Wer denkt, die NSA sei das Schlimmste, was es in Bezug auf die Verletzung der Privatsphäre gibt, der sollte einmal einen Nachmittag mit Aiden und Foster verbringen: Aiden lädt seinen Freund in der Schule zu sich nach Hause ein. Sie bitten ihre Eltern per SMS um deren Einverständnis und diese stimmen zu. Als sie sich im Bus auf dem Heimweg befinden, meldet ein Sensor an Fosters Armband seinen Eltern und der Schule, dass er nicht den üblichen Heimweg nimmt. Da die Schule informiert wurde, dass er mit Aiden mitgeht, unterbleibt ein Anruf bei der Polizei.
Als die beiden Aidens Wohnung betreten, erkennt das integrierte Home Network Aiden und schickt seinen Eltern einen Warnhinweis, den sie bei der Arbeit auf ihren Smartphones und Tablets empfangen.
Das System schickt auch Fosters Daten – Beschreibung der äußeren Erscheinung, Adresse, Verwandte, Gesundheitsindikatoren, Social Media Profil – an Aidens Eltern. So erfahren diese, dass er einen Laptop dabei hat. Könnte der Junge Seiten besuchen, die nicht für ihn geeignet sind? Nein, denn Fosters Filter ist, ebenso wie Aidens, so eingestellt, dass er nur Seiten aufrufen kann, die für unter 13-Jährige freigegeben sind.
Foster sieht ein Glas mit Plätzchen und greift hinein. Beep beep! Sein Armband warnt ihn, dass Plätzchen Gluten enthalten, und dagegen ist er allergisch.
Seine Mutter überprüft daraufhin von ihrem Smartphone aus den Inhalt von Kühlschrank und Speisekammer darauf, ob noch genügend glutenfreie Nahrungsmittel vorhanden sind. Da dies nicht der Fall ist, bestellt sie eine glutenfreie Pizza.
Die Jungs schalten den Fernseher ein. Oder besser gesagt schaltet er sich selbst ein, als Aiden sich dem Gerät nähert, und listet seine Lieblingssender auf. Da der Fernseher durch einen im Ball eingebauten Sensor weiß, dass die Jungs einen Basektball haben, schlägt er ein NBA-Spiel vor. Während sie das Spiel verfolgen, fordert die auf sie zugeschnittene Werbung Aiden auf, ein Shirt der Miami Heats auf eine persönliche Wunschliste zu setzen, die mit der Filiale einer Handelskette verbunden ist. Er tut wie ihm geheißen. Seine Mutter erhält einen Ping und gleichzeitig eine Erinnerung, wann er Geburtstag hat.
Das Netzwerk stellt fest, dass draußen nur noch 90 Minuten Sonnenlicht verbleiben und Aiden sich heute noch keine zwei Stunden bewegt hat. Es schaltet den Fernseher ab und gibt den Jungs drei Dinge zur Auswahl. Sie entscheiden sich dafür, im Hof Körbe zu werfen. Aidens Mutter erhält eine Warnung, dass sie das Haus verlassen haben, ohne das Licht auszumachen. Während er spielt, kann sie Puls und Blutdruck ihres Sohnes überprüfen.
Willkommen in der Zukunft der Kindererziehung, wie sie sich das Unternehmen Cisco Systems vorstellt. Bei der Consumer Electronics Show in Las Vegas präsentierte der Marketing Executive des Unternehmens, Robert Barlow, einem Fachpublikum dieses Szenario mit einer Annimation, Graphiken und Statistiken.
„Die Technik für all das exisitiert bereits“, erklärte er strahlend und hielt einen Basekball mit eingebautem Sensor in die Höhe. Cisco kann Daten von verschiedenen Quellen aggregieren, um so einen “orchestration layer” zu schaffen, so Barlow. Das Internet of Everything werde auf diese Weise im kommenden Jahrzehnt Millarden von Dollar generieren.
Das internationale Publikum aus Führungskräften und Technikern hat die Message verstanden: Big Data, dicke Kohle.
Und was ist mit Aiden und Foster? Man könnte sagen, sie haben Glück, werden sie doch vor allem geschützt: vor Übergriffen, Pornografie, gefährlichen Lebensmitteln und Fettleibigkeit. Die Vorteile liegen auf der Hand.
Aber Gott stehe ihnen bei: Was für eine Kindheit ist es denn, wenn jeder Schritt aufgezeichnet, überwacht und ausgewertet wird? In der man nicht herumziehen, etwas neues ausprobieren und spontan – man selbst – sein kann, ohne dass eine tragbare Technik einen Piepalarm auslöst? Das ist Helicopter-Parenting gone mad: die permanentente Überwachung.
Eine gefährliche Umgebung würde so etwas ja vielleicht noch rechtfertigen. Als ich 2005 als Korrespondent in Bagdad war, dachte ich darüber nach, mich mit den damals noch vergleichsweise unausgereiften technischen Geräten auszustatten. (Und als ich entführt wurde, wünschte ich, ich hätte es wirklich getan.)
Doch Cisco und hunderte andere Firmen auf der CES richten ihre Produkte – Minikameras, tragbare Sensoren, Verbindungsdienste – hauptsächlich auf die USA und andere reiche Länder, wo es glücklicherweise nur selten zu Entführungen und Gewaltverbrechen kommt.
Eltern müssen sich um ihre Kinder sorgen und die Grenze zwischen verantwortlicher Aufsicht und übertriebener Überwachung ist nicht immer klar erkennbar, insbesondere wenn die Kinder zu jungen Erwachsenen werden. Wie soll man sich denn hinter der Fahrradhütte näherkommen, wenn die Stasi zuhause alles mitbekommt?
Doch Kinder (und Tiere) sind nur der Anfang, ein Türöffner, um die Technologie einzuführen. Erwachsene sind ebenfalls betroffen. Ältere Menschen werden bereits mit Sensoren ausgestattet, sodass ihre Kinder aus der Entfernung ihren Gesundheitszustand überprüfen können.
„Ältere Menschen lehnen das oft ab“, sagt Stuart Sikes von Park Associates, einer Beratungsfirma, die sich auf kommende Trends spezialisert hat. „Jüngere hingegen lieben die Technologie.
Seit 2009 kann man mit AT&Ts FamilyMap-Service Familienmitglieder per Telefon aufspüren.
Neue Technologien machen es immer billiger, einfacher, umfassender – und erhöhen die gesellschaftliche Akzeptanz. „Wenn man Dinge verbindet, die zuvor nicht miteinander verbunden waren, passiert Erstaunliches.“, tat ein weiterer Evangelist auf der Messe kund. „Alles, was wir tun, generiert Daten. Je mehr Verbindungen wir herstellen, desto mehr Beziehungen schaffen wir auch.“
Das ist Unsinn. Ein Ping aufs Handy, welches einen darüber informiert, dass der Nachwuchs kann eine nützliche Information sein oder auch nicht. Es vertieft aber nicht das Verhältnis zwischen Eltern und Kind.
Edward Snowden hat eine staatliche Überwachung solchen Ausmaßes enthüllt, wie sie von George Orwell und Ray Bradbury vor einem halben Jahrhundert vorweggenommen wurde. Doch die größte Gefahr für unsere Privatshähre ist nicht der Staat, sondern wir selbst. Google, Facebook und Twitter haben Imperien auf dem Umstand aufgebaut, dass wir die Bequemlichkeit der Privatsphäre vorziehen. In einer Kultur, die von Reality TV und Narzismus geprägt ist, haben wir uns schlafwandlerisch unsere eigene Truman Show geschaffen. Ciscos Vision ist nur ein weiterer Schritt auf diesem Weg.
Dave Eggers' jüngster Roman The Circle imaginiert eine dystopische Zukunft, in der ein übermächtiges Unternehmen überall, auch an Menschen, kleine Kameras installiert, so dass jedes Gespräch und jedes Ereignis sofort online zur Verfügung steht. Die naive Heldin Mae Holland hat das Mantra des Unternehmens verinnerlicht: Wer Geheimnisse hat, lügt; wer teilt, der kümmert sich; Privatsphäre ist Diebstahl.
Soweit sind wir noch nicht – und kommen auch hoffentlich nie dahin. Vieles von der Technologie, die in Las Vegas gezeigt wurde, bietet echte Vorteile: ein gesünderes und sichereres Leben und ist zu begrüßen.
Doch die dringend notwendige Diskussion darüber, wo die Grenzen der Überwachung beginnen, findet nicht statt. Weder die Industrie noch die Konsumenten schenken der Erosion der Privatsphäre und der schwindenden Möglichkeit, nicht mitzumachen, genügend Aufmerksamkeit.
Dank Snowden lernt die NSA gerade, dass nicht alles, was machbar ist, allein deshalb auch wünschenswert ist. Auch wir müssen das lernen.
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