Nach derzeitigem Auszählungsstand haben fast 80 Millionen Amerikaner*innen für Joe Biden gestimmt. Durch dieses Votum wider die autoritäre Heuchelei Donald Trumps kann die Welt erleichtert aufatmen.
Doch die Wahlergebnisse offenbarten auch etwas, das Besorgnis auslösen sollte. Trump erhielt elf Millionen Stimmen mehr als 2016. Er gewann in vielen Communities dazu, die mit großen Problemen kämpfen – in denen es viel Arbeitslosigkeit und Armut, aber kaum Gesundheitsversorgung und Kinderbetreuung gibt. Kurz: Dort, wo die Menschen am meisten leiden.
Für einen Präsidenten, der ununterbrochen lügt, ist Donald Trumps vielleicht irrste Lüge, sich und seine Regierung als Freunde der Arbeiterklasse in den USA zu verkaufen.
Die Wahrheit ist, dass Trump mehr Milliardäre in seine Regierung holte als jeder andere US-Präsident in der Geschichte. Er ernannte stark arbeitnehmerfeindliche Mitglieder in die Bundesbehörde für Arbeitsbeziehungen, dem National Relations Labor Board (NLRB). Er räumte den Superreichen und den großen Unternehmen Steuererleichterungen ein, während er vorschlug, Bildungs- Wohnungs- und Ernährungsprogramme massiv zu kürzen. Zudem versuchte Trump, bis zu 32 Millionen Menschen ihre Gesundheitsversorgung zu nehmen, und erstellte Haushaltspläne, die die Kürzung der Gelder für die Krankenversicherungsprogramme Medicare und Medicaid sowie Sozialhilfen um mehreren zehn Milliarden Dollar vorsahen.
Dennoch glaubt ein bestimmter Teil der Arbeiterklasse in unserem Land weiter, dass Donald Trump auf ihrer Seite ist. Woher kommt das?
Zu einer Zeit, da Millionen von Amerikaner*innen in Angst und Unsicherheit leben, ihre Jobs wegen unfairer Handelsabkommen verloren haben oder real nicht mehr verdienen als vor 47 Jahren, hielten ihn seine Anhänger für einen harten Kerl, einen „Kämpfer“. Und tatsächlich scheint er, jeden Tag praktisch gegen jeden zu kämpfen.
Trump interessiert nur Trump
Trump präsentierte sich als erklärter Gegner „des Sumpfes“ und griff nicht nur Demokraten an, sondern auch Republikaner, die nicht 100 Prozent im Gleichschritt mit ihm waren. Sogar Mitglieder seiner eigenen Verwaltung bezeichnete er als Teil des angeblich existierenden „deep state“, einem imaginierten Geheimapparat aus Bürokraten, Geheimdiensten und Militär, die demokratisch gewählten Repräsentanten ihren Wille aufzwingen will.
Trump attackiert die Staatschefs von Ländern, die seit langem unsere Verbündeten sind, ebenso wie Gouverneure und Bürgermeister – und unsere unabhängigen Gerichtsbarkeit. Er kritisiert die Medien scharf als „Feind des Volkes“ und zeigte sich erbarmungslos in seinen ununterbrochenen Angriffen auf Einwanderer, ihre Meinung offen äußernde Frauen, afroamerikanische Communities so wie auf Homosexuelle, Muslime und Demonstranten.
Dabei setzt er Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Paranoia ein, um einen großen Teil der US-amerikanischen Bevölkerung davon zu überzeugen, dass ihn ihre Bedürfnisse kümmern, während nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte. Vom ersten Tag an galt sein einziges Interesse Donald Trump.
Eins ist jedenfalls klar: Wenn die Demokratische Partei in Zukunft vermeiden will, Millionen Stimmen zu verlieren, muss sie Rückgrat zeigen und sich für die arbeitenden Familien in unserem Land einsetzen, die heute mit größeren wirtschaftlichen Härten konfrontiert werden als zu keiner Zeit seit der Großen Depression in den 1930er Jahren.
Die Demokraten müssen in Wort und Tat zeigen, wie betrügerisch die Republikanische Partei ist, wenn sie behauptet, die Partei der arbeitenden Familien zu sein.
Corporate America die Stirn bieten
Um das zu tun müssen die Demokraten den Mut haben, gegen die mächtigen Interessen derer anzugehen, die seit Jahrzehnten Krieg gegen die Arbeiterklasse in diesem Land führen. Ich spreche von der Wall Street, der pharmazeutischen Industrie, der Gesundheitsversicherungsbranche, der Fossilen-Treibstoff-Industrie, dem militärisch-industriellen Komplex, den Privatgefängnissen und vielen gewinnbringenden Unternehmen, die weiterhin ihre Arbeitnehmer*innen ausbeuten wollen.
Wenn die Demokratische Partei nicht glaubhaft versichern kann, dass sie diesen mächtigen Institutionen die Stirn bieten und aggressiv für die arbeitenden Familien dieses Landes – Schwarze, Weiße, Latinos, Asiaten und Indigene – kämpfen wird, werden wir den Weg für die Wahl eines weiteren rechten autoritären Politikers im Jahr 2024 ebnen. Und dieser Präsident könnte noch schlimmer als Trump werden.
Joe Biden kandidierte mit einem starken Pro-Arbeiterklasse-Wahlprogramm für das Präsidentenamt. Jetzt müssen wir dafür kämpfen, diese Agenda in die Tat umzusetzen, und energisch denen entgegentreten, die sich ihr in den Weg stellen.
Which Side Are You On? (deutsch: Auf welcher Seite stehst du?) heißt ein Lied, das Florence Reece, die Frau eines der Gewerkschaftsführer der amerikanischen Minenarbeitergewerkschaft anlässlich eines Streiks 1931 in Kentucky schrieb. Die Demokraten müssen eindeutig klar machen, auf wessen Seite sie stehen.
Klarheit schaffen
Die eine Seite ist dafür, mit Hungerlöhnen Schluss zu machen und den Mindestlohn auf 15 Dollar (12,60 Euro) die Stunde zu erhöhen. Die andere Seite nicht.
Die eine Seite ist dafür, dass sich noch mehr Arbeitnehmer in Gewerkschaften organisieren. Die andere Seite nicht.
Die eine Seite ist dafür, Millionen gut bezahlte Arbeitsplätze zu schaffen, indem wir den Klimawandel bekämpfen und unsere bröckelnde Infrastruktur wieder aufbauen. Die andere Seite nicht.
Die eine Seite ist für den Ausbau der Gesundheitsversorgung. Die andere Seite nicht.
Die eine Seite ist dafür, die Kosten für verschreibungspflichtige Medikamente zu senken. Die andere Seite nicht.
Die eine Seite ist für bezahlten Elternurlaub und bezahlte Krankschreibungen. Die andere nicht.
Die eine Seite will Kita-Plätze für alle Drei-und Vierjährigen in den USA. Die andere Seite nicht.
Die eine Seite will das soziale Sicherheitsnetz ausbauen. Die andere nicht.
Die eine Seite ist dafür, Studieren an staatlichen Universitäten für Studierende aus Arbeiterfamilien kostenlos zu machen und Studienkredite aus der Welt zu schaffen. Die andere Seite nicht.
Die eine Seite ist dafür, mit unserem kaputten und rassistischen Strafjustizsystem aufzuräumen. Die andere Seite nicht.
Die eine Seite ist dafür, mit Arbeitsplätzen und Bildung in unsere jungen Leute zu investieren. Die andere Seite nicht.
Die eine Seite ist dafür, unser Einwanderungssystem fair und human zu gestalten. Die andere Seite nicht.
Die Aufgabe der Demokraten in den ersten hundert Tagen der Regierung Biden ist es, absolut klar zu machen, auf wessen Seite sie steht – und wer auf der anderen Seite. Das wäre nicht nur im besten Interesse des Staates, wenn es darum geht, unser Land zu stärken. So würden sich auch in der Zukunft Wahlen gewinnen lassen.
Bernie Sanders ist US-Senator für den Bundesstaat Vermont
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