anbieten“, sagt Neeraj Arora von WhatsApp. „Unser Kerngeschäft besteht in der Kommunikation.“

Trotz dieses eher konservativen Ansatzes expandiert WhatsApp. So wie Facebook 2008 zunächst Facebook Connect einführte, um seinen Nutzern zu ermöglichen, auf anderen Seiten Dinge zu liken und zu kommentieren, ermöglicht WhatsApp seit kurzem auch anderen Mobile-Apps, Inhalte über WhatsApp zu teilen. Das Ganze steckt noch in den Kinderschuhen. Aber nachdem ein Musik-Streaming-Dienst im Nahen Osten den Button integrierte, mit dem man Lieder über WhatsApp teilen kann, war man überrascht, dass die Nutzer 50 Prozent mehr Songs über WhatsApp teilen als über Facebook.

Die Zukunft dieser Messenger-Apps ist noch immer ungewiss. Einige in der Branche erwarten Aufkäufe von großen Internetunternehmen wie Google. Letzteres soll Gerüchten zufolge in diesem Jahr bereits mit WhatsApp geflirtet haben. Facebook verfügt bereits über seinen eigenen Messenger-Service und Apple hat iMessage – beide sind beliebt, wollen aber keine Spiele integrieren wie die asiatischen Chat-Apps. Trotzdem ist es schwer vorstellbar, dass all diese Player sich zusammentun, um ein weltweites Soziales Netzwerk wie Facebook zu gründen.

Umsatzriese Facebook führt weiterhin

„Wenn man sich die Landkarte ansieht, dann ist sie nach Ländern aufgeteilt“, sagt Greg Woock, CEO des US-amerikanischen Telefon- und Nachrichtendienstes Pinger. „Wir dominieren in den USA, WhatsApp in Europa, LINE gehört Japan.“ Chinas WeChat versucht, aus dieser Form auszubrechen. Das Unternehmen spricht von internationaler Expansion. Zu diesem Zweck will man sich im Aussehen den verschiedenen nationalen Geschmäckern anpassen. „Wir haben viel darüber nachgedacht, wie wir es außerhalb Chinas bekannt machen können“, sagte Martin Lau, Präsident von Tencent, dem WeChat gehört, vor kurzen auf einer Konferenz.

Wer untergeht, überlebt oder wächst, hängt letztlich davon ab, wie erfolgreich die einzelnen Playern wirtschaftlich sind. Snapchat, mit der mehr Bilder verschickt werden als Nachrichten, muss noch erklären, wie es dies bewerkstelligen will.

Bei WhatsApp sei man dank der jährlichen Beiträge jetzt schon profitabel. Pinger setzt auf Werbung. WeChat, LINE, Kakao und Kik verkaufen Sticker und Spiele. Einige dieser Dienste werden aus der Mode kommen und ein paar Geschäftsmodelle werden scheitern. Sie alle sind sehr, sehr weit von den 2, 1 Milliarden Umsatz entfernt, die Facebook im vergangenen Quartal eingefahren hat.

Aber zweifellos werden Millionen von Teenagern diese Apps immer stärker nutzen und ältere Nutzer werden schließlich folgen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass dies zu Lasten von Facebook gehen wird.

Parmy Olson schreibt für das Forbes Magazine in San Francisco über Technik. Sie ist die Autorin des Buchs We Are Anonymous (Little, Brown, 2012)

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