Da waren wir schon mal weiter

Aufrüstung Russland und die USA modernisieren ihre Atom-Arsenale. Kehren bald Mittelstreckenraketen wieder zurück nach Europa?
Ausgabe 07/2015
Zurück zu den guten (k)alten Zeiten?
Zurück zu den guten (k)alten Zeiten?

Illustration: der Freitag

Die lange Phase der Rüstungskontrolle endet mit dem Rückfall in eine brisante Rivalität zwischen zwei Atommächten. Die USA drohen als Antwort auf neue russische Marschflugkörper – in denen sie einen Verstoß gegen geltende Verträge sehen – ihrerseits damit, wieder Cruise-Missiles in Europa zu stationieren. Und das nach 23-jähriger Abstinenz. Am 26. Dezember ließ die Army über Washington ein Test-Luftschiff aufsteigen, das künftig als Teil des Abwehrsystems JLENS anfliegende Marschflugkörper orten soll. Das US-Luft- Verteidigungskommando ließ zwar offen, welcher Art von Bedrohung man sich erwehren müsse. Doch neun Monate zuvor hatte General Charles Jacoby als Chef des Kommandos erklärt, man wolle auf „einige größere Herausforderungen“ reagieren, etwa auf Raketen, die von U-Booten abgefeuert werden könnten.

Mögliche Überraschungen

Russische U-Boote sind jetzt häufig zu Patrouillen im Atlantik unterwegs – nicht auszuschließen, dass deren Trägersysteme inzwischen Nuklearsprengköpfe tragen, seit Moskau und Washington einen rauen Ton pflegen. Wladimir Putin betrachtet Kernwaffen als Garanten russischer Stärke. Bei einer Rede im Sommer kam er explizit auf atomare Abschreckung zu sprechen und meinte, andere Staaten „sollten verstehen, dass man sich mit uns besser nicht anlegt“. Die Presse in Moskau sekundierte. Es war die Prawda, die im November einen Kommentar mit dem Titel Russland bereitet der NATO eine nukleare Überraschung abdruckte, in dem es hieß, gerade bei Kernwaffen sei man dem Westen überlegen. „Die Amerikaner glaubten, Russland könnte sich nie mehr erheben. Nun ist es zu spät.“

Nur Rhetorik? Jedenfalls übernimmt die Novellierung der russischen Militärdoktrin, bekannt gegeben zum Jahreswechsel, beim Thema Kernwaffen den Wortlaut aus der Version von 2010: Ein Einsatz komme nur bei einem Angriff in Betracht, der „die Existenz des Staates“ gefährde – keine Präventivschläge. Um so mehr ist Russland entschlossen, mit den USA Schritt zu halten. Die neue Interkontinentalrakete Bulawa eignet sich für U-Boote.

Dabei erfasst die Modernisierung auch die Transportsysteme. So kündigte Moskau jüngst die Wiedereinführung der „Atomzüge“ an, auf denen Kernwaffen durch das ganze Land gefahren werden und schwer zu lokalisieren sind. Zugleich wächst im Westen die Sorge um einen Flugkörper namens Klub-K, der sich samt Abschussvorrichtung in einem unauffälligen Standard-Container befördern und auch von dort aus abfeuern lässt. Noch alarmierender sind aus US-Sicht Testflüge einer neuen russischen Mittelstreckenrakete. Die Regierung Obama sieht darin einen klaren Bruch des INF-Vertrages von 1987, der unter dem Schlagwort „doppelte Nulllösung“ den Abbau einer atomaren Drohkulisse auf europäischem Boden einleitete.

So wächst die Angst vor unangenehmen Überraschungen. Im US-Kongress attackierten die Republikaner die beiden Verhandlungsführer bei den Rüstungskontrollgesprächen, Rose Gottemoeller vom Außenministerium und Brian McKeon vom Pentagon: Sie hätten auf mutmaßliche Vertragsbrüche zu spät reagiert. Gottemoeller parierte, sie habe Bedenken wegen der neuen Rakete in Moskau „ein Dutzend Mal“ vorgebracht, Barack Obama deshalb an Putin geschrieben. Die Rakete – es soll sich um das Muster Iskander-K handeln, dessen Reichweite bei 5.500 Kilometern liegt – sei offenbar einsatzbereit. Brian McKeon sagte dazu, derzeit habe man keine bodengestützte Cruise-Missiles in Europa, schließlich sei das vertraglich verboten. „Doch darüber könnten wir natürlich nachdenken.“

Wieder Marschflugkörper in Europa zu stationieren, wäre politisch heikel, doch die republikanische Kongressmehrheit will die Muskeln spielen lassen. Zumal das US-Militär auch die Auferstehung der russischen U-Bootflotte mit Sorge betrachtet. Eine neue Generation dieser Riesenboote, ausgestattet mit ballistischen Raketen, ist den US-Modellen durchaus ebenbürtig. Seit dem Tiefpunkt 2002, als die russische Marine keine einzige U-Boot-Patrouille aussenden konnte, steigert sie nun stetig ihren Aktionsradius. General Charles Jacoby vom Luftraum-Verteidigungskommando räumt ein, man sei wegen der jüngsten Fortschritte in der russischen Militärtechnologie in Sorge. „Sie haben gerade mit dem Bau einer neuen Klasse lautloser Atom-U-Boote begonnen, die speziell für den Abschuss von Marschflugkörpern eingerichtet sind.“

Peter Roberts vom auf Sicherheitsfragen spezialisierten Royal United Services Institute bezeichnet die transatlantischen Vorstöße russischer Akula-U-Boote als Routine. Bis zu zweimal jährlich sei damit zu rechnen: „Gewöhnlich starten sie vor Weihnachten einen Einsatz und umfahren Schottland, bevor es über den Atlantik geht.“ Das Periskop, welches im Dezember vor der schottischen Westküste gesichtet wurde und einen U-Boot-Alarm bei der NATO auslöste, zeuge von einer solchen Expedition. „Meist fahren sie bis zur amerikanischen Ostküste, um dort Manöver der Flugzeugträger zu beobachten. Die Amerikaner wiegeln ab, doch ist fraglich, ob sie solche U-Boote überwachen können. Ihre Unterseeabwehr ist schlechter geworden, da wir uns zuletzt alle nur noch auf reine Festlandeinsätze wie in Afghanistan konzentriert haben.“

Nervöse Menschen

Mit dem Start-Abkommen von 1991 verpflichteten sich die USA und Russland, alle Marschflugkörper von U-Booten zu entfernen. Nur lief der Vertrag Ende 2009 aus. Und die Nachfolge-Vereinbarung New Start enthält dieses Gebot nicht mehr. Jeffrey Lewis, Experte für Rüstungskontrolle am Monterey Institute of International Studies, hält die JLENS-Luftschiffe der USA für eine direkte Antwort auf eine mögliche Ausrüstung russischer U-Boote mit Atomwaffen: „Die Russen haben das lange angekündigt, nun tun sie es offenbar.“ Im New-Start-Abkommen auf die gegenseitige Informationen über Marschflugkörper zu verzichten, sei ein Fehler gewesen.

Präsident Putin sieht diese Waffen als Teil einer Strategie der „Deeskalation“: Der erdrückenden konventionellen Übermacht der NATO begegnet er mit der Option eines notfalls begrenzten Atomschlags, der dem Gegner „gezielten Schaden“ androht. Wenn er das eigene Nuklearpotenzial gerade jetzt so unverblümt ins Spiel bringe, wolle er sich, vermutet Lewis, Handlungsfreiheit im Ukraine-Konflikt verschaffen. „Der neue Hang zu atomarer Abschreckung läutet eine Phase verschärfter Konkurrenz“ ein, formuliert es Hans Kristensen von der Federation of American Scientists: „Sicherheit wird das kaum bringen, aber viel mehr nervöse Menschen auf beiden Seiten.“

Julian Borger ist Kolumnist des Guardian

Übersetzung: Michael Ebmeyer

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Julian Borger | The Guardian

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