Wer meint noch ernsthaft, dass das Internet und das ‚echte Leben‘ zwei völlig voneinander getrennte Sphären seien? In Großbritannien beweist ein großer Bauernhof gerade das Gegenteil. Er wurde von Internetusern aus der ganzen Welt übernommen, die nun über jede wichtige Entscheidung abstimmen.
Bis zu zehntausend Landwirtschaftsnovizen werden im Rahmen des MyFarm-Experiments bestimmen, welcher Bulle auf dem rund tausend Hektar großen Hof Wimpole Estate in Cambridgeshire gekauft, welches Getreide angebaut oder ob ein Feld aufgeteilt wird oder nicht.
„Ich werde anpflanzen, was immer die Online-Bauern wollen“, sagt Wimpole-Leiter Richard Morris. Auf dem Pond Field, an dessen Rand er steht, wächst derzeit grünes Gras und Kleeblätter. „Landwirtschaft ist immer ein Kompromiss – es gibt nie die richtige oder die falsche Antwort. Wenn ich etwas beschließe, lehnt mein Nachbar sich über den Zaun und schüttelt den Kopf. Die Online-Bauern werden zwar nicht den Anbau von Cannabis oder Bananen bestimmen können, trotzdem wird es bestimmt manche verwunderliche Wahl geben, die ich nicht getroffen hätte.“
Das MyFarm-Projekt ist von dem Onlinespiel Farmville inspiriert. Dieses wird monatlich von 47 Millionen Internetusern gespielt und zählt zu den beliebtesten Spielen bei Facebook. Nun finde es eben auf einem richtigen Bauernhof statt, erzählt der Projektleiter John Alexander. Die dort anstehenden Entscheidungen werden online zunächst diskutiert, bevor es dann zu einer Abstimmung kommt, bei der eine einfache Mehrheit reicht.
Neuer Bulle, neuer Teich?
Hofleiter Morris beschreibt immer wieder online, was auf dem Hof gerade ansteht. Als erstes fragt er, was auf dem 21 Hektar großen Pond Field angebaut werden soll. Um sich ein Urteil zu bilden, können die Teilnehmer sich über Blogs und Videos informieren. Alle wichtigen Fragen werden den MyFarm-Spielern vorgelegt – etwa, welcher neue Bulle zu einer Herde Rinder einer seltenen Rasse zugekauft werden soll. Oder ob ein alter Teich wiederangelegt wird, um die Ansiedlung wilder Flora und Fauna zu unterstützen.
Jeden Monat soll es eine große Abstimmung geben. Wird etwa der Anbau von Weizen auf dem Pond Fields beschlossen, soll es dann welcher zum Brot- oder welcher zum Keksebacken sein? Und es gibt Fragen zu entscheiden, mit denen sich jeder Landwirt herumquält. „Wenn wir reifen und erntebereiten Weizen auf dem Feld haben, der aber feucht ist, weil es morgens geregnet hat, riskieren wir es dann zu warten und etwas davon zu verlieren, oder ernten wir direkt und nehmen Extrakosten für das Trocknen in Kauf?“, fragt Morris.
Gerade springen dreihundert frisch gelieferte Lämmer über die Wiesen von Wimpole. Morris fährt Gras ein, um ihr Futter für die Wintermonate herzustellen. Doch wegen der trockenen Witterung gibt es wenig Gras, also bleiben die Rinder eine Weile in ihren Ställen, damit die Schafe später genug haben. Künftig, so Morris, werde es eine Smartphone-App geben, mit der er beinahe auf der Stelle Anweisungen der Online-Farmer einholen kann. Die Bauern aus dem Netz werden lernen müssen, verschiedene Faktoren – finanzielle, ethische und ökologische - gegeneinander abzuwägen: vom rotborstigen Schwein, das in der Frühlingssonne grunzt, zu den freilaufenden Hühnern, dem Hafer, dem Roggen und dem Weizen auf den Feldern.
Arthur Potts Dawson ist Mitbegründer des gemeinschaftlich betriebenen People’s Supermarket, der inzwischen 1.500 Mitglieder hat. Er sagt: „MyFarm ist gewagt, fast schon wahnsinnig, so wie der People’s Supermarket, als wir anfingen. Beide Projekte tragen dazu bei, dass man nicht mehr blind durch den Supermarkt geht, ohne zu wissen, wo das Essen herkommt.“
So sieht es auch Fiona Reynolds, Generaldirektorin des National Trust, einer britischen Organisation für Denkmalpflege und Naturschutz, die die Wimpole Farm betreibt: „Es geht darum, den Leuten wieder bewusst zu machen, wo ihr Essen herkommt. Eine Umfrage hat gezeigt, dass nur acht Prozent der Mütter sich sicher dabei fühlen, mit ihren Kindern über die Herkunft ihres Essens zu reden. Das ist wirklich bitter.“
Die einmalige Aufnahmegebühr von dreißig Pfund für die Online-Bauern, die die Farm dann auch persönlich besuchen können, findet Reynolds angemessen: „Wir haben hohe Kosten. Sollten irgendwann mal mehr als zehntausend Leute mitmachen, könnten wir die Gebühr senken.“
Der Games-Experte Nicholas Lovell ist skeptisch. Farmville sei erfolgreich, „weil es an grundlegende Aspekte der menschlichen Psyche anknüpft: So muss man Dinge, die man angefangen hat, zu Ende bringen oder etwas zurückgeben, wenn man etwas bekommen hat.“ Hätte man für Farmville dreißig Pfund Gebühr zahlen müssen, „wäre es aber elendig gescheitert“. Der National Trust glaube, dass es bei dem Erfolg von Farmville um die Landwirtschaft gehe. „Ich glaube, dass er sich daraus erklärt, dass gut designtes Gaming einem neuen Publikum zugänglich gemacht wurde.“
Gräfliche Innovationen
Bei der Gebühr falle „der Vergleich mit Farmville auf seinen kuhgleichen Hintern“, räumt Projektleiter John Alexander ein. Für Bauer Morris führt das Experiment hingegen eine Tradition der Innovationen auf Wimpole Estate fort, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zurückreicht. Damals führte der Graf von Hardwick neue Maschinen, neues Saatgut und neue Bruttechniken ein. „Wenn wir bis 2050 einen nachhaltigen Weg finden wollen, neun Milliarden Menschen zu ernähren, muss sich die Landwirtschaft verändern. Aber auch die öffentliche Meinung über sie muss sich wandeln.“ Doch egal wie erfolgreich MyFarm sein wird – Morris wird sich nicht jederzeit auf seine zehntausend Vorgesetzten verlassen können. Manche Entscheidungen wird er selbst treffen müssen. Der Mobilfunkempfang auf Wimpole ist einfach zu schlecht.
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