Am 3. September 1965 flogen die Rolling Stones für eine kurze Tour nach Irland. Begleitet wurden sie und ihr Manager Andrew Loog Oldham von Filmemacher Peter Whitehead. Der hatte kurz zuvor die berüchtigte International Poetry Incarnation in der Royal Albert Hall gefilmt, ein wegweisendes Ereignis der Gegenkultur, das später nach dem Titel von Whiteheads Film als Wholly Communion bekannt werden sollte.
Whitehead filmte allein, im Stil der Cinéma-Vérité-Pioniere Albert und David Maysles mit einer Handkamera, wobei der Filmende und der Zuschauer ins Zentrum der Handlung rückten. Oldham hatte den Regisseur beauftragt, um zu sehen, wie die Stones sich auf Zelluloid machen würden. Mitte der Sechziger drehten alle wichtigen Bands Filme, egal, wie schlecht diese auch sein mochten. Die Stones hatten aber noch keinen gemacht. Whiteheads Aufnahmen stellten einen Probelauf dar – der im Grunde dann aber in den Startblöcken angehalten wurde.
Whitehead schnitt eine fünfzigminütige Version aus dem Material zusammen. Nach ein paar Vorführungen blieb davon allerdings nicht viel mehr übrig, als Ärger um die Rechte und eine Fan-Legende. Obwohl verschiedene Filmprojekte erwägt wurden, bei denen die Stones als Schauspieler mitwirken sollten – etwa Filmadaptionen der Romane A Clockwork Orange oder Only Lovers Left Alive von Dave Wallis, in dem Jugendliche die Welt übernehmen – wurde der popkulturell anspruchsvolle Stones-Film nie realisiert. Die nun endlich erschienene kurze Stones-Doku ist daher umso wertvoller.
Charlie is my Darling ist ein bislang unveröffentlichtes Dokument einer Band und eines Augenblicks der Zeitgeschichte. Das Format ist simpel: Man folge den Rolling Stones nach Dublin und Belfast, filme sie hinter der Bühne, unterwegs im Zug oder Flugzeug und nach den Konzerten im Hotel, führe rasch ein paar Interviews mit ihnen, schneide das Ganze zu ein paar coolen, vom Andrew Oldham Orchestra eingespielten Big-Band-Versionen von Stones-Hits zusammen und fertig ist die A Hard Day's Night-Sparversion.
Doch die Rolling Stones waren nicht die Beatles. In Charlie Is My Darling gibt es keine schlagfertigen Neckereien. Wenn die Stones versuchen, witzig zu sein, endet das katastrophal, in banalen Parodien und langweiligen, trunkenen Grölereien. Mick Jagger ist cool, wirkt gefasst und ein klein wenig affektiert. Keith Richards fummelt an jedem Musikinstrument herum, das er in die Finger kriegen kann. Brian Jones ist überheblich und unruhig und spricht kurios mit einer gruselig-sanften Stimme.
Die Rhythmusgruppe kommt am besten weg. Bill Wyman wirkt bodenständig, offen und selbst-ironisch. Er ist mehrere Jahre älter als seine Bandkollegen und weiß, wer und was er ist. Das einzige Naturtalent ist allerdings der launenhafte und dennoch charmante Charlie Watts. Daher auch der Titel, der auf eine ironische Bemerkung Oldhams zurückgeht. Dem Regisseur hatte nämlich, nachdem er die geschnittene Version gesehen hatte, gedämmert, dass die Stones nicht wirklich für den Film geboren waren.
Dem Wahnsinn ergeben
Dennoch fesselt der Film. Im September 1965 stand (I Can't Get No) Satisfaction kurz davor, in den UK-Charts auf Platz 1 zu steigen, in den USA hatte es bereits vier Hochsommerwochen lang die Hitparaden angeführt.
Mit (I Can't Get No) Satisfaction kam für die Stones der große Durchbruch. Whiteheads Film zeigt sie in jenem Moment, in dem ihr Leben sich für immer verändert: Sie stecken mittendrin, die Veränderungen mal analysierend, sich dann wieder dem Wahnsinn ergebend.
Immer wieder erzählen sie, sie seien eigentlich gar keine richtigen Musiker, dass sie glauben, das Ganze werde nur ein oder zwei Jahre anhalten. Langsam setzt sich allerdings auch die Erkenntnis durch, dass etwas ganz Neues im Gange ist: Ein grundlegender Wertewandel, der etwa im Bild des Priesters zum Ausdruck kommt, der bei dem Dublinkonzert inmitten einer zu Satisfaction durchdrehenden Zuschauermenge zu sehen ist. Oder im Aussehen der Stones, das so anders ist als das der meisten Leute zu dieser Zeit.
Tumult am Flughafen
Sie sind modern und die breite Öffentlichkeit – nicht die Fans – ist steinalt. Die Angehörigen der Kriegsgeneration begaffen den Tumult am Flughafen fasziniert, aber auch leicht angewidert. Die Menschen auf den Straßen Dublins sehen aus, als seien sie aus dem 19. Jahrhundert dorthin versetzt worden. Die Stones befinden sich in ihrer eigenen Blase und auf ihrem Zenit: Sie haben die Smartness von Mods, tragen die Haare aber lang, sind noch bei scharfem Verstand, ihre Augen leuchten und die Drogen haben ihnen noch nicht den Verstand vernebelt. Die Dekadenz hat noch nicht Einkehr gehalten.
Im Zentrum des Films stehen die Konzerte. Sechs ganze Songs sind von den zwei Auftritten zu sehen. Die damals jüngsten Single-Auskoppelungen The Last Time und Satisfaction zeigen die Stones als Meister der Verneinung: „oh no, oh no“ singt Jagger am Ende von Satisfaction immer wieder. I'm Alright zerfetzt eine Bo Diddley-Melodie: In Dublin stürmen die Zuschauer die Bühne, der Sound bricht ab und die Show ist vorbei.
Die Rolling Stones sind schon so lange das, was sie heute sind, dass es leicht ist, zu vergessen, wie roh, wie kraftvoll und schockierend sie 1965 waren. Trotz der Insignien der aufkeimenden Kosumgesellschaft sieht das Großbritannien da draußen damals ziemlich düster und öde aus. Es herrschen noch viktorianische Einstellungen vor, das Begräbnis Winston Churchhills – ein weltweites Ereignis und Meilenstein im öffentlichen Leben Großbritanniens – im Januar 1965 liegt erst wenige Monate zurück.
Blitzableiter einer Generation
Die Stones waren wie der Blitzableiter einer Generation; an ihnen schieden sich die Erwachsenen und die Teenager, die bald besessen von ihnen waren. Im Juli 1965 wurden sie in der Boulevardpresse berühmt-berüchtigt, weil sie eine Strafe für öffentliches Urinieren aufgebrummt bekommen hatten. Irgendwie spiegelte sich darin auf alberne Weise die Leidenschaft, die bei ihren Liveshows aufwallte. „Es hat etwas mit Sex zu tun“, meint Jagger einmal. Ebenso ging es aber auch um Chaos, um den Ausbruch des Es.
Fanwahn hatte es natürlich auch zuvor schon gegeben, kaum jemals aber wurde er ausgelöst durch etwas so Negatives wie das „oh no, oh no“ oder das „I can't get no“ der Stones. In dieser Zeit, schreibt Keith Richards in seiner Biographie Life, „nahmen unsere Texte eine gewisse Schärfe an – man könnte auch sagen, sie entsprachen langsam dem Image, das auf uns projiziert wurde. Zynisch, böse, skeptisch, dreist. In dieser Hinsicht waren wir unserer Zeit offensichtlich voraus.“
Früher als irgendjemand gedacht hätte, gerieten sie jedoch ins Stocken – unmöglich, sich vorzustellen, dass sie fünfzig Jahre später immer noch spielen würden. Doch diese wunderbar restaurierte Version von Charlie is My Darling zeigt die Stones in genau jenem Moment, in dem sie, in den Worten der Rockjournalisten-Legende Nik Cohn, „große Befreier“ waren. Diese fünf leicht benommenen jungen Männer befinden sich in der ersten Blüte ihrer künstlerischen und kulturellen Schaffenskraft und das ist einfach herrlich aufregend. Das ganze Unschöne, das später kommen sollte, beiseite: So hat das Jahr 1965 sich für viele, die damals Teenager waren, angefühlt und deshalb waren die Rolling Stones wichtig.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.