Aus dem Irak-Krieg nichts gelernt

Angriff auf Libyen Die Entscheidungen zu schweren Luftschlägen fielen ohne seriöse Informationen, um die Situation einer hoch komplexen Gesellschaft verlässlich beurteilen zu können

Dem Westen sind in Bezug auf Libyen nicht die Geduldsfäden gerissen, sondern die Optionen ausgegangen. Zuletzt hatten Frankreich und Großbritannien schlichtweg nichts mehr zu verlieren. Da sie ihre politischen und wirtschaftlichen Kontakte mit Gaddafi bereits gelöst hatten, stand fest: Ein Sieg des Revolutionsführers würde zu einer strategischen Schwächung der ehemaligen Kolonialmächte in der Region führen. Die einzige Möglichkeit, in Libyen auch künftig einen gewissen Einfluss auszuüben, bestand fortan im Schutz des Hauptquartiers der Oppositionsbewegung in Benghazi. Darüber hinaus schien es geboten, den Aufständischen dabei zu helfen, die Macht über einen Teil oder gar das gesamte libysche Territorium zu erlangen.

Um so mehr sollte man die Vorgänge, die zur Entscheidung führten, umgehend Luftschläge gegen Gaddafis Infrastruktur zu führen, genauer betrachten. Die Erklärung des libyschen Außenministers Moussa Koussa unmittelbar nach dem Votum des UN-Sicherheitsrates, man nehme die Resolution an und werde eine Waffenruhe einhalten, konnte man gewiss nicht für bare Münze nehmen – auch blieb für die Entsendung von UN-Beobachtern kaum genügend Zeit, um notfalls eine Feuerpause zu kontrollieren. Dennoch wäre es aufschlussreich zu wissen, welche unabhängigen und verifizierbaren Berichte den westlichen Nachrichtendiensten vorlagen, bevor die Franzosen noch am 19. März mit ihren Operationen begannen. Zwar gab es viele Nachrichten von Libyern im In- und Ausland, die signalisierten, Angriffe der Gaddafi-Truppen dauerten an, aber diese Informationen sollte man mindestens mit der gleichen Vorsicht genießen wie die Verlautbarungen der Regierung in Tripolis.

Land der Gerüchte

Den gesamten Konflikt begleiten gewaltige Informationslücken. Es erinnert in trauriger Weise an den Irak, dass der Entschluss, mit Kampfhandlungen zu beginnen, die sich zu einem langen und blutigen Konflikt auswachsen könnten, abermals auf der Grundlage mangelnder Information getroffen wurde.

Schon vor dem Aufstand war es von außen nur schwer möglich, etwas darüber auszusagen, was in Libyen wirklich vor sich ging – es sei denn, man konnte das Land selbst in Augenschein nehmen. Bereits zu diesem Zeitpunkt war Gaddafis Staat voll von Gerüchten und unzuverlässigen staatlichen Informationen. Die einzige Möglichkeit, eine Quelle auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, bestand darin, sie persönlich zu überprüfen. Verschiedene Beamte in ein- und demselben Ministerium verbreiteten einander widersprechende Informationen. Es herrschte der Eindruck unglaublicher Kommunikations- und Koordinationsmängel innerhalb diverser staatlicher Institutionen. Die Vorstellung, jedes noch so winzige Detail sei in Libyen von einer zentralen, alles erfassenden Autorität überwacht worden, ist absurd.

Die Informationslücke klafft jetzt nach Beginn der Intervention mehr denn je, was denjenigen, die richtungsweisende Entscheidungen treffen, nicht klar zu sein scheint. Zu Beginn der Krise war etwa der britische Außenminister Hague bereit zu glauben, Gaddafi sei nach Venezuela geflohen. Viele Tweets und Zitate aus Libyen selbst waren ähnlich unzuverlässig, manchmal in gefährlicher Weise. Während die Luftangriffe kurzfristig Gräueltaten der Gaddafi-Truppen verhindern mögen, riskiert eine fortgesetzte Militärintervention langfristig eine signifikante Verschärfung des Konflikts und eine beträchtliche Zahl ziviler Opfer, sowohl direkt wie indirekt.

So ist es zum Beispiel höchst beunruhigend, dass westliche Mächte und Medien davon auszugehen scheinen, die Oppositionsführer in Benghazi repräsentierten den Willen des gesamten Landes. Es mag sein, dass eine Mehrheit der Libyer Gaddafi nicht mehr an der Macht sehen will und ihn außer seinen engsten Unterstützern niemand vermissen würde. Das heißt aber nicht automatisch, dass die Libyer die neuen Führer hofieren, sollte der Oberst erst einmal abtreten. Dies wird um so weniger der Fall sein, je mehr diese Anführer ihre politische Existenz einer Intervention zu verdanken haben.

Libyen ist ein so riesiges wie komplexes Land voller regionaler Einzelinteressen und Clan-Loyalitäten. Ein Umstand, den die Opposition in Benghazi einfach ausgeblendet hat, als sie verzweifelt nach ausländischem Beistand rief, um sich selbst zu schützen. Es ist gut möglich, dass die Rebellen einen gut durchkalkulierten Plan haben, wie sie Libyen regieren wollen, aber wir wissen davon nichts. Und diese nicht vereinten, unkoordiniert vorgehenden Kräfte mit Waffen auszurüsten – was auf die ein oder andere Art bereits geschieht –, erscheint augenblicklich wie die Rezeptur für einen längeren Krieg. Es ist in höchstem Maße unsicher, wie die vielen verschiedenen libyschen Gemeinden auf einen Sturz Gaddafis reagieren.

Blutige Vergeltung

Viele kleine Städte, in denen die Soldaten die Macht einfach von den örtlichen Behörden übernommen haben und sich nun selbst gegen die Bedrohung durch Außenstehende verteidigen, haben den Rückzug auf ein höchst lokales Machtsystem hinter sich. Spannungen zwischen Nachbargemeinden, besonders in der Region am Rand der Wüste Fezzan, wurden während der vergangenen vier Jahrzehnte durch die straffe Kontrolle der Zentralregierung eingedämmt. Jetzt aber könnten sie in einer nervösen Atomsphäre wieder aufleben. Falls das geschieht – wer wird lokale Aufstände niederschlagen und Konfliktparteien zum Dialog zwingen? Wer für den Schutz der Zivilbevölkerung sorgen? Besteht nicht die Gefahr möglicherweise blutiger Vergeltungsakte gegen verbleibende Gaddafi-Anhänger durch triumphierende Oppositionskräfte, die keiner Kontrolle unterliegen und begierig darauf sind, ihre gewonnene Macht zu zeigen?

Anders als in Ägypten unterhalten die USA keine engen Kontakte zur libyschen Armee oder dem, was davon übrig ist. Es gibt folglich keine stabilisierende Kraft mehr, die ein Minimum an innerer Sicherheit gewährleistet. Die Oppositionskräfte in Benghazi haben keine Erfahrung in der Führung eines Landes – geschweige denn mit der Einigung einer gespaltenen Nation. Außer, dass sie Gaddafi stürzen und Tripolis einnehmen wollen, ist zu den darüber hinausgehenden Motiven ihres Handelns herzlich wenig bekannt. Das Gleiche gilt für die Position des Nationalen Übergangsrates. Mehrere seiner Mitglieder besaßen unter Gaddafi führende Funktionen. Einige bewegten sich sogar in seinem Dunstkreis. Wird eine Mehrheit der Libyer ihnen wirklich das nötige Vertrauen schenken, sollte Gaddafi fallen? Und wird auch der Westen, der diese heterogene Opposition momentan so eifrig hofiert, ihr dann noch vertrauen?

Alex Warren ist Direktor von Frontier, einem Forschungsunternehmen für den Nahen Osten Übersetzung: Holger Hutt

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Übersetzung Holger Hutt
Geschrieben von

Alex Warren | The Guardian

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