Erlöser USA Das aktuelle Cover des "Time Magazine" behauptet, dass Afghanistan vom Westen in die Moderne gerettet werden will. Doch diese Rettung birgt Gefahren
In Anlehnung an das legendäre Cover des National Geographic aus dem Jahr 1985 ist auf dem Cover des Time Magazine diese Woche ebenfalls eine hübsche junge Afghanin abgebildet. Doch dieses Mal klafft im Gesicht der Frau ein Loch, weil ihre Nase auf Anweisung der Taliban abgeschnitten wurde. Dazu die krasse Titelzeile: „Was geschieht, wenn wir Afghanistan verlassen“. Das vorsichtig formulierte Editorial betont, man zeige das Bild „weder um die Kriegsbemühungen der USA zu unterstützen, noch aus Ablehnung gegen diese“. Die Intention sei vielmehr, ein Gegengewicht zu den schädlichen Wikileaks-Enthüllungen zu schaffen – 91.000 Dokumente, von denen das Time Magazine glaubt, dass sie weder „die emotionale Wahrheit noch einen Einblic
;dlichen Wikileaks-Enthüllungen zu schaffen – 91.000 Dokumente, von denen das Time Magazine glaubt, dass sie weder „die emotionale Wahrheit noch einen Einblick in den Lebensalltag in diesem schwierigen Land“ bieten können.Feministinnen weisen seit langem darauf hin, dass es eine sehr zynische Strategie sei, die Lebensumstände der Frauen heraufzubeschwören, um die Besatzung zu rechtfertigen. Das Cover des Time Magazine steht diesbezüglich bereits unter Anklage. Interessanterweise eröffnen die Wikileaks-Dokumente, dass die CIA riet, die Not der Frauen in Afghanistan als „Druckpunkt“ zu verwenden; als emotionales Argument, um patriotische Unterstützung für den Krieg zu gewinnen.Frauenfeindliche Gewalt ist nicht hinnehmbar, doch wir müssen auch vorsichtig sein, wenn versucht wird, die Komplexität des Krieges, der Besatzung und der Realität auf das Gut-Böse-Schema einer Gute-Nacht-Geschichte zu reduzieren. Das Time Magazine soll im Vorfeld der Veröffentlichung Kinderpsychologen konsultiert haben, doch am Ende wurde entschieden, dass es für Kinder (und für uns) wichtiger ist, zu verstehen, dass „Menschen schlimme Dinge passieren“ und dass wir Mitleid mit ihnen haben müssen.Die Zeitschrift ist nicht die einzige, die die Realität in Afghanistan auf eine vereinfachende Moralgeschichte herunterbricht. Eine bedauerlich große Anzahl von Arbeiten will uns glauben machen, dass Afghanistan jenes „kaputte Land aus dem 13. Jahrhundert ist“, als das es der britische Verteidigungsminister Liam Fox unlängst bezeichnete, in dem es nur pathologisch gewalttätige Männer und brutal behandelte Frauen gibt.Alle Frauen heißen „die Burka“Während die afghanische Bevölkerung immer weiter zum Schweigen gebracht und entmachtet wurde, indem man sie auf ein Objekt westlicher Zurechtweisung reduzierte, hat das jüngst ergangene Urteil gegen Åsne Seierstads Der Buchhändler aus Kabul gezeigt, dass diese Darstellung anfechtbar ist. Seierstads Erzählung basiert auf ihren Erinnerungen an einen Aufenthalt im Haus des titelgebenden Buchhändlers. Was sie dort erlebte, wie etwa die gewöhnlichen Verhandlungen im Vorfeld einer Hochzeit, beschreibt sie in einer beleidigenden, kommerziellen Sprache. Die weiblichen Figuren nennt sie einfach nur „die Burka“. Ihr Ton impliziert, dass selbst die Taliban-kritischsten Männer in Afghanistan hoffnungslos grausame Patriarchen seien. Erwartungsgemäß verurteilten einige Rezensenten Afghanistan daraufhin als „furchtbare Gesellschaft“.Es gibt eine lange koloniale Tradition, den Nicht-Westen als die Vergangenheit des Westens zu stilisieren. Manche legen nahe, man solle ihn doch einfach in seiner Hoffnungslosigkeit verrotten lassen, doch die modernere Version drängt darauf, die Afghanen an die Moderne anzuschließen, indem wir ihnen beibringen, wie man in einer globalisierten Gegenwart so lebt. In Sachbuch-Bestsellern wir Deborah Rodriguez’ Kabul Beauty School, lehrt eine Amerikanerin die afghanischen Frauen die Feinheiten des Haarefärbens und der Sinnlichkeit sowie den Widerstand gegen die Unterdrückung. „Allem Anschein nach gibt es in Afghanistan kein Sexleben“, schreibt Rodriguez, die – ähnlich wie Seierstad – von den afghanischen Hochzeitsbräuchen besessen scheint. Der Film Sex and the City 2, der im Nahen Osten spielte, mag im Kino ein Flop gewesen sein, doch als Ideologie hat es den aussagekräftigen globalen Feminismus verdrängt.Auch akzeptable afghanisch-amerikanische Stimmen wie Khaled Hosseini (Drachenläufer) und Awista Ayub (Kabul Girls Soccer Club) reproduzieren den Gedanken, das vorstädtische Amerika könne den Afghanen die Freiheit „einflößen“. Formelhafte Erzählungen werden von unermüdlichen Menschenfreunden aus dem Westen, sex-besessenen poligamen Pädophilen (die meisten afghanischen Männer) und „Kindfrauen“ in Burkas bevölkert, deren Körper und Geist gebrochen ist oder die vielleicht gerade genug Tollkühnheit besitzen, um als Heldin einer triumphalen Hollywood-Erzählung zu taugen. Die realen Auswirkungen der Nato-Besatzung, zu denen auch zählt, dass sich das Leben vieler Frauen angesichts der tödlichen Kombination aus einem alten patriarchalen Feudalismus und einem neuen, die ganze Gesellschaft beherrschenden Militarismus verschlechtert hat, wird kaum diskutiert.Bankrotte ModerneDie verstümmelte afghanische Frau füllt letztlich eine symbolische Leerstelle, wo eigentlich Pläne für einen echten Wandel gebraucht werden. Die Wahrheit ist, dass die USA und ihre Verbündeten Afghanistan nichts Wesentlicheres anzubieten haben, als die gewaltige Kriegsmaschine zu füttern, die sie losgelassen haben.Und wie könnten sie auch? Im wohlhabenden Westen selbst bedeutet Modernität inzwischen doch einen Abbau der Sozialsysteme, zunehmende Ungleichheit (die unverhältnismäßig mehr Frauen entrechtet) und abnehmende wirtschaftliche Profite. Andere Gedanken, die einst mit der Moderne in Verbindung gebracht wurden – soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Fairness oder Frieden, die zur Befreiung der afghanischen Frau beitragen würden – gehören im Namen des Fortschritts der Vergangenheit an. Diese bankrotte Version der Moderne kann den Afghanen kaum etwas anderes anbieten als Bikini-Waxing und Oprah-Imitatorinnen. Wir brauchen eine radikale Moderne – nicht nur für die bedrängten Menschen in Afghanistan.
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