Auf einer Party in der Londoner Innenstadt, nicht lange nachdem Jeremy Corbyn zum ersten Mal zum Labour-Vorsitzenden gewählt worden war, erläuterte mir eine junge Journalistin die Faktenlage, wie die sich in ihren Augen darstellte.
"Er hat die Wahl schon verloren", ließ sie mich wissen.
"Ich dachte, er hätte eben erst eine gewonnen", gab ich zu bedenken.
"Ich meine 2020", erwiderte sie und bezog sich damit auf den Termin, der eigentlich für die nächste Unterhauswahl vorgesehen war. "Sprechen wir über 2020 jetzt schon in der Vergangenheitsform?", fragte ich nun wieder.
Das Problem mit der herrschenden Meinung ist oft, dass sie ohne Beipackzettel daherkommt. Niemand weiß genau zu sagen, wo ihre Gewissheiten eigentlich herkommen, trotzdem verbreiten sie die Leute weiter, als seien sie das Produkt ihrer eigenen politischen Vernunft und so klar wie ein wolkenloser blauer Frühlingshimmel.
Während der vergangenen zwei Jahre galt es als ausgemachte Sache, dass Labour unter Corbyn für die britische Wählerschaft unwählbar sei. Es hieß, Labour würde Wahlen nicht nur verlieren, sondern noch nicht einmal ernsthaft gegen die Tories antreten können. Das wurde nicht als Meinung präsentiert, sondern als Tatsache. Wer daran zweifelte, wurde behandelt, als würde er den Klimawandel leugnen. Wer Labour unter Corbyn ernsthafte Chancen einräumte, wurde schlicht nicht mehr ernstgenommen.
Soweit das Narrativ, das die politische Klasse an die Medien weitergab, die es druckten und versendeten, wie ihnen befohlen. Die politische Klasse, die sich größtenteils aus derselben sozialen Schicht rekrutiert wie die Leute, die ihr auf der anderen Seite der Mikrofone gegenübersitzen, deuteten dann die von ihnen diktierten Artikel als Beweis für die Richtigkeit ihrer Behauptungen. Die Gewissheit über Corbyns Unwählbarkeit wurde an alle übermittelt, auf die es ankam. Wen das nicht erreichte, auf den kam es per definitionem auch nicht an. In dieser Atmosphäre konnten natürlich keine neuen Ideen entstehen.
Nicht zum ersten Mal
Kurz vor der Wahl am 8. Juni liegt Labour in den Umfragen nun zwischen einem und zwölf Prozent hinter den Konservativen. Eine Hochrechnung kommt zu dem Schluss, dass die Tories keine absolute Mehrheit zusammenbekommen; die meisten sagen ihnen eine Mehrheit zwischen 30 und 70 Prozent voraus. Keine der Prognosen geht von einem Sieg für Labour aus. Die meisten prognostizieren Corbyn aber einen höheren Stimmenanteil, als ihn die Vorgänger Ed Miliband oder Gordon Brown für Labour erringen konnten. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass die Meinungsforscher falsch liegen.
Einer Umfrage zufolge könnte jeder Fünfte noch seine Meinung ändern. Klarheit werden wir erst am späten Donnerstagabend haben. Für diejenigen, die von Corbyns Unwählbarkeit überzeugt waren, kam es auf die eigentliche Entscheidung der Wähler selbst gar nicht an. Die Stimmabgabe war für sie reine Formalie. Wie es nun scheint, ist dieser Faktor aber durchaus nicht so unbedeutend, selbst wenn es für Labour nicht ganz reichen sollte.
Aber das sollte uns nicht allzu sehr überraschen – von der herrschenden Meinung mal ganz abgesehen. Wählbarkeit, ob sie sich auf eine Person bezieht oder ein Programm, ist keine Wissenschaft. Zugegeben gibt es da draußen kluge Leute, die bisherige Wahlen und das Verhalten der Wähler studiert haben, um Vorhersagen zu treffen. Das sind aber nur Wahlforscher und keine Hellseher.
Das Geld entscheidet
Die Menschen, die „entscheiden“, ob jemand wählbar ist oder nicht, sind nicht die Wähler – die kommen erst viel später –, sondern meinungsbildende Eliten und jene, die diese Eliten finanzieren.
In den USA entscheidet das Geld über die Auswahl der Kandidaten, noch bevor die Wähler überhaupt einen Blick auf sie werfen dürfen. In Großbritannien spielen die Medien die entscheidende Rolle. „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken", schrieb Marx in seiner Schrift Deutsche Ideologie. Das erklärt, wie ein Mann wie Corbyn, der mit Sinn Féin geredet hat (eine Strategie, die sich bewährte) immer wieder nach seiner Unterstützung für den „Terrorismus“ gefragt werden kann, während eine Frau, deren Partei Nelson Mandela zum Terroristen erklärte, nie danach gefragt wird, warum sie die Apartheid unterstützt hat.
Es gibt auch keine festen Attribute, was einen Kandidaten wählbar macht und was nicht. Politische Kulturen sind lebendige Organismen. Sie verändern sich stetig; die Qualitäten wechseln, nach denen Wähler bei Politikern suchen.
In den USA galt es einmal für ausgemacht, dass einer weiß sein musste, um zum Präsidenten gewählt zu werden. 1958 antworteten 53 Prozent der weißen Wähler auf die Frage, ob sie einen schwarzen Kandidaten wählen würden, mit nein. 1984 waren es noch 16 und 2003 nur noch sechs Prozent. Wir wissen, dass das heute nicht mehr stimmt. Aber bis zur Wahlnacht 2008 konnten wir uns dessen nicht sicher sein.
Clintons Irrtum
Es stimmt auch für die Programme. Selbst wenn Parteien sich grundsätzlichen Prinzipien verschreiben, müssen sie in ihren Versprechen doch mit der Zeit gehen. Die Anhänger Blairs und Clintons haben das nicht nur verstanden, sondern sogar zu ihrem Glaubensbekenntnis gemacht. Doch nachdem sie eine neoliberale Agenda zusammengezimmert hatten, die sie in den 90ern und darüber hinaus für eine Mehrheit wählbar machte, glaubten sie offenbar, ihre Aufgabe sei erledigt: der Rechtsruck sei sowohl alternativlos und einmalig – sie werden das mutmaßlich nie wieder tun.
Der wirtschaftliche Zusammenbruch und die darauffolgende Austeritätspolitik haben für eine tektonische Verschiebung in unserer politischen Kultur gesorgt. Die Erwartungen der Menschen an eine Mitte-Links-Partei haben sich verändert. Die herrschende Meinung, wer oder was wählbar ist, hat diese Veränderung nicht nachvollzogen. Ihre hohen Priester beharren darauf, dass Wahlen in der Mitte gewonnen werden. Sie verstehen nicht, dass die Mitte sich verschieben kann und in Zeiten extremer Polarisierung sogar ganz verschwindet. Die Pragmatiker wurden zum Dogmatikern; die Modernisierer zu Konservativen.
Doch das grundsätzliche Problem mit der Vorstellung von Wählbarkeit besteht darin, dass es auf der Unterstellung beruht, dass etwas, das es so noch nicht gegeben hat, auch nicht funktionieren könne. Es unterstellt, die Art, wie die Menschen die Welt sehen, könne durch Argumente und politische Praxis nicht verändert werden. Stattdessen errichtet es Grenzen für das, was diskutiert werden darf. Wer es wagt, sich etwas zu erträumen, das außerhalb dieser Grenzen liegt, ist ein Utopist; wer sich außerhalb ihrer äußert, gilt als Narr.
Das Wahlfieber steigt
Es ist nur so, dass in Krisenzeiten wie der unsrigen die Kosten dafür, außerhalb der Grenzen der herrschenden Meinung zu denken, für viele geringer werden. Ein Kandidat wie Corbyn, der Terroranschläge im Inland mit den Kriegen in Verbindung bringt, die die eigene Regierung im Ausland führt, und für die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums und die Stärkung des öffentlichen Dienstes eintritt, hat massiv aufgeholt.
Man hatte uns gesagt, dass so etwas nicht möglich sei. Und genau darin liegt der Grund, warum zum ersten Mal seit langem viele Leute dieser Wahl entgegenfiebern. Ob Corbyns Labour-Party gewinnt, wissen wir bald. Der einzige Weg, wirklich herauszufinden, ob etwas wählbar ist, besteht darin, dafür zu kämpfen und zur Wahl zu gehen.
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