Dämonen im Nacken

Rufus Wainwright Rufus Wainwright ist clean. Aber seine Musik klingt nicht weniger romantisch-melancholisch. Nun ist er mit seiner ersten Oper und mit einem neuen Album am Start

Seine Mutter, Folksängerin Kate McGarrigle ist gerade mal seit einer Woche beerdigt, als ich Rufus Wainwright in London zum Mittagessen treffe. Der Schock und die Trauer stehen ihm immer noch ins Gesicht geschrieben. Mal kommen ihm die Tränen, dann bricht er in überzogenes Lachen aus. Laut musikalisch-autobiographischen Bekenntnissen des Wainwright-Clans ist die Familiengeschichte ein Drama mit ödipalen Untertönen. Rufus Schwester Martha spielt eine Rolle, zu der er immer in Konkurrenz stand, und natürlich sein abwesender Vater Loudon Wainwright III. Er verließ die Familie, als Rufus drei war, nachdem er seinen Sohn mit dem Song „Rufus is a Tit Man“ auf der Erde begrüßt hatte. Die vier kamen an Kates Sterbebett wieder zusammen. Deren Schwestern Anna und Jane waren auch da.

Der Abschied wurde zu einer spontanen Performance, wie sich Rufus erinnert. „Wir haben für sie gesungen, dabei wurde ihr Atem schwerer und sie begann zu stöhnen. Eine der Krankenschwestern sagte, dies könne sich noch über vier Tage hinziehen – aber wir waren mit unserem Repertoire schon am Ende. Dann veränderte sich Kates Atmung. Es war, als ob sie sagen wollte: Wartet, ich werde diese Show beenden – und sie starb. Ich sah ihr direkt ins Gesicht. Ihre Augen waren offen. Das war eine unglaubliche Erfahrung.“ Da seine Mutter bereits im Sommer 2006 die Diagnose Leberkrebs erhalten hatte, blieb Rufus genügend Zeit, das Sterben seiner Mutter und die Trauer darüber musikalisch zu verarbeiten. Nur wenige Songwriter treffen den Ton für derart extreme Stimmungen besser als er: von der zerbrechlichen Trauermelodie bis zur „The-Show-Must-Go-On“-Nummer.

In diesen Tagen bereitet er sich am Sadler’s Wells Theater auf eine Art doppeltes Requiem vor: die London-Premiere seiner ersten Oper Prima Donna und der Tour-Start mit seinem neuen Album All Days Are Nights: Songs for Lulu. Bei beiden wurde die Arbeit von der Krankheit seiner Mutter überschattet. Den Kontrapunkt hierzu setzte die erste glückliche Langzeitbeziehung mit Theaterregisseur Jörn Weisbrodt in einem ansonsten promisken Liebesleben. Zusammen mit ihm begleitete er seine Mutter zur Premiere – verkleidet als Verdi mit Vollbart, Zylinder und Stock sowie Puccini. „Ich habe das damals nicht so gesagt, aber als ich die Oper schrieb, tat ich das mit dem Gefühl: Du musst das hier fertig kriegen, bevor deine Mutter stirbt.“ Die Nacht, in der sie die Oper sah, gehört zu seinen liebsten Erinnerungen an sie, einer der letzten Anlässe, bei denen sie vollkommen lebendig schien. „Sie bewunderte die Oper.“ Er lacht theatralisch: „Das war für uns beide eine große Erleichterung.“

In Prima Donna geht es um eine alternde Opern-Diva, die von einer verlorenen Liebe heimgesucht wird und für einen letzten Auftritt noch einmal ihre Stimme finden will. Nachdem sich Wainwright daran gewöhnt hatte, sein eigenes Herz auf der Bühne auszuschütten, kann er nun anderen dabei zusehen, wie sie seine Musik auf der Bühne interpretieren. Als er die Sopranistin Janis Kelly bei den Proben zum ersten Mal den Part der Régine singen hörte, hatte er das Gefühl, alle seine Emotionen würden wiedergegeben. „Mir war nicht klar, wie traurig ich gewesen war, aber in dieser Melodie lag es unverkennbar.“

Eine der Folgen, die der Stress der Opernaufführung für ihn brachte – er geriet nach eigener Aussage mächtig mit dem Regisseur und Dirigenten der Manchester Aufführung aneinander – bestand darin, dass er zu seiner ersten Liebe zurückkehrte und wieder am Klavier komponierte. Songs for Lulu, das er selbst als gespenstisch bezeichnet, „im Grunde meine Trauerarbeit noch zu Lebzeiten meiner Mutter“, entstand so aus den Zeilen des Songs „Zebulon“. Es enthält drei Sonette von Shakespeare, die denkwürdig in Musik gesetzt wurden. Das Album ist Wainwright zufolge aber gleichzeitig eine Hommage an sein früheres Ich, das Party Animal Lulu, das er aus der hart erarbeiteten Perspektive der Nüchternheit betrachtet.

Leben ohne fatale Affären

Einige Male befiel ihn die Angst, seine feste Beziehung mit Jörn könnte seine Fähigkeit schmälern, schmachtende Balladen zu schreiben, mit denen er sich einen Namen gemacht hat. „Ich überlegte, ob ich diesen dunklen See des Schmerzes verlieren würde, wenn ich nicht in einer dieser fatalen Affären steckte. Aber ich hätte mir keine allzu großen Sorgen machen müssen“, sagt er mit seinem wilden Lachen. „In vielerlei Hinsicht ist Songs for Lula eine Bestätigung dieser Person: höchst romantisch, höchst instabil. Eine bestimmte Art zu leben ist nicht einfach weg, wenn man sie aufgegeben hat.“

Ich hatte Wainwright vor fünf Jahren in der Nähe seiner Wohnung in Manhattan zum ersten Mal interviewt. Damals hatte er sich gerade von einer ernsthaften Crystal Meth-Sucht erholt. „Oft“, so erinnert er sich, „hingen 20 Nackte in meinem Appartement rum und ich saß im Bademantel am Klavier und spielte „Cigarettes and Chocolate Milk“ (eine von vielen Hymnen auf die Sucht). Dass er da raus kam, habe er Elton John zu verdanken, der ihm riet, in eine Klinik zu gehen – und harter Arbeit.

Als ich ihn frage, ob es etwas gebe, das er an seinem früheren Leben immer noch fürchte, kommt die Antwort prompt: „Oh Gott, ja! Die Dämonen lauern immer noch, sie sitzen mir im Nacken – grinsend und mit einer abgesägten Schrotflinte in der Hand. Sie warten darauf, dass ich mich vergesse. Manchmal frage ich mich, ob die denn nie müde werden.“ Es bringe nichts, sich einzureden, dass man niemals rückfällig werden könne. „Ich will mir keine Beschränkungen auferlegen, ganz egal, in welcher Hinsicht. Vielleicht werde ich zur Hete, wer weiß? Was aber die Sucht anbelangt, so glaube ich, dass es jene schaffen können, die als Kind genügend Liebe erfahren haben. Ich habe es insbesondere meiner Mutter zu verdanken, aber auch meinem Vater, Martha und meinem Freund.“

Vor kurzem ist Wainwright Onkel geworden, seine Schwester Martha hatte eine Frühgeburt: Arcangelo. Das hat bei Wainwright zu noch mehr Ehrfurcht vor den Mysterien der Familie geführt. Wäre das Kind nicht zwei Monate zu früh geboren worden, hätte seine Mutter ihren ersten Enkel nicht mehr zu Gesicht bekommen. „Hier muss ich aufpassen, dass ich nicht anfange zu heulen“, sagt er. „Aber es fällt mir schwer, nicht zu glauben, dass dies nicht mit meiner Mutter in Verbindung stand. Sie hielt ihn im Arm. Auf der einen Seite ist das sehr schön, auf der anderen aber auch sehr grausam.“

Eines der Dinge, die sich bereits verändert hätten, so Rufus, sei, dass „Martha, in einer Weise, wie nur Frauen das zu tun vermögen, direkt an die Stelle meiner Mutter getreten ist. Nun besteht sie darauf, mich vom Flughafen abzuholen ...“ Rufus hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er sich nicht gerne von seiner Schwester in den Schatten stellen lässt und vielleicht ist dies ja ein Grund dafür, dass er gegenwärtig viel darüber nachdenkt, selbst Vater zu werden. „Wir sind dabei, uns über alle Möglichkeiten zu informieren. Aber ich möchte das nicht an die große Glocke hängen.“

Neue, eigene Vatergefühle

Als ich mehr über diese Vatergefühle wissen möchte, antwortet er mit einer Anekdote. „Ich saß einmal mit Leonard Cohen und seiner Tochter zusammen. Sie sagte zu ihrem Vater: ‚Weißt du, es ist ziemlich erstaunlich zu sehen, wie aus einem Baby eine Person wird.‘ Leonard sah sie an und antwortete so trocken, wie nur er das kann: ‚Weißt du, das ist so ziemlich die einzig erstaunliche Sache, die es gibt.‘“ Wainwright lacht laut auf. „Sicher hat nicht jeder das Bedürfnis, aber wissen Sie, ich habe das Gefühl, dass ich mir dieses Erstaunen nicht verwehren sollte ...“

Welche Verantwortung eine Vaterschaft mit sich bringen würde, dürfte ihm dabei bewusst sein. Das lässt sich insbesondere an seinem außergewöhnlichen Song „Dinner at Eight“ ablesen, der all seine negativen wie positiven Gefühle gegenüber seinem Vater auslotet. Rufus weint immer noch manchmal, wenn er ihn auf der Bühne spielt. Ich frage, ob er durch die Beziehung mit Jörn mehr über die Trennung seiner Eltern verstanden hat.

„Nun, ich glaube, ich kann sie mehr als Teil einer typischen großen Liebesgeschichte der späten 70er sehen. Zwei Musiker. Das konnte nicht leicht werden. Ungefähr zwei Monate, bevor meine Mutter starb, spielte Loudon in Montreal und meine Mutter kam zu dem Konzert. Er holte sie auf die Bühne und hinterher gingen sie zusammen aus. Er sagte, es habe ihm große Freude bereitet, mit ihr Musik zu machen. Als sich ihr Zustand dann rapide verschlechterte, fragte er mich, ob er kommen solle und sie willigte ein. Aber leider war sie dann schon kaum mehr ansprechbar. Aber er war da, als sie starb. Sie haben sich nicht in die Arme genommen und gesagt, sie hätten sich immer geliebt, aber es gab da so etwas wie Dank und Anerkennung. Am Abend vor der Beerdigung gewann Loudon dann den Grammy, den er sich schon immer gewünscht hatte, und er widmete ihn Kate und dankte ihr dafür, dass sie ihm beigebracht hat, wie man Banjo spielt.“

Hat er das Gefühl, seinem Vater ähnlicher zu werden, je älter er wird? „Nein, ich komme nach keinem von beiden. Das ist ohnehin so, wenn man schwul ist. Aber ich denke, es ist auch eine Generationsfrage. Meine Eltern gehörten der einzigen Generation in der Geschichte an, die in einer Art Idylle leben konnte: den 50ern, 60ern und 70ern. Der Tod schien ihnen stets weit weg zu sein. Meine Generation hingegen hatte Aids, Reagan und die Bushs ...“

Weder seine Mutter noch sein Vater seien zunächst gut mit seiner Sexualität klar gekommen. „Meine Mutter spielte, trotz ihrer liberalen Einstellung, bei meinem Coming-Out eine wirklich negative Rolle. Als ich 14 war, wollte sie mich aus dem Haus schmeißen. Natürlich hatte sie Angst wegen Aids, aber da spielten auch einige sehr tief sitzende Vorurteile eine Rolle. Sie wollte nicht über meine Sexualität reden. Mein Vater war nicht besser. Aber sie mochten Jörn und sahen, dass wir uns lieben, also gaben sie sich viel Mühe, ihn willkommen zu heißen …“

Liebeslied an die Oper

Wenn man Wainwright zuhört, wird einem klar, warum er sich schon so früh der Oper zuwandte und nicht etwa die Folk-Musik-Wurzeln seiner Eltern ergründet hat. Wird er aus der Geschichte seiner Eltern einmal eine Oper im Stile von Tristan und Isolde machen? „Ich halte das nicht gänzlich für ausgeschlossen, aber das nächste Mal gebe ich mir fünf Jahre Zeit und gehe aufs Ganze. Prima Donna ist meine Art von Liebeslied an die Oper, aber sie ist alles andere als vollkommen. Außerdem denke ich, dass ich immer noch in dem Alter bin, wo ich eher einen Pop-Hit haben sollte als eine erfolgreiche Oper ...“

Aber im Augenblick hat er andere Pläne: Er kümmert sich darum, eine Stadiontour in Angriff zu nehmen: „Ich will herausfinden, ob ich das wirklich bringe“. Und dann, wer weiß? Lieder sind für ihn ein wichtiger Teil seiner Therapie. Hat er seit der Beerdigung schon wieder neue geschrieben? „Nun ja“, sagt er und grinst sein eingeübtes Grinsen, „Ich hatte dieses bemerkenswerte Erlebnis: Es gibt da diese Kirche in New York, in die ich sehr gerne gehe. Ich bin überhaupt nicht religiös, aber zünde gerne Kerzen an. In der Ecke der Kirche stehen große Statuen der Heiligen Maria, der Johanna von Orléans und der heiligen Bernadette – irgendwie die originalen Garrigle-Schwester, habe ich mir gedacht. Nach dem Tod meiner Mutter ging ich hin und stellte fest, dass bei den Statuen keine Kerzen mehr standen. Ich klingelte am Pfarrhaus, ein Mann öffnete und meinte, es täte ihm leid, aber heute Morgen seien ihnen die Kerzen ausgegangen. Und zack, hast du einen Song: The church has run out of candles … Die Akkorde und der Rest kamen wie von selbst.“ Er lacht. „Ich glaube nicht, dass mir irgendwann keine Lieder mehr zulaufen werden.“


Rufus Wainwright, geboren am 22. Juli 1973 in New York, begann mit sechs Jahren Klavier zu spielen. Bereits mit 13 ging er auf seine erste Tour gemeinsam mit Schwester Martha, seiner Mutter und seiner Tante Anna unter dem Namen The McGarrigle Sisters and Family. Im Alter von 14 Jahren begann Wainwright, sich zu seiner Homosexualität zu bekennen, vor allem auch in seiner Musik.

Aufgewachsen ist Wainwright bei seiner Mutter im kanadischen Montreal. Dort studierte er auch klassisches sowie Rock-Piano. Sein erstes Album erschien 1998 und wurde vom Rolling Stone zu einem der besten des Jahres gekürt. Die erste Auszeichnung für einen Song erhielt Wainwright bereits 1989: den Genie-Award für Im a-runnin. Als Schauspieler trat er in der Serie Absolutely Fabulous sowie Matin Scorseses The Aviator auf.

Politisch bezog Wainwright vor allem auf seinem Album Want Two (2004) Stellung, auf dem sich Anspielungen gegen den Irak-Krieg sowie die Homophobie der Republikaner finden. Sein neues Album Songs for Lulu kommt am 30. April in den Handel.

Vom 12. bis 17. April ist seine Oper Prima Donna im Londoner Theater Sadlers Wells zu sehen. Ursprünglich war sie von der Metropolitan Opera in New York in Auftrag gegeben worden. Da Wainwright sie jedoch auf Französisch schrieb, zog sich das Haus aus dem Vertrag zurück. Premiere war 2009 beim Manchester Festival.

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Übersetzung der gekürzten Fassung: Holger Hutt
Geschrieben von

Tim Adams | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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