Harold Wilson wird nachgesagt, er habe das Bonmot verkörpert: „Wenn man nicht in der Lage ist, zwei Pferde zur gleichen Zeit zu reiten, sollte man nicht im Zirkus arbeiten.“ Auch wenn er dafür kritisiert wurde, dass er sich in seinen 13 Jahren als Labour-Chef eher von Pragmatismus als von Prinzipien leiten ließ, kam ihm diese Eigenschaft doch zugute, als es in den 1970ern darum ging, seine Partei davor zu bewahren, sich über ihre Haltung zu Europa zu zerfleischen.
Als Wilson am 10. Oktober 1974 eine vierte Parlamentswahl gewann, sah er sich der Herausforderung gegenüber, die tiefen Gräben zu überwinden, die sich in seiner Partei über die Frage aufgetan hatten, ob die Entscheidung von 1972, der Europäischen Gemeinschaften (EG) beizutreten, revidiert werden sollte oder nicht. Das Labour-Wahlprogramm hatte dem britischen Volk das „letzte Wort“ versprochen, ohne selbst eine Empfehlung abzugeben.
Der ehrliche Makler
Wilson wartete weitere fünf Monate. Dann, in der entscheidenden Kabinettssitzung im März 1975, erklärter er, er sei „51 zu 49 Prozent überzeugt“, die inzwischen von ihm selbst ausgehandelten neuen Beitrittsbedingungen zu unterstützen. „Noch in den letzten Tagen war ich sehr besorgt, aber nun denke ich, dass wir drinbleiben sollten“, so Wilson. Der Premier hatte gewartet, bis das für den 10. Juni 1975 angesetzte Referendum keine drei Monate mehr entfernt war. Es war nicht nur politisch klug, sondern auch glaubwürdig, sich als ehrlicher Makler zu positionieren, da er mit keinem der beiden Lager in Verbindung gebracht wurde, die die Frage der Mitgliedschaft im gemeinsamen Binnenmarkt als Grundsatzfrage betrachteten.
Labours gegenwärtige Haltung ähnelt der Wilsons vor 44 Jahren. Jeremy Corbyn sagt, eine Labour-Regierung würde den Menschen das letzte Wort in einer öffentlichen Abstimmung zwischen „für beide Seiten glaubwürdigen Optionen“ geben, nämlich dem besten Austrittsabkommen, das sie – gemessen an Labours Parteiprogramm von 2017 – bekommen könnten, und einem Verbleib in der EU. Zum Frust einiger hat Corbyn hartnäckig versucht, die Menschen über die Teilung in der Brexit-Frage hinweg hinter einem Abkommen zu vereinen, das Handel und Normen schützt. Das versetzt ihn in eine ähnliche Lage wie die Wilsons – als jemand, der glaubwürdig als ehrlicher Makler handeln kann, indem er den Menschen das letzte Wort gibt.
Für Labour besteht das Problem jedoch darin, dass einige wichtige Parteiakteure mittlerweile fest auf einen Verbleib in der EU drängen. Dies ist zwar ihr gutes Recht wie es dies 1975 das der Vertreter der beiden antagonistischen Lager war, erschwert es aber, glaubwürdig zu behaupten, man sei als Partei in der Lage, erfolgreich mit Brüssel zu verhandeln. Für den politischen Gegner ist es einfacher, Labour zu verspotten, wenn die Partei den Eindruck erweckt, die Verhandlungen würden von Personen geführt werden, die von vornherein entschlossen sind, deren Ergebnis abzulehnen. Es ergibt Sinn, klarzustellen, dass das Verhandlungsteam Labours sich vor allem aus Ministern zusammensetzen würde, die den potenziellen Vorteilen eines Abkommens gegenüber aufgeschlossen sind.
Die Remainer argumentieren, dass es keinen besseren Deal gibt als den bereits existierenden und es daher allein schon unaufrichtig wäre, überhaupt weiter verhandeln zu wollen. Vergesst Wilson, würden sie sagen; Labour sollte dafür werben, die Entscheidung von 2016 rückgängig zu machen.
Lassen wir einmal die potenziell selbstmörderischen Auswirkungen dieser Position auf die Wahlen außer Acht. Es gibt gute Gründe zu sagen, ein neues Abkommen mit der EU könnte für abhängig Beschäftigte besser sein als eine Mitgliedschaft. So wurde keine Berechnung für die Situation angestellt, dass die Regierung durch den Brexit-Stillstand auf unbestimmte Zeit handlungsunfähig ist. Dabei sind die negativen Auswirkungen von so viel Unsicherheit bereits zu spüren. Wenn das noch viele Jahre so weitergeht, könnten die Folgen noch weitaus schlimmer ausfallen als alle bisher veröffentlichten Szenarien. Ebenso kann niemand sicher sagen, welche Vorteile es hätte, wenn eine Labour-Regierung weniger Einschränkungen durch Beihilfe- und Wettbewerbsregeln erführe, als dies der Fall wäre, bliebe Großbritannien in der EU.
Was Brüssel bieten müsste
Die Option eines tragfähigen Abkommens muss daher sicherlich in gutem Glauben verfolgt werden. Aber könnte Brüssel denn wirklich noch irgendetwas anbieten, das über das hinausgeht, was Theresa May bereits ausgehandelt hat? Das große Problem mit Mays Herangehensweise bestand in ihrem Bestreben, der Deregulierung der Wirtschaft Tür und Tor zu öffnen. Für Brüssel stellte dies eine wettbewerbliche Bedrohung dar. Diese Gefahr besteht mit Labour nicht, betrachtet die Partei die von der EU verbürgten Arbeits-, Verbraucher- und Umweltschutzbestimmungen doch als etwas, auf das sie aufbauen möchte, anstatt es wie die Tories zu schleifen. Allein das sollte es einfacher machen, einer neuen Handelsbeziehung zuzustimmen, einschließlich einer Lösung der irischen Grenzfrage.
Würde Labour eine Wahl gewinnen, weil die Partei sich verpflichtet hätte, ein neues Abkommen auszuhandeln und die Bevölkerung darüber abstimmen zu lassen, wäre Brüssel gut beraten, etwas anzubieten, das die Wirtschaftsbeziehungen schützt, anstatt alles darauf zu setzen, dass sich eine Mehrheit für Remain findet.
Es mag inmitten der aktuellen Krise widersinnig erscheinen, aber wenn Labour sich die Haltung Wilsons zu Eigen machen würde, könnte dies auf beiden Seiten des Kanals zu einem Mehr an Pragmatismus führen, der es der Öffentlichkeit ermöglichen würde, zwischen zwei glaubwürdigen Optionen zu wählen. Damit würde sich gleichzeitig die Chance erhöhen, dass das Ergebnis von einer breiten Mehrheit akzeptiert wird. Wie Wilson müsste Jeremy Corbyn sich mit seiner Empfehlung nicht festlegen, bis die letzten Details eines neuen Abkommens bekannt sind.
Kommentare 12
auch einem erfahrenen zirkus-reiter wird das reiten von 2 pferden
sauer werden, wenn diese sich in entgegen-gesetzte richtungen bewegen.
ruder-los driftet das britische floß, noch am europäischen seil hängend,
in die gegend wo die (finanz-) haie warten.
gerade ein wandel der britischen politik(zum irrationalen)
hat diese lage herbei-geführt.
und corbyn soll der retter seiner partei,
gar der hoffnungs-volle skipper sein, der die alte navigations-kunst
britischer politik zurück-bringt, während auf dem floß
leute mit spitz-hacken und sägen zugange sind?
Jeremy Corbyn wird von den Liberalen, den Grünen und auch von den Schottisch-Nationalen massiv abgelehnt. Corbyn ist im Grunde ein Brextier. Anstatt daraus in Hinblick auf den Brexit Konsequenzen zu ziehen, hat Labour mit Corbyn die Lage mit zu verantworten. Nach dem Parteitag sieht es eher schwarz für die Remainer aus. In seiner Rede hat Corbyn, genau so wenig wie diese Marionette Johnson es tut, dargelegt, wie und wovon er all seine Versprechen finanziell einlösen will angesichts der Folgen nach dem Brexit. Corbyn versteckt sich da durchaus ein stückweit hinter den Konservativen. & Vom einstigen Internationalismus Labours rührt allenfalls noch Corbyns Privatleben.
Corbyn besetzt eine Position in der redliche und überzeugende Politiker an ihrem Anstand scheitern. Aber über das Gesetz der absoluten Ablehnung einer ordnungsgemäßen Vertragsvereinbarung wird Johnson noch schnell stolpern können. Das ist Corbyns Erfolg.
Seine Vorstellung, es den meisten Menschen recht und gut zu machen um unverantwortliche Politik zu verhindern, reizt die sich gefährdet sehenden Johnsons und Gefolge bis zum Suizid. Im Graben zu liegen, statt der Vernunft zu folgen lässt mich auf den Graben hoffen.
Corbyn wünsche ich, dass das einstimmige Urteil des Gerichts auch in seiner Partei eine Grundlage bietet, endlich die reale Politik durchschaubarformulieren zu können, um eine Mehrheitsentscheidung zu bekommen. Corbyn hat im Gegensatz zu Johnson keine Partei der "Habt Acht-Befehle". Tories können nur flüchten oder bedingunslosen Gehorsam ertragen.
Korrektur: "Ablehnung einer nicht ordnungsgemäßen Verragsvereinbarung"
Corbyn sitzt zwischen allen Stühlen. Im Gegensatz zu Johnson, der sich auf den Thron schwang.
Bereits May hatte keine Kontakte zu Labour gesucht bzw. angenommen. Kurz vor ihrem Rücktritt fiel ihr das ein. Als alles zu spät war. Wer kann sich unentwegt verteidigen und dann die Zeit und Kraft aufbringen, ein eigenes Konzept zu entwickeln. Das ist der Kampf gegen Windmühlen.
In der Opposition sind Änderungen oder Ergänzungen der Regierung zu diskutieren, kein komplett anderes Konzept.
Dennoch hat Labour noch rechtzeitig ein offensichtlich tragendes Gesetz eingebracht. Johnson sucht nach Anhaltspunkten zw. Abwehr.
Von Corbyn sind m. W. keine Lügen oder Wahrheitsunterschlagungen bekannt. Seine Reden im Parlament waren authentisch.
"Von Corbyn sind m. W. keine Lügen oder Wahrheitsunterschlagungen bekannt. Seine Reden im Parlament waren authentisch."
Da haben Sie völlig Recht. Corbyn mit Johnson in einen Topf zu schmeißen ist eigentlich eine Frechheit, vor allem eine Dummheit aus Unkenntnis, auch ein typisches Nachplappern der deutschen Medienpropaganda gegen den Linken Corbyn.
Jeremy Corbyn muss ja auf den Riss durch die Gesellschaft, durch Familien, Parteien, Pubs, Vereine und das Parlament sowie ein gespaltenes Land reagieren und kann sich nicht auf eine Seite werfen. So ist ihm bisher ein schwieriger Drahtseilakt ganz ordentlich gelungen.
Was Johnson für eine miese und gefährliche Type, über den notorischen Lügner und Betrüger hinaus, hat er heute Abend in der Sitzung des House of Commons wieder unter Beweis gestellt, als er auf eine sehr emotionale Einlassung der Abgeordneten Paula Sherriff, die das Thema Verrohung der politischen Sprache und den Tod ihrer Kollegin Jo Cox zum Inhalt hatte, nur mit blankem Zynismus reagierte.
Aber machen wir uns nichts vor. Solche Strolche und Rattenfänger haben gerade Konjunktur und leichtes Spiel. Wenn morgen Wahlen in England, Johnson würde sie wohl gewinnen. Auch in England gilt: „Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihren Schlächter selber.“
Über Johnson und die Clique um ihn herum, streite ich mich nicht mit Ihnen. Da sind wir wohl einer Meinung, auch was May anbelangt. Nun habe ich mir aber stundenlang all die Unterhausreden angeschaut und Corbyns Agenda kenne ich auch.
Corbyn ist nicht mehrheitsfähig, auch wenn die Schottisch-Nationalen, die ihn aus bekannten Gründen nicht mögen (Corbyn ist kein Remainer), bereit sind mit Labour zu paktieren, um die No-Deal Leute zu stoppen. Darum geht es gerade.
Wie gesagt, diese Freund- Feindpolitik, wie sie auch heute, einen Tag nach dem Urteil ,schlimmer denn je im Britischen Unterhaus zu sehen war, ist erschreckend und sicherlich, da wäre auch ganz bei Ihnen, das Ergebnis einer die Gesellschaft spaltenden Austeritätspolitik.
Ich denke, wir sind uns sehr nahe mit unerer politischen Meinung und geben vielleicht ein Minibeispiel, wie ein Gesprächskreis funktionieren kann.
Mit Corbyn stellt sich kein Hardliner zur Wahl. Dass er dem Brexit persönlich nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber steht ist auch sein persönliches Recht. In der politischen Umsetzung entnehme ich aber seine glaubhafte Bereitschaft, die Mehrheit zu akzeptieren. An diesem Punkt steht er allerdings einer Mauer der Superhardliner Johnsons gegenüber.
Corbyn hat zwischen Pest und Cholera einen Weg zu finden, und zwar einen mit sachgemäßer politischer Verantwortung gegenüber allen Betroffenen, selbst gegenüber den (verzweifelnden?) Nichtwähler!
Ich muss erkennen, dass er für nicht mehrheitsfähig gesehen wird. Für mich wäre er der wählbare Kandidat. Lichtgestalten gibt es nicht.
Erfordert die Vernunft nicht eine humanistische Friedenspolitik, ausdrücklich hautnah für Irland und Schottland. Das ist die Bruchstelle der mehrheitsfähigen (?)Politik Johnsons?
Mit Johnson würde ich als Wählerin sowohl die Politik wie seine Persönlichkeit ablehnen.
Erst wenn Johnsons autistische Politik im Papierkorb ist, können die Briten durchatmen und neu starten. Sonst ist das Gift der Machtgier nicht einzugrenzen.
Danke, ich bin mit Ihnen einer Meinung und denke, dass diese z.Z. gefährlichsten RP oder MP Trumps u. Johnsons weltweit das größte Kriegsrisiko sind.
Johnson ist ein aktuelles Beispiel für absolute Amoral und Skrupellosigkeit, die mit der Berechnung Politik macht, dass ihm die Mehrheit der Leute für genau solche Diktatorengebaren hinterherrennt. Seine Rechnung scheint aufzugehen. Mit jeder Diffamierung, Schamlosigkeit und Lüge steigt seine Beliebtheit. Ein Mann, der ins englische Establishment hineingeboren, der zu den Eliten des Landes gehört, die Eliten in ihrer schlimmsten und menschenverachtendsten Form (Jacob Rees-Mogg) an die Schalthebel der Macht bringt, suggeriert den kleinen Leuten unter den Briten, er würde mit ihrer Hilfe das Establishment besiegen. (Modell Trump)
Ein Typ der Machart Johnson, da bin ich ganz bei Ihnen, bricht auch aus ganz niederen persönlichen Machtgelüsten eben einfach mal einen Krieg vom Zaun, nach außen aber auch nach innen, so man ihn lässt.
Dann hetzt er noch mit einer Tonlage, wie sie der einstige britische Faschistenführer Mosley an den Tag legte gegen das Parlament, die Gerichte und die eigene Partei, fertig ist der „Volkstribun“. Die Leute rennen ihm hinterher. Er hat natürlich ein leuchtendes Beispiel im eigenen Land. Margaret Thatcher hat auf offener Bühne Krieg gegen die Armen und bestimmte Bevölkerungsgruppen im eigenen Staat (Bergarbeiter, Gewerkschaften) geführt, der Rest im Land hat weggeschaut und sie 11 Jahre ins Amt gewählt. Diesmal können die Briten sich aber nicht rausreden. Anders als in Deutschland, wo eine Partei der anderen wie ein Ei gleicht, haben die Briten mit Labour eine wirkliche Alternative zum Neoliberalismus.
Erstaunlich jedenfalls wie einfach es besonders in Europa mittlerweile ist, als Rattenfänger, Scharlatan und Brandstifter Mehrheiten hinter sich zu scharen. Den Kapitalismus hat immer das große Können ausgezeichnet, die Bürger zu verblöden, einzulullen und abzulenken. Jetzt erlebt man allerorten die Gestalten, die sich so etwas zunutze machen. Ob die nun Salvini, Strache, Johnson, Le Pen, Gauland, Orban, Kurz, Kaczyński usw. heißen ist fast zweitrangig.
"Harold Wilson wird nachgesagt, er habe das Bonmot verkörpert: „Wenn man nicht in der Lage ist, zwei Pferde zur gleichen Zeit zu reiten, sollte man nicht im Zirkus arbeiten.“"
Eine freundlich verpackte Kritik an Wilson und ausgewogenerweise auch an "Mr. Heath" formulierte seinerzeit ein zugegebenerweise neureicher Bursche namens George Harrison, den eher die Steuerpolitik nervte, in seinem Song Taxman... der Text jedenfalls hat Witz ("If you try to sit, I'll tax your seat / If you get too cold, I'll tax the heat / If you take a walk, I'll tax your feet").
Leider sind diese Späße schon lange vorbei.
Ich habe mich bemüht, einen Rest der englischen Verspieltheit in Boris Johnson zu entdecken, und ab und zu blitzte da ja auch was auf, aber seit seinem Verhalten gegenüber den Einlassungen der Abgeordneten Paula Sheriff und Tracy Brabin fällt mir nichts mehr ein. Nuff said.