Paul Zak ist unter Kollegen dafür bekannt, dass er auch Leute, die er nicht kennt, in den Arm nimmt. Als er mich durch die Bibliothek seines Clubs in Midtown New York näherkommen sieht, springt er auf, ignoriert meine ausgestreckte Hand und drückt mich. Es eilt ihm übrigens auch der Ruf voraus, dass er jedem, der ihm zu nahe kommt, eine Nadel in den Arm sticht und Blut abnimmt – was mir erspart bleibt. Im Rahmen seiner „Vampir-Studien“ hat Zak schon einem Brautpaar während der Hochzeit Blut abgenommen, Leuten, die gerade eine Massage bekommen oder getanzt haben, Quäkern vor und nach ihrem stillen Gebet und Stammeskriegern in Papua-Neuguinea, die sich gerade auf ihre Rituale vorbereiteten.
Zaks Verlangen nach menschlichem Blut rührt von seinem Interesse für das Hormon Oxytocin, für das er einer der weltweit bekanntesten Experten ist. Schon lange ist Oxytocin als Schwangerschaftshormon bekannt – es spielt eine zentrale Rolle für Geburt und Stillen. Nun will Zak mit seiner Forschung beweisen, dass es weit mehr ist als ein bloßes Fortpflanzungsphänomen: Er nennt das Hormon das „Moral-Molekül“. Es soll für menschliche Tugenden, für Vertrauen, Zuneigung und Liebe verantwortlich sein, ein „sozialer Kitt“, wie er sagt, „der die Gesellschaft zusammenhält“. Der Untertitel seines Buches Die neue Wissenschaft von dem, was uns gut oder böse macht, vermittelt einen Eindruck von seinem Anspruch, der nicht geringer ist, als mithilfe eines einzigen Stoffes im Blutkreislauf eine ganze Reihe philosophischer und religiöser Fragen zu beantworten.
Es hat sich in der Tat gezeigt, dass der Oxytocin-Spiegel steigt, wenn jemand anständig behandelt wird. Das bringt ihn im Gegenzug dazu, sich selbst entgegenkommender zu verhalten. Menschen, denen Oxytocin von außen verabreicht wird, verhalten sich großzügiger und vertrauensvoller. Oxytocin ist aber nicht allein beim Menschen für seine Wirkung als „Kuschel-Hormon“ bekannt: Auch die normalerweise durch und durch promisken männlichen Wiesenwühlmäuse werden zu leidenschaftlichen, anhänglichen Monogamisten, wenn man ihre Oxytocin-Spiegel erhöht.
Moral als Teil der Evolution
Auf der oben erwähnten Hochzeit baute Zak eine kleine Forschungsstation auf und nahm vor und nach dem Ehegelübde Blut ab, nicht nur von der Braut und dem Bräutigam, sondern auch von Verwandten und Freunden. Seine Ernte – insgesamt 156 Blutproben – packte er auf Eis und flog sie in sein Labor an der Claremont University in Südkalifornien. Dort fand er, was er erwartet hatte: Die Zeremonie ließ den Oxytocin-Spiegel von allen Beteiligten ansteigen. Am stärksten bei der Braut, gefolgt von engen Angehörigen, weniger engen Freunden – genau der emotionalen Anteilnahme entsprechend, die man vermutet hätte. (Nur der Bräutigam fiel aus dem Rahmen: Sein Testosteronwert stieg, und Testosteron beeinträchtigt den Oxytocin-Spiegel im Blut.) Grafisch ergaben die Messwerte ein „Sonnensystem“ , in dem die Braut die Sonne ist und je nach emotionaler Anteilnahme in verschiedener Intensität auf die Oxytocin-Spiegel der Gäste abstrahlt. „Es war unglaublich zu sehen“, sagt Zak, „wie perfekt sich das der Umwelt anpasst.“
Ausgangspunkt für diese etwas sonderbaren Experimente war eine Frage in seinem früheren Arbeitsbereich, der Ökonomie, die Rätsel aufgab: In Experimenten verhalten sich Menschen immer wieder großzügiger, als sie es traditionellen Wirtschaftsmodellen zufolge tun sollten. Klassisches Beispiel ist das Vertrauensspiel, in dem Teilnehmerpaare über Computer miteinander kommunizieren. Sie treffen sich nicht und haben keine Ahnung, wer der andere ist. Person A kriegt 10 Euro und kann Person B auf elektronischem Wege etwas davon abgeben. Das Motiv für A besteht darin, dass nach den Regeln, die beide Spieler kennen, jeder Betrag, den A an B schickt, sich verdreifacht, wobei B die Möglichkeit hat, zum Dank etwas zurückzuschicken. Nach dem konventionellen Verständnis von Rationalität müsste das Spiel enden, bevor es anfängt: Person B hat keinen Grund, etwas zurückzugeben. Weil Person A das weiß, gibt sie erst gar nichts ab.
So weit die Theorie. In der Praxis zeigte sich, dass fast alle A-Probanden etwas von den zehn Euro abgeben und fast alle B-Probanden etwas zurückgeben – und zwar entsprechend ihrem Oxytocin-Spiegel. Worauf es ankommt, ist Vertrauen. Wenn A B vertraut, setzt das bei B Oxytocin frei, das zu noch vertrauenswürdigerem Verhalten führt, und so weiter. Es ist ein Teufelskreis. Nur fünf Prozent der Probanden erweisen sich als immun.
Persönliche Bereicherung
Zak zufolge haben diese Ergebnisse erstaunliche Konsequenzen dafür, wie wir über Moral und Ethik denken. Ökonomen neigen dazu, sich etwas auf ihren nüchternen Realitätssinn einzubilden: Die Moral mag ja nette Ideen darüber liefern, wie die Leute sich am besten verhalten sollten, aber die Wirtschaftswissenschaft analysiert, was sie wirklich tun, motiviert nicht von erbaulichen ethischen Werten, sondern von dem Wunsch nach persönlicher Bereicherung.
Interessanterweise spiegeln auch Religionen die Ansicht, moralisches Verhalten stelle sich nicht auf natürlichem Wege ein, sondern müsse durch Angst oder das Versprechen auf Belohnung anerzogen werden. Zak selbst wuchs in einem streng katholischen Haushalt auf. Seine Mutter habe ihn von der katholischen Schule genommen, weil sie ihr nicht streng genug gewesen sei. Ihre Erziehung habe auf der Annahme beruht, „selbstloses, moralisches Verhalten sei ohne die permanente Androhung von Strafe nicht möglich – je Furcht einflößender, desto besser“. Die Tatsache aber, dass die Evolution uns Oxytocin beschert hat – einen Mechanismus, der es uns erlaubt, instinktiv vertrauensvoll und freundlich zu sein –, legt nahe, dass das, was die meisten von uns als „Moral“ betrachten, in Wirklichkeit Teil unserer evolutionären Entwicklung ist.
„Menschen sind fast die einzigen Tiere, die regelmäßig das Bedürfnis haben, unter fremden Mitgliedern ihrer Spezies zu sein“, erklärt Zak. „Uns macht das Spaß. Aber um dazu in der Lage zu sein, brauchen wir etwas in unseren Köpfen, das uns sagt, dass wir uns sicher fühlen können. Und das ist Oxytocin – dieses sehr alte evolutionäre Molekül, das uns hilft, mit genau dem richtigen Maß an erwidertem Vertrauen auf Vertrauen zu reagieren, das uns entgegengebracht wird.“ In seinen früheren Arbeiten hat Zak nachgewiesen, dass dieses Vertrauen eine entscheidende Voraussetzung für wirtschaftliche Prosperität darstellt, gleichzeitig aber auch aus besagter resultiert. (Erst wenn man nicht mehr für seine Grundbedürfnisse kämpfen muss, kann man sich Vertrauen leisten.) Jetzt hat er den biologischen Mechanismus lokalisiert. Die goldene Regel – den anderen so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte – sei, so schreibt Zak, „eine Lektion, die der Körper bereits kennt“.
Möglichkeit der Manipulation
Hieraus folgt – nun, alles. „Für mich stellt es die Grundlage der Zivilisation dar. Ein Haufen Fremder, die an einem Ort zusammenleben. Und erst wenn man das hat, werden Dinge wie Arbeitsteilung und die Produktion von Mehrwert möglich. Erst dann kann es Universitätsprofessoren und Priester geben, denn erst dann können wir uns so etwas leisten. Und die bringen dann wiederum einen Wissensvorsprung.“
Aber nur weil etwas „natürlich“ ist, muss es noch lange nicht in einem ethischen Sinne „richtig“ sein, und es geht selten gut aus, wenn jemand versucht, moralische Verhaltensregeln naturwissenschaftlich herzuleiten. Darüber hinaus ist unklar, was Zak meint, wenn er sagt, Oxytocin bzw. sein Mangel „mache“ uns gut oder böse. Hier stellt sich das gleiche Problem wie in Zeitungsberichten über Wissenschaftler, die angeblich den Teil des Gehirns entdeckt haben, der für unsere Risikobereitschaft, unsere Gier oder unseren Gottesglauben „verantwortlich“ sein soll: Nur weil wir etwas gefunden haben, das ein bestimmtes Phänomen untermauert, muss das nicht bedeuten, dass man eine „wahre Ursache“ gefunden hat. Doch nichts von all dem untergräbt den stärksten Aspekt von Zaks Arbeit – ihren pragmatischen. Wenn Oxytocin der Mechanismus ist, durch den moralische Handlungen sich vollziehen, birgt er die Möglichkeit der Manipulation: Durch die Veränderung des Oxytocin-Spiegels könnten wir Einfluss auf Vertrauen, Großzügigkeit, Glücksempfinden nehmen – bei uns und bei allen anderen.
Zak stritt zwei Jahre lang mit der US Food and Drug Administration und universitären Ethikkommissionen, bevor er die Erlaubnis erhielt, für Versuchszwecke Oxytocin-Inhalatoren zu verwenden. In der Zwischenzeit hatte er das Verbot umgangen, indem er die Experimente an sich selbst durchführte, unter den wachsamen Augen seiner Frau, einer Neurologin. Was aber kann Autoverkäufer davon abhalten, Oxytocin in ihren Verkaufsräumen zu versprühen? Oder Politiker auf ihren Wahlkampfveranstaltungen? (Die Firma Vero Labs vertreibt bereits ein Oxytocin-Spray, das sie „Liquid Trust“ nennt) Zak wischt diese Bedenken beiseite: Es sei sehr schwer, genügend Oxytocin in die Blutbahn zu bekommen, weshalb seine Probanden es sich direkt in die Nase sprühen müssten – es heimlich einzusetzen, könne gar nicht funktionieren. Sicherlich kann man manipulieren, aber solche Manipulationen gebe es bereits. „Warum kommen in Toilettenpapierreklame süße Hundewelpen vor? Der Körper des Konsumenten soll Oxytocin produzieren, damit er sich gut fühlt.“
Oxytocinmäßige Interaktion
Zak zufolge sollten alle mehr dafür tun, die Zirkulation von Oxytocin auf natürliche Weise zu steigern. Er empflieht ein Minimum von acht Umarmungen pro Tag (Tiere zählen mit). Auch Massagen und schnulzige Filme scheinen zu wirken, das sagen zumindest Zaks Blutproben. Sogar die Interakton über Twitter und Facebook führt zu Spitzen in der Oxytocin-Produktion – ein überzeugendes Argument gegen die Behauptung, soziale Medien zerstörten die Zwischenmenschlichkeit. Rein hormonell scheint der Körper sie als durch und durch real zu verarbeiten.
Die politischen Implikationen aber bleiben ein wenig unklar. Zak beschreibt sich selbst als politischen Agnostiker, spricht aber zustimmend über David Camerons Idee einer „Big Society“, da Interaktion oxytocinmäßig in kleinen Gruppen tendenziell besser funktioniert als im Rahmen größerer Strukturen wie der einer Regierung. Auf der anderen Seite wirkt die Propagierung des ungehinderten Eigeninteresses der Fundamentalisten des freien Marktes wie ein Rezept zur Oxytocin-Reduzierung. Zaks Arbeit zeigt aber, dass Wohlstand in einer harmonischen Umgebung entsteht, die von Vertrauen und Zugewandtheit geprägt ist, nicht durch Egoismus.
Oliver Burkeman ist Autor des Guardian . Er lebt in Brooklyn, New York
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