Die Straßen in der Innenstadt von Washington DC sind mit Sperrholzbrettern verkleidet. Geschäfte, Restaurants, Banken, Kosmetiksalons und Fitness-Studios haben ihre Fenster verrammelt. Die US-Hauptstadt sieht aus wie nach einem Wirtschaftseinbruch oder in Erwartung einer Naturkatastrophe. Aber hinter den hölzernen Verschlägen sind Washingtons stylische Geschäfte und teure Restaurants sehr wohl offen. Kleine Schilder auf den Sperrholzbrettern zeigen den Kund*innen den Weg zu Sperrholztüren und an den Tischen von außen abgeschirmter Restaurants bestellen die Gäste Essen oder trinken ihren Kaffee. Trotz des äußeren Anscheins läuft alles ganz normal in Washington DC – oder zumindest im Rahmen dessen, was 2020 so als normal durchgeht.
Die meisten Bretter wurden Ende Oktober angebracht, nicht wegen wirtschaftlicher Probleme, sondern aus Angst vor einer drohenden politischen Krise. Wie in anderen Städten in den USA kamen die Geschäftsbesitzer*innen in Washington zu dem nicht unbegründeten Schluss, dass in Folge der stark gespaltenen Wahlen Anfang November Gewalt und Unruhen ausbrechen könnten. Die unausgesprochene Grundannahme, dass in den USA – der ältesten Demokratie der modernen Welt – Wahlen friedlich verlaufen, hat sich offensichtlich verflüchtigt.
Auch noch zwei Wochen nach dem Wahltag – und trotz Appellen der Stadtregierung und dem Angebot, die Tonnen an Holz kostenlos zu entsorgen – sind die Sperrholzwände in Washington noch zum großen Teil an ihrem Platz. Das zeugt davon, dass die Phase der Übergabe der Macht sich genau wie die Wahl zuvor als unsicher und destabilisierend erweist. Ich war schon in vielen Entwicklungsländern, in denen die Wohlhabenden und Privilegierten am Wahltermin ihre Rollläden runter- und die Städte verließen. Aber nie hätte ich mir vorgestellt, dass so etwas in den USA passieren würde.
Neben Bildern von Leichen, die in behelfsmäßige Corona-Leichenhallen verladen werden, weinenden Kindern in Käfigen und Fackelkundgebungen weißer Rassisten sind die mit Brettern vernagelten Geschäfte von Washington DC im Herbst 2020 ein Anblick, der vor vier Jahren noch unvorstellbar schien, vor einem Jahrzehnt sogar völlig undenkbar.
Nie war die Kluft zwischen zwei aufeinander folgenden Präsidenten tiefer
In den USA sollen Wahlen eigentlich friedlich verlaufen und besiegte Präsidenten sich geschlagen geben. Zudem verlangt die Konvention, dass ehemalige Präsidenten einige Jahre im politischen Schatten bleiben, damit die nachfolgende Regierung frei von präsidialen Kommentaren von hinten oder einer Hetzjagd aus den Kulissen heraus regieren kann. Es wird allgemein befürchtet, dass Donald Trump, wenn er schließlich aus dem Oval Office geholt worden ist, diese Konvention der US-Präsidentschaftspolitik missachten wird, so wie er die meisten anderen missachtet hat. Im Gegensatz dazu ist diese Konvention der Grund dafür, dass Barack Obama in den vergangenen vier Jahren weitgehend – wenn auch nicht vollends – geschwiegen hat.
In der selben Woche, in der Washingtons führende Politiker versuchten, zögerliche Geschäftsinhaber zum Abbau ihrer Befestigungen zu überreden, kehrte der ehemalige Präsident zurück. Auf Bildschirmen in aller Welt warb er für den ersten Band seiner Memoiren „A promised Land“ (deutscher Titel: „Ein verheißenes Land“), von dem allein am Tag der Veröffentlichung 890.000 Exemplare verkauft worden sein sollen.
Auf 768 Seiten voller detaillierter und häufig dichter Argumentationen machen Obamas Präsidenten-Memoiren, was solche Bücher tun sollen – die Denkweise und die Persönlichkeiten hinter großen Entscheidungen aufdecken. Aber Ein verheißenes Land ist zudem auch eine Meditation über Obamas Vertrauen in das, was er „die Möglichkeit der USA“ nennt.
Seine lange Abwesenheit und das Timing seiner Rückkehr kurz vor Ende der Trump-Präsidentschaft machen es unmöglich, Obama und seinen Nachfolger zu vergleichen. Nie war die Kluft zwischen Amerikas 44. Und 45. Präsidenten stärker und deutlicher sichtbar. In Ein verheißenes Land beschreibt Obama Präsident Trump als „jemanden, der auf diametrale Weise gegen alles war, wofür wir standen“. Aber Obamas Rückkehr in die TV-Studios lenkt die Aufmerksamkeit nicht nur auf den politischen Graben zwischen ihnen, sondern auch auf ihren unterschiedlichen Charakter.
Obama löst Nostalgie aus
Den früheren Präsidenten wieder vor sich zu haben, löste bei vielen das Gefühl von einer „Rückkehr zur Normalität“ aus – ein nostalgischer, flüchtiger Eindruck davon, wie US-Präsidenten und US-Politik früher einmal waren. Nach vier Jahren von Alles-in-Großbuchstaben-Präsidenten-Tweets sind Obamas lange, zielgerichtete Sätze und literarische Referenzen etwas, das die US-Amerikaner*innen nicht mehr gewöhnt sind. In dem TV-Interview, das ich kürzlich mit dem früheren Präsidenten für die BBC führte, bezog er sich auf Abraham Lincoln, Martin Luther King und Schriftsteller F. Scott Fitzgerald oder zitierte sie sinngemäß. Der letzte Bezug entging mir, bis die Literaturwissenschaftlerin Sarah Churchwell mich später darauf aufmerksam machte.
Nach einer „Präsidentschaft wie keiner anderen“, nach einer zersetzend erbitterten Wahl und inmitten des Übergangs, der noch immer durch die Amtierenden gestört wird, wirkt Obama fast wie ein Zeitreisender aus einer früheren Ära, ein Mann, dessen antiquierte Gebräuche und altmodisches Gefühl für Anstand uns daran erinnern, wie die Dinge früher gehandhabt wurden und wie weit wir uns davon entfernt haben. Dabei hört man dem Obama von 2020 manchmal den gut unterdrückten Frust an. Er wirkt dann ein bisschen wie ein enttäuschter Elternteil, der den Schaden betrachtet, den eine wilde Teenager-Party angerichtet hat, während er selbst nicht in der Stadt war.
Es sollte vermutlich wenig überraschen, dass ein für seine Redekunst berühmter Mann Worte auf dem Papier ebenso effektiv einsetzen kann wie auf dem Podium. Unerwartet an „Ein verheißenes Land“ ist nicht die literarische Eleganz der Memoiren, sondern die Offenheit des früheren Präsidenten. Obama selbst liefert starke Argumente gegen sein Vertrauen in die USA und seinen Glauben an Fortschritt.
Eine afroamerikanische First Family im Weißen Haus löste einen Hasssturm aus
Er beschreibt, wie der Anblick eines schwarzen Mannes im Präsidentenbüro Oval Office eine „fast instinktive Reaktion“ hervorgerufen habe, einen fanatischen Widerstand gegen seine Präsidentschaft und seine Person. Zudem bestätigt er, dass die Präsenz einer afroamerikanischen First Family im Weißen Haus einen Hasssturm auslöste – vor allem auch gegen Michelle Obama selbst –, der die wahre Intensität des real existierenden US-amerikanischen Rassismus aufdeckte. In den Interviews seit der Veröffentlichung seines Buches räumt Obama die Krise der US-Demokratie ein, gefährlich unterhöhlt durch den anhaltenden Kampf, „zu entscheiden, was wahr und was falsch ist”.
Und dennoch ist Obamas Überzeugung von der „Möglichkeit der USA“ ungetrübt: Er hält die USA weiter für eine Nation, die zu etwas in der Lage ist, was seiner Meinung nach „keine Nation zuvor getan hat“, und die einen Weg finden kann, „tatsächlich der Bedeutung unserer Überzeugungen alle Ehre zu machen“. Die Frage im Jahr 2020 ist, ob sein Vertrauen gerechtfertigt ist – oder er damit gefährlich falsch liegt.
David Olusoga ist ein britischer Historiker, Fernsehjournalist und Filmemacher. Sein neuestes Buch heißt Black and British: A Short, Essential History
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