Appell an die Vernunft

Kuba-Krise Es grenzt an ein Wunder, dass der Atomkrieg ausblieb. Denn ein deeskalierender Umgang mit Konflikten fehlt bis heute. Teil 3 von Noam Chomskys Essay
Die Luftaufnahme einer Raketenabschussbasis auf Kuba, die Kennedy als Beweis diente, die Seeblockade anzuordnen
Die Luftaufnahme einer Raketenabschussbasis auf Kuba, die Kennedy als Beweis diente, die Seeblockade anzuordnen

Foto: Getty Images

Als die Krise abgeebbt war, ließ Kennedy die Terroroperationen weiterführen. Zehn Tage vor seiner Ermordung stimmte er einem CIA-Plan zur Zerstörung „großer Ölraffinerien und Lager, eines großen Stromwerkes, von Zuckerraffinerien, Eisenbahnbrücken, Hafenanlagen, Docks und Schiffen“ zu.

Am Tag, an dem er selbst einem Attentat zum Opfer fiel, wurde offenbar ein Plan zur Ermordung Castros gefasst. Die Terrorkampagne wurde 1965 zwar erst einmal eingestellt, aber schon 1969 gehörte es Garthoff zufolge zu einer der ersten Amtshandlungen Nixons, die CIA anzuweisen, ihre verdeckten Operationen gegen Kuba wieder zu intensivieren.

"Chrustschows ursprüngliche Erklärung für die Entsendung der Raketen nach Kuba entsprach der Wahrheit: Der sowjetische Staatschef hatte nie vorgehabt, mit diesen Waffen die Sicherheit der USA zu bedrohen. Er sah in ihrer Stationierung viel mehr eine defensive Maßnahme zur Verteidigung seiner kubanischen Verbündeten gegen die Angriffe der Amerikaner“, schreibt Stern. „Es war ein verzweifelter Versuch, der UdSSR im nuklearen Kräftegleichgewicht den Anschein der Ebenbürtigkeit zu geben“.

Und auch bei Dobbs ist zu lesen, „Castro und seine sowjetischen Beschützer“ hätten „gute Gründe dafür gehabt, die amerikanischen Versuche eines Regime-Wechsels, einschließlich einer Invasion auf Kuba zu fürchten. Chrustschow war es wirklich ernst damit, die kubanische Revolution vor dem mächtigen Nachbarn im Norden zu beschützen.“

"Schrecken der Erde"

Die amerikanischen Angriffe werden von US-Kommentatoren oft als außer Kontrolle geratene Dummheiten der CIA abgetan. Das entspricht nicht der Wahrheit. Die Besten und Klügsten hatten auf das Scheitern der Invasion in der Schweinebucht nahezu hysterisch reagiert. Der Präsident machte hierbei keine Ausnahme. Feierlich ließ er das Land wissen, dass die selbstzufriedenen und schwachen Gesellschaften mit dem Unrat der Geschichte hinweggespült werden würden und nur die Starken überleben könnten. Und dieses Überleben hielt er ganz offensichtlich nur durch massiven Terror für möglich – auch wenn er diese Ergänzung für sich behielt und sie vielen bis heute nicht bekannt ist, die immer noch glauben, der ideologische Gegner habe angegriffen – eine Sicht der Dinge, die Kern zufolge auch heute noch nahezu universell sei.

Nach der Niederlage in der Schweinebucht habe JFK ein Embargo erlassen, um die Kubaner für die Vereitelung der US-Invasion zu bestrafen, schreibt der Historiker Piero Gleijeses. Gleichzeitig bat er seinen Bruder, den Generalstaatsanwalt Robert Kennedy, die Leitung eines ressortübergreifenden Ausschusses zu übernehmen, der die Operation Mongoose überwachte – ein Programm bestehend aus paramilitärischen Operationen, Wirtschaftskrieg und Sabotageakten, das Ende 1961 ins Leben gerufen worden war um die „Schrecken der Erde“ über Fidel Castro kommen zu lassen oder etwas prosaischer: ihn zu stürzen.

Die Formulierung „Schrecken der Erde“ geht auf Arthur Schlesinger zurück, der sie in seiner quasi-offiziellen Biografie Robert Kennedys verwendet. Der Bruder des Präsidenten war für die Leitung dieses Terrorkrieges bestimmt worden. Er ließ die CIA wissen, dass die amerikanische Regierung „dem Problem mit Kuba die oberste Priorität“ einräume. „Alles andere ist sekundär.“ Beim Sturz des Castro-Regimes dürfe man es an nichts fehlen lassen. Die Leitung der Mongoose Operationen wurde an Edward Lansdale übertragen, der über breite Erfahrung in Sachen „Aufstandsbekämpfung“ verfügte – eine Standardformulierung für von den USA ausgehende Terrorakte. Er erstellte einen Zeitplan, der bis Oktober 1962 zu einem „offenen Aufstand und einem Sturz des kommunistischen Regimes“ führen sollte.

Die „letzte Definition“ des Programms erkannte an, dass „für einen endgültigen Erfolg eine militärische Intervention der USA entscheidend“ sein würde, nachdem Terror und Subversion den Boden bereitet hatten. Hieraus kann gefolgert werden, dass die US-Intervention just zu dem Zeitpunkt stattfinden sollte, als die Kubakrise ausbrach. Kuba und Russland hatten also gute Gründe, die Drohungen ernst zu nehmen.

Rückblickend

Jahre später räumte Robert McNamara ein, dass Kuba zurecht einen Angriff befürchtete. „Wenn ich an der Stelle der Kubaner oder Russen gewesen wäre, hätte ich das auch gedacht“, sagte er bei einer Konferenz zum 40. Jubiläum der Kubakrise.

Der „verzweifelte Versuch der Russen, den Eindruck zu vermitteln, die UdSSR sei den USA ebenbürtig“, von dem Stern spricht, ruft in Erinnerung, dass Kennedy seinen äußerst knappen Sieg bei den Wahlen 1960 maßgeblich der Behauptung verdankte, es bestehe zwischen den USA und der UdSSR eine „Raketenlücke“. Er stellte sie auf, um der Bevölkerung Angst zu machen und der Eisenhower-Regierung Schwäche in Bezug auf die nationale Sicherheit vorwerfen zu können.

Es gab in der Tat eine Raketenlücke, aber sehr zugunsten der USA. Die erste, eindeutige, öffentliche Erklärung zu den wirklichen Fakten erfolgte Desmond Ball zufolge im Oktober 1961, als der stellvertretende Verteidigungsminister Roswell Gilpatric den US-Wirtschaftsrat darüber informierte, dass den „US nach einem Überraschungsangriff noch ein nukleares Trägersystem zur Verfügung“ stehe, „das die atomare Schlagkraft übersteigt, die die Sowjetunion bei ihrem Erstschlag zur Anwendung bringen könnte."

Die Russen aber waren sich ihrer relativen Schwäche und Verwundbarkeit ebenso bewusst wie der Antwort auf die Frage, wie Kennedy auf das Angebot Chrustschows reagieren würde, die offensiven Militärkapazitäten zu reduzieren und auch unilateral daran festzuhalten, falls er keine Antwort von Kennedy erhalten würde: namentlich leitete Kennedy ein umfangreiches Rüstungsprogramm ein.

Die zwei entscheidendsten Fragen bezüglich der Kubakrise lauten, wie sie begann und wie sie endete. Sie begann mit Kennedys terroristischem Angriff auf Kuba und der Androhung einer Invasion im Oktober 1962. Sie endete damit, dass der Präsident Angebote der Russen zurückwies, die jedem vernünftigen Menschen fair erscheinen wären, die aber undenkbar waren, weil sie das grundlegende Prinzip untergraben hätten, dass die USA das unilaterale Recht genießen, überall auf der Welt Atomraketen zu stationieren, die auf China, Russland oder wen auch immer gerichtet sind, und zwar unmittelbar an den Grenzen zu den betreffenden Ländern.

Kennedys Sternstunde

Kuba hatte im Gegenzug in den Augen der USA kein Recht darauf, sich mit der Stationierung von Raketen gegen eine mutmaßlich unmittelbar bevorstehende Invasion der USA zu abzusichern. Um diese Prinzipien zu etablieren, hielt man es für absolut angemessen, das Risiko eines Krieges einzugehen, der unvorstellbare Zerstörungen mit sich gebracht hätte.

Garthoff bemerkt, dass Kennedy für seinen Umgang mit der Krise in den USA nahezu „völlige Zustimmung“ erhalten habe. Dobbs schreibt, der „schonungslos optimistische Ton“ sei „vom Hofhistoriker Arthur M Schlesinger Jr. eingeführt worden, der festhielt, Kennedy habe "die Welt mit einer Mischung aus Härte und Zurückhaltung, Willen, Mut und Klugheit so brillant kontrolliert und beispiellos geeicht.“ Stern ist etwas nüchterner, stimmt ihm aber teilweise zu und weist darauf hin, Kennedy habe wiederholt den Rat seiner Berater und Vertrauten zurückgewiesen, die für eine militärische Option plädierten.

Was sich im Oktober 1962 ereignet hat, wird von vielen als Kennedys Sternstunde gerühmt. Auch Graham Allison stimmt in diesem Chor mit ein, wenn er den Umgang mit der Krise als „Lehrbuch für die Lösung von Konflikten, den Umgang zwischen Großmächten und grundsätzlich kluge außenpolitische Entscheidungen“ bezeichnet. In einem sehr engen Sinn scheint dieses Urteil zutreffend: Die ExComm-Bänder zeigen, dass der Präsident ablehnte, vorschnell auf Gewalt zu setzen, auch wenn andere, manchmal sogar alle anderen ihn zu deren Anwendung drängten.

Es stellt sich aber doch die Frage, wie JFKs relativ gemäßigte Handhabung der Krise vor dem Hintergrund der anti-kubanischen Aggression Operation Moongoose zu beurteilen und verstehen ist, die hier dargestellt wurde. Doch diese Frage kommt nicht auf in einer disziplinierten intellektuellen und moralischen Kultur, die unhinterfragt das grundlegende Prinzip akzeptiert, dass den USA die Welt gehöre und per Definition eine Kraft sei, die trotz gelegentlich auftretender Fehler und Missverständnisse das Gute befördert.

Es sei daher absolut in Ordnung, wenn die USA auf der ganzen Welt offensiv Gewalt anwenden, während es ein Grund zur Empörung darstellt, wenn andere (Verbündete und Vasallen ausgenommen) auch nur die kleinste Geste in diese Richtung machen, oder auch nur an Abschreckung gegen die drohende Anwendung von Gewalt durch die gütige, globale Hegemonialmacht denken.

Kein Mangel an Konflikten

Auch in der heutigen Auseinandersetzung mit dem Iran geht es in erster Linie um diese Doktrin: Er könnte eine Abschreckung gegen die Streitmächte der USA und Israels darstellen. Das Festhalten an diesen Prinzipien trägt auch heute noch zu der ständigen Gefahr eines Atomkriegs bei.

An konkreten Gefahrensituation bestand auch nach der Kubakrise kein Mangel. Zehn Jahre später, während des israelisch-arabischen Krieges von 1973 ließ Henry Kissinger als Warnung an die Russen, sich aus der Sache rauszuhalten, die erhöhte Einsatzbereitschaft (Defcon 3) der US-Streitkräfte ausrufen, während er den Israelis insgeheim die Erlaubnis erteilte, den von den USA und der Sowjetunion verhängten Waffenstillstand zu verletzen.

Als Reagan ein paar Jahre später ins Amt kam, führten die USA Manöver durch, bei denen sie russische Verteidigungsstrategien durchspielten und Angriffe vom Wasser und der Luft her probten, während sie in der BRD Pershing-Raketen stationierten, die in fünf Minuten russische Ziele erreicht hätten und das ermöglichten, was die CIA einen "superplötzlichen Erstschlag" nannte.

Selbstverständlich sorgte dies in Russland, das anders als die USA wiederholt überfallen und zerstört worden war, für große Besorgnis und führte 1983 zu einer großen Kriegsangst. Es hat hunderte von Fällen gegeben, in denen ein Erstschlag nur wenige Minuten vor seiner Durchführung von Menschenhand verhindert wurde, nachdem automatisierte Systeme falschen Alarm gegeben hatten. Wir können die russischen Aufzeichnungen nicht einsehen, aber ihre Systeme sind zweifellos weit störungsanfälliger als unsere.

Unterdessen standen Indien und Pakistan schon mehrmals kurz vor einem Atomkrieg und die Quelle des Konflikts besteht nach wie vor weiter. Beide weigern sich ebenso wie Israel, den Nichtweiterverbreitungsvertrag zu unterzeichnen und wurden von den USA bei der Entwicklung ihres Atomwaffenprogramms unterstützt. Für Indien, das nun mit den USA verbündet ist, gilt dies bis heute. Die Kriegsdrohungen im Nahen Osten, die sehr bald schon Realität werden könnten, sorgen heute einmal mehr dafür, dass die Gefahr steigt.

1962 wurde der Krieg durch die Bereitschaft Chrustschows verhindert, Kennedys hegemoniale Forderungen zu akzeptieren. Aber wir können uns kaum darauf verlassen, dass es auch in Zukunft immer jemanden geben wird, der so vernünftig handelt und es grenzt an ein Wunder, dass ein Atomkrieg bis heute verhindert werden konnte.

Es besteht heute mehr Grund denn je, uns die Warnung zu vergegenwärtigen, die Bertrand Russell und Albert Einstein vor fast 60 Jahren ausgesprochen haben – dass wir vor der nüchternen, erschreckenden und unausweichlichen Entscheidung stehen:

Sollen wir der Menschheit ein Ende bereiten, oder soll die Menschheit dem Krieg abschwören?

Sie lesen Teil 3 von Noam Chomskys Essay über die Kuba-Krise. Zum zweiten Teil geht es hier entlang. Den ersten Teil finden Sie hier

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Mit Lust am guten Argument

Übersetzung der gekürzten Fassung: Holger Hutt
Geschrieben von

Noam Chomsky | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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