Das Habitat schrumpft

Klimakrise Laut einer Studie werden die Folgen des menschengemachten Klimawandels gravierender als erwartet – und früher eintreten, als man bisher annahm
In bereits 50 Jahren müssten 30% der Weltbevölkerung in extremer Hitze leben
In bereits 50 Jahren müssten 30% der Weltbevölkerung in extremer Hitze leben

Foto: Sanjay Kanojia/AFP/Getty Images

Die Folgen der Klimakrise werden härter, allumfassender und schneller eintreten, als bisher angenommen, so zumindest ein Studie, die besagt, dass bei jedem weiteren Anstieg der globalen Temperatur um 1°C eine Milliarde Menschen entweder um ihren Wohnraum gebracht oder gezwungen sein werden, in beinahe unerträglicher Hitze zu leben.

In einem Worst-Case-Szenario mit beschleunigten Emissionen werden die Gebiete, in denen derzeit ein Drittel der Weltbevölkerung lebt, in 50 Jahren so heiß sein wie die unwirtlichsten Teile der Sahara, so die Studie. Selbst im optimistischsten Szenario werden 1,2 Milliarden Menschen aus der komfortablen „Klima-Nische“ herausfallen, in der die Menschheit seit mindestens 6.000 Jahren ihr Leben verbringt.

Die Autoren der Studie erklärten, sie seien von den Ergebnissen „überwältigt“ und förmlich „umgehauen“ worden, weil sie nicht erwartet hätten, dass unsere Spezies so gefährdet sei. „Die Zahlen sind niederschmetternd. Ich habe im wahrsten Sinne des Wortes zwei mal hinschauen müssen, als ich sie zum ersten Mal sah", sagte Tim Lenton von der Universität Exeter. „Früher habe ich mich mit den klimatischen Tipping Points beschäftigt, die man gemeinhin für apokalyptisch hält. Allerdings hat mich das hier härter getroffen. Das macht den Ernst der Lage doch sehr greifbar."

Anstatt den Klimawandel als ein physikalisch-ökonomisches Problem zu betrachten, untersuchte das in den Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlichte Papier, wie sich der Klimawandel auf den menschlichen Lebensraum auswirkt. Der Großteil der Menschheit hat schon immer in Regionen der Erde gelebt, in denen die Jahresdurchschnittstemperaturen bei etwa 6 bis 28°C liegen, was für Gesundheit und Nahrungsmittelproduktion ideal ist. Aber dieser „Sweet Spot“ verschiebt sich allmählich und schrumpft in Folge der vom Menschen verursachten globalen Erwärmung, was in Zukunft immer mehr Menschen in den von den Autoren als „fast unbelebbar“ bezeichneten Extremzonen leben lassen wird.

3°C global bedeuten 7,5°C mehr für den Durchschnittsmenschen

Die Menschheit ist besonders gefährdet, weil sie an Land lebt – welches sich schneller erwärmt als die Ozeane – und weil das künftige Bevölkerungswachstum vor allem in bereits heißen Regionen Afrikas und Asiens stattfinden wird. Als Folge dieser demographischen Faktoren würde der Durchschnittsmensch einen Temperaturanstieg von 7,5°C erleben, wenn die Temperaturen global um 3°C steigen, was für das Ende dieses Jahrhunderts prognostiziert wird.

Auf diesem Level würden etwa 30% der Weltbevölkerung in extremer Hitze leben – die man gemeinhin als Durchschnittstemperatur von 29°C definiert. Diese Bedingungen sind ausserhalb der heißesten Regionen der Sahara äußerst selten, doch bei einer globalen Erwärmung um 3°C werden ihnen den Prognosen zufolge 1,2 Milliarden Menschen in Indien, 485 Millionen in Nigeria und jeweils mehr als 100 Millionen in Pakistan, Indonesien und Sudan ausgesetzt sein. Dies würde den Migrationsdruck enorm erhöhen und die globale Lebensmittelproduktion vor extreme Herausforderungen stellen.

„Ich denke, man kann mit Fug und Recht sagen, dass Durchschnittstemperaturen über 29°C lebensfeindlich sind. Man müsste entweder umziehen oder sich anpassen. Aber dieser Anpassung sind Grenzen gesetzt. Wenn man genug Geld und Energie hat, kann man vielleicht Klimaanlagen benutzen und Lebensmittel einfliegen lassen, dann geht es vielleicht einigermaßen. Aber das kommt für die meisten Menschen gar nicht erst in Frage", so einer der Hauptautoren der Studie, Prof. Marten Scheffer von der Universität Wageningen.

Der ausgebildete Ökologe Scheffer führte des Weiteren aus, die Studie habe als Gedankenexperiment begonnen. Er hatte zuvor die Klimaverteilung von Regenwäldern und Savannen untersucht und sich gefragt, was passieren würde, wenn er die gleiche Methodik auf den Lebensraum des Menschen übertragen würde. „Wir wissen, dass die Habitate der meisten Lebewesen durch die Temperatur begrenzt sind. Pinguine sind zum Beispiel nur in kaltem Wasser zu finden, Korallen nur in warmem Wasser. Aber wir haben nicht erwartet, dass Menschen so empfindlich sind. Wir empfinden uns selbst als sehr anpassungsfähig, weil wir Kleidung, Heizungen und Klimaanlagen benutzen. Tatsächlich aber lebt die überwiegende Mehrheit der Menschen – und tat das schon immer – in einer Klima-Nische, die sich jetzt wie nie zuvor verändert. Das Ausmaß scheint allerdings überwältigend. Es wird in den nächsten 50 Jahren voraussichtlich mehr Veränderungen in dieser Nische geben als in den vergangenen 6.000 Jahren zusammen".

Die Politik muss reagieren

„Es steht außer Zweifel, dass wir einen globalen Ansatz verfolgen müssen, um unsere Kinder vor den potenziell enormen sozialen Spannungen zu schützen, die der prognostizierte Wandel hervorrufen könnte", so Xu Chi von der Universität Nanjing.

Die Autoren der Studie hoffen, ihre Ergebnisse könnten die politischen Entscheidungsträger anspornen, Emissionssenkungen zu forcieren und bei der Bewältigung der zu erwartenden Migrationsbewegungen enger zusammenzuarbeiten – denn jedes Grad Erwärmung, das vermieden werden kann, dürfte eine Milliarde Menschen davor bewahren, aus der für Menschen bewohnbaren Klima-Nische herauszufallen.

Lesen Sie mehr über Dürren in Ausgabe 19/2020 des Freitag

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Geschrieben von

Jonathan Watts | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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