Anschlag auf einen Unauffälligen

Salisbury Es ist unklar, wer hinter der Vergiftung des Ex-Doppelagenten Sergei Skripal steckt. Die Tat wirft ein wenig Licht auf etliche komplexe russisch-britische Verstrickungen
In Salisbury dauerten die Ermittlungen auch am Dienstag noch an
In Salisbury dauerten die Ermittlungen auch am Dienstag noch an

Foto: Christopher Furlong/Getty Images

Für einen Mann der in einer bescheidenen Doppelhaushälfte in einer Sackgasse in der vornehmen Kathedralenstadt Salisbury wohnte, hatte Sergei Skripal eine sehr unbescheidene Vergangenheit. Nach einigen Berichten soll der ehemalige Oberst des russischen Militärnachrichtendienstes GRU in seiner Zeit als Doppelagent dem britischen Nachrichtendienst MI6 die Identitäten von immerhin 300 russischen Agenten preisgegeben haben. Als er 2006 in Russland vor Gericht gestellt wurde, verglich der russische Inlandsgeheimdienst FSB ihn mit Oleg Penkowski, der 1963 hingerichtet wurde und als einer für den Westen wertvollsten Spione der Geschichte gilt.

2010 wurde Skripal im Rahmen des größten Agenten-Austauschs seit dem Ende des Kalten Krieges vorzeitig aus der Haft entlassen. Damals muss er sehr genau gewusst haben, was seine Kollegen von ihm halten. Viele FSB-Mitarbeiter zitieren gerne das Motto von Stalins Spionageabwehrdienst SMERSch: „Tod den Spionen“. Dass er früher GRU-Mitarbeiter war, machte die Sache nur schlimmer.

„Der russische Staat ist eine seltsame Konstruktion“, formuliert es der ehemalige britische Botschafter in Russland, Andrew Wood, heute Associate Fellow der britischen Denkfabrik für internationale Angelegenheiten Chatham House. „Der FSB ist keine monolithische Organisation. Es gibt darin Elemente wie den GRU, der eine Art Rivale des FSB ist.“ Viele FSB-Leute sind Ultranationalisten. Die Ermordung eines Verräters kurz vor den Präsidentschaftswahlen hätte ein schönes Geschenk für einen ihrer berühmtesten Ehemaligen abgeben können, Präsident Wladimir Putin, der sich anschickt, die Wahl am Sonntag mit 70 Prozent der Stimmen zu gewinnen.

So verhält sich kaum einer, der um sein Leben fürchtet

Andrew Wood hat wenig Zweifel daran, dass der Mordversuch am 66-jährigen Skripal und seiner 33-jährigen Tochter Yulia russische Wurzeln hat, da eine seltene Art Nervengas benutzt wurde, das nur wenigen Staaten zur Verfügung steht. Dass Putin selbst die Tat direkt abgesegnet hat, glaubt er aber nicht.

Dennoch: „Ziemlich sicher gab es eine Zustimmung von führenden Köpfen – das ist das System, das Putin aufgebaut hat. Seit 2012 macht Russland Rückschritte. Es erteilte ökonomischen Reformen und einer Stärkung der Gerichte eine Absage – zugunsten von Staatskontrolle und Repression. Es herrscht Furcht vor allem, was anders ist. Es ist ein Revival des Stalinismus und der Vorstellung, dass Russland das Recht dazu hat, seine Nachbarn zu dominieren.“ Angesichts dieses politischen Klimas haben ehemalige FSB-Offizieren das Gefühl, sie könnten ungestraft agieren.

Ob Sergei Skripal eine Ahnung hatte, dass sein Leben ist Gefahr war, ist unklar. In Polizeikreisen gab es Gerüchte, dass er vor dem Angriff eine polizeiliche Warnung vor einem drohenden Mordanschlag erhalten hatte. Aber Skripal scheint seinen Lebensstil in keiner Weise verändert zu haben: So verhält sich kaum jemand, der um sein Leben fürchtet.

Auch wird behauptet, dass auf seinem Bankkonto erhebliche Geldsummen gefunden wurden und dass die Auswertung seines Handys eine Verbindung zu dem ehemaligen MI6-Agenten nachweist, der ihn einst rekrutiert hatte. Aber nichts davon kann bestätigt werden. Dafür weiß man einiges über den betreffenden Agenten. Als Skripal 2004 verhaftet wurde, berichtete die russische Nachrichtenagentur Itar-Tass, dass der MI6-Offizier in der britischen Botschaft in Tallinn gearbeitet hatte und für die Anwerbung zahlreicher russischer Informanten verantwortlich gewesen war. Laut FSB war darunter auch der russische Geheimdienstmitarbeiter Wjatscheslaw Zharko.

Alte Verbindungen

An genau diesem Punkt stoßen Vergangenheit und Gegenwart aufeinander. Der versuchte Mord an den Skripals legt den Vergleich mit der tödlichen Vergiftung des ehemaligen russischen Spions Alexander Litwinenko nahe, der für den Exil-Oligarchen und Putin-Kritiker Boris Beresowski gearbeitet hatte. Laut dem Informanten Zharko war es Litwinenko, der ihn mit dem gleichen MI6-Agenten bekannt machte, der Skripal rekrutierte. „Es begann alles 2002, als er mich den Mitarbeitern des MI6 vorstellte ... Sie boten mir an, für sie zu arbeiten. Sie zahlten 2.000 Euro im Monat plus Ausgaben“, erklärte Zharko einmal einem russischen Sender.

Aber Skripal spielte in einer anderen Liga als Zharko. Er war der Agent, den die westlichen Geheimdienste 2010 vor allem auslösen wollten, als er zusammen mit drei anderen im Austausch gegen zehn russischen Agenten frei kam, darunter Anna Chapman, die in Großbritannien als Spionin gearbeitet hatte.

„Der Austausch war höchst ungewöhnlich“, erklärt der US-amerikanische Historiker Juri Felschtinski, Co-Autor von Litwinenkos Buch Blowing up Russia. „Er wurde als Einladung an Russen verstanden, für Ausländer zu spionieren, weil es zeigte, dass jeder Russe, der in Russland für Spionage inhaftiert war, ausgetauscht werden konnte.“ Felschtinski ist überzeugt, dass der Kreml kaum die Wahl hatte, Skripal nicht einzutauschen: Der Druck mächtiger Unterstützer, die zehn russischen „Schläfer“ so schnell wie möglich zurückzuholen, nahm stark zu. „Sie wussten, dass seine Freilassung ein Fehler war, aber sie wussten auch, dass sie später eine Chance haben würden, ihn zu töten“, so Felschtinski.

Ein Mann, der Rubbellose kaufte

Aber im Gegensatz zu Litwinenko schien Skripal ein ruhiges Leben gewählt zu haben. Er verhielt sich unauffällig und äußerte keine öffentliche Kritik an Putin. Alle Geschichten in der vergangenen Woche erzählten von einem Mann, der gern in Ruhe mal ein Glas trank, Rubbellose kaufte und gewissenhaft die Gräber seiner Frau Ljudmilla und seines Sohnes Alexander besuchte, deren Asche er aus Russland hatte zurückfliegen lassen.

Vor diesem Hintergrund ist es umso schockierender, dass auch seine Tochter Ziel des Anschlags wurde. „Das stellt die Spielregeln komplett auf den Kopf, und wird einige Leute in Angst und Schrecken versetzen“, erklärt Felschtinski. Morde, die mit dem Kreml in Verbindung gebracht wurden, haben bisher immer nur einzelne Individuen betroffen.

In Großbritannien etwa starb der Moskauer Banker und Whistleblower Alexander Perepilichni, nachdem er in der Nähe seines Hauses Joggen war; es besteht der Verdacht, dass er vergiftet wurde. Den Unternehmer und Oligarch Boris Beresowski fand man erhängt im Haus seiner Exfrau in Berkshire. Und auch der ehemalige russische Medienminister Michail Lessin wurde 2015 tot in einem Hotelzimmer in Washington aufgefunden. Nach Untersuchungen kamen die US-Behörden schließlich zu dem Schluss, dass er nach einem exzessiven Trinkgelage gefallen und an einer Kopfverletzung gestorben war.

Der frühere tschetschenische Präsident Selimchan Jandarbijew kam 2004 in Katar durch eine Explosion ums Leben, für die drei Russen zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurden. Allerdings wurden sie dann in ihr Heimatland ausgeliefert, wo sie wie Helden begrüßt und offenbar freigelassen wurden. Das erinnert an den Fall des ehemaligen KGB-Offizier Andrej Lugowoi, der in Großbritannien wegen des Mordes an Litwinenko gesucht wird, und seit seiner Rückkehr nach Russland als Politiker und erfolgreicher Geschäftsmann lebt.

„Nicht nur, dass sie ihre Gegner töten, sondern sie demonstrieren auch allen, dass ein solches Verbrechen nie bestraft wird“, erklärt der Historiker Felschtinski. „Vielleicht wird der Mord gar nicht entdeckt, und wenn er entdeckt wird und man wird festgenommen, holen sie einen da raus. Und dann wird man öffentlich befördert. Sie machen das sehr offen, sehr zynisch.“

„Nachdem er Russland verlassen hatte, war Litwinenko eine Art Geheimwaffe, sagt der Geschäftsführer einer Sicherheit- und Risiko-Analyse-Firma in London, die auch in Russland arbeitet. „Es gibt hier eine Menge Leute wie ihn. Sie können als Berater bei uns Geld verdienen. Der Mordversuch an Skripal war nicht gerade heimlich. Es ging dabei um Terrorismus, nicht darum, ihn zu eliminieren.“

Goldene Visa für Großbritannien

Der Anschlag wird die in Großbritannien ansässigen Feinde des Kremls alarmieren. Viele von ihnen kamen zwischen 2008 und 2015 im Rahmen eines heute nicht mehr bestehenden Programms, das ihnen den Aufenthalt im Austausch für Millioneninvestitionen in britische Staatsanleihen und Aktien erlaubte.

Laut Transparency International wurden fast die Hälfte solcher Visa an Russen erteilt, die fast 750 Millionen Pfund (850 Millionen Euro) investierten – zum Großteil in Londons Immobilienmarkt. Nach den Ereignissen der vergangenen Woche wird die Nachfrage nach privaten Sicherheitsfirmen, die die Häuser von Russen in den reichen Londoner Stadtvierteln Belgravia und Hampstead bewachen, erneut steigen.

Aber auch Verbündete des Kremls in Großbritannien werden sich Sorgen machen. Im Parlament fordern viele Abgeordnete lautstark die volle Umsetzung des so genannten Magnitsky-Gesetzes, mit dem Privatpersonen, die der Korruption und der Verletzung der Menschenrechte schuldig gesprochen sind, mit Visaverboten und Einfrieren des Vermögens sanktioniert werden könnten. Dazu wird es Theresa Mays bisherigen Ausführungen zufolge aber wohl nicht kommen.

„Transparency International hat in Großbritannien Immobilien im Wert von 4,9 Milliarden Euro identifiziert, die mit verdächtigem Geld gekauft wurden“, erklärt Transparency Internationals Strategie-Chef Duncan Hames. „Über ein Fünftel davon sind Immobilien, die von Russen gekauft wurden. Großbritannien war routinemäßig das Ziel für Russen, die verdächtiges Geld unterbringen wollten, und dank laxer Regulierungen und Offshore-Geheimhaltung fiel ihnen das nicht schwer.

Dass Großbritannien die eine Sanktion verhängt, die Russland wirklich massiv schaden würde, ist unwahrscheinlich: „Die europäischen Länder, darunter auch Großbritannien, haben bei ihrer Sanktionspolitik immer sorgfältig den Ankauf von russischem Gas ausgenommen“, erklärte Simon Pirani, Research Fellow am Oxford Institut für Energiestudien. Tatsächlich haben Großbritannien und die europäischen Länder nur sehr beschränkte Alternativen für Gas-Importe. Zwar ist in den Nachrichten von US-amerikanischem Flüssigerdgas die Rede, aber soweit wir aus unserer Forschung erkennen können, wird Russland eine Preispolitik fahren, die seinen europäischen Marktanteil gegen die Konkurrenz des amerikanischen Flüssigerdgas schützt.“

Übersetzung: Carola Torti

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Jamie Doward, Marc Bennets, Kevin Rawlinson | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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